Mythosforschung
Verschiedene Forschungsprojekte zum Thema „Mythos“ kommen aus der Altorientalistik (A. Zgoll): Die frühesten schriftlich erhaltenen Mythen der Menschheit stammen aus dem antiken Mesopotamien. Sie haben sich in Keilschrift, eingedrückt auf Tontafeln, aus der Zeit des dritten bis ersten vorchristlichen Jahrtausends erhalten. Sprache der frühen Texte ist das Sumerische, was auch bis zum Ende der Keilschriftkulturen eine Art literarische Hochsprache bleibt. In dieser Sprache sind etwa fünfzig verschiedenartige mythische Texte überliefert, was zwei Drittel des Gesamtbestandes der mesopotamischen Mythen ausmacht; das andere Drittel ist in babylonischer Sprache verfasst. Für die Mythosforschung gehören diese Quellen zu den besonderen „Schätzen der Menschheit“: Ihre philologische und kulturwissenschaftliche Erschließung ermöglicht neue Einblicke in die frühesten Reflexionen des Menschen über sich selbst und seine Welt, die sowohl durch ihre Nähe wie ihre Fremdheit zum Weiterdenken anregen.
Neue Ansätze zum Verständnis dieser ältesten verschrifteten Mythen ergeben sich auf der Basis genauer Grundlagenarbeit – denn nur die wenigsten der vielen sumerischen Quellen sind in einer Edition zugänglich, die dem wissenschaftlichen Stand der Zeit entspricht – und vor dem Hintergrund moderner Mythentheorien. Umgekehrt geben die Analysen der altorientalischen Mythen der Mythostheorie neue Anstöße. Etliche Beiträge dazu sind am Göttinger Seminar schon erarbeitet worden, andere wurden in öffentlichen Vorträgen und wissenschaftlichen Diskussionsrunden vorgestellt, viele weitere sind in Arbeit.
Vom Seminar für Altorientalistik gehen mehrere Initiativen zur interdisziplinären Mythosforschung aus. Eine davon ist die interdisziplinäre Arbeitsgruppe Collegium Mythologicum, eine Gruppe von Wissenschaftler(inne)n und Doktorand(inn)en verschiedener Disziplinen, die sich von den reichhaltigen mythischen Texten der altorientalischern und anderern antikern Überlieferungen herausfordern lassen und im fächerübergreifenden Austausch Fragestellungen, methodische Herangehensweisen und neue Erkenntnisse zu solchen Mythen testen. Einen weiteren Schwerpunkt der gemeinsamen Arbeit bildet die Diskussion definitorischer Probleme der Mythosforschung und die Präzisierung der Terminologie. Schließlich geht es darum, sich den facettenreichen Fragen zu stellen, die sich aus dem modernen Blick auf die Mythen sowie aus den Mythen mit Blick auf die Moderne ergeben. Die Mitglieder des Collegium mythologicum entstammen den Disziplinen Altorientalistik (Sumerologie und Akkadistik, Hethitologie), Ägyptologie und Klassische Philologie und stehen in Verbindung zum Seminar für Altorientalistik, zum Lichtenbergkolleg und zur Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Seit 2010 arbeiten sie zusammen in regelmäßigen Interdisziplinären Kolloquien zur Mythosforschung.
Weitere initiierte Projekte:
- DFG-Forschergruppe 2064 STRATA
- Altorientalistische Forschergruppe TEMEN. Topography - Mythology - Narration
Niedersachsen-Israel-Projekt (gemeinsam mit Prof. Dr. Nathan Wasserman, The Hebrew University Jerusalem) - enūma eliš - Weg zu einer globalen Weltordnung. Pragmatik, Struktur und Semantik des babylonischen "Lieds auf Marduk"
(Dissertationsprojekt Dr. Gösta I. Gabriel, publiziert in der Reihe Orientalische Religionen in der Antike 2014) - Die Verortung von altorientalischen Mythen mit Schöpfungsbezug
(Dissertationsprojekt Kerstin Maiwald, M.A.)
Im Seminar für Altorientalistik befindet sich außerdem die interdisziplinäre Mythos-Bibliothek mitsamt einer digitalen, altorientalistischen Mythosbibliographie zu den vielen disparat publizierten Tontafeln und Fragmenten mythischen Inhalts, die in 3000 Jahren Keilschriftkultur entstanden sind.