In publica commoda

Felix Klein und der „Krieg der Geister“

In der als „Krieg der Geister“ bezeichneten Auseinandersetzung zwischen den Akademikern der kriegsführenden Staaten währen des Ersten Weltkrieges um Kriegsschuld und Kriegsziele hat die Universität Göttingen keine führende Stelle eingenommen wie z. B. Jena, Tübingen, München und Bonn. Göttinger Professoren beteiligten sich an den entsprechenden Aufrufen und Proklamationen oder standen vereinzelt in Opposition dazu. Göttingen war aber kein Zentrum dieser Bewegung, die von Berlin ausging und gesteuert wurde.

Erstmals haben Göttinger Professoren in größerer Zahl die am 16. Oktober 1914 veröffentlichte „Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches“ unterschrieben, die, gegen England gerichtet, die Einheit von Heer, Volk und Wissenschaft in Deutschland postulierte. Etwa zwei Drittel aller Göttinger Dozenten unterzeichneten die „Erklärung“. Gegen Ende des Krieges bildete sich in der Kriegszieldiskussion an der Georgia Augusta neben einer kleineren Gruppe von Befürwortern einer rücksichtslosen Annexionspolitik eine deutlich größere Partei der „Gemäßigten“ heraus.

Insbesondere der Aufruf „An die Kulturwelt“ vom 4. Oktober 1914, in dem der völkerrechtswidrige deutsche Überfall auf Belgien gerechtfertigt und die dort verübten Kriegsverbrechen geleugnet wurden, hat dem Ansehen der deutschen Wissenschaft und Kultur im Ausland unabsehbaren Schaden zugefügt. Unterzeichnet wurde er von 93 Intellektuellen, Künstlern und Wissenschaftlern, zum Teil mit Weltruf, darunter Max Planck, Walter Nernst und Wilhelm Röntgen, sowie Vertretern alle Parteien außer der SPD. Als einziger Göttinger – und als einziger Vertreter seines Faches – unterschrieb der Mathematiker Felix Klein, der ansonsten eine relativ liberale Haltung in Berufungs- und Habilitationsfragen sowie gegenüber dem Studium von Ausländern und Frauen gezeigt hatte. Klein hatte als Wissenschaftsorganisator und durch die damals neuartige Gewinnung von Drittmitteln entscheidend zum Aufstieg Göttingens zum Weltzentrum der Naturwissenschaften vor und nach dem Ersten Weltkrieg beigetragen. Vor diesem Hintergrund muss seine Unterschrift unter dem einseitignationalistischen Aufruf verwundern. Möglicherweise haben die Initiatoren des Aufrufs bewusst ein doppeltes Spiel getrieben und Klein und andere angesehene Unterzeichner gezielt in Unkenntnis über den Text gelassen. Klein jedenfalls betonte, er habe seine Bereitschaft zur Unterschrift erklärt, ohne den Text zu kennen und diesen erst aus der Presse erfahren.

Nach dem Krieg gestand Klein in einem Briefwechsel mit seiner ehemaligen Schülerin Grace Chisholm Young aus England zwar ein, dass manche Formulierungen unangemessen waren, betonte aber, dass die Empörung auf alliierter Seite durch den „Aufruf“ nur ausgelöst, nicht aber eigentlich verursacht worden ist. Ausschlaggebend dafür sei vielmehr die Voreingenommenheit der Alliierten gegenüber Deutschland gewesen. Indirekt räumte er ein, dass der Aufruf durch die erregte, kriegsbegeisterte Stimmung der ersten Kriegsmonate und durch die damals einseitige Nachrichtenlage zu erklären ist, betonte aber: „Jedermann wird in hellen und trüben Tagen zu seinem Lande halten“. Letztlich war er nicht bereit, seine Unterschrift zurückzuziehen. Als Folgerung sah er für sich nur einen Weg: „Schweigen und Arbeiten“, also den Rückzug in die „unpolitische“ Wissenschaft.

(Tollmien, Cordula: Der „Krieg der Geister“ in der Provinz – das Beispiel der Universität Göttingen 1914-1918, in: Göttinger Jahrbuch 41, 1993, S. 137-210)