Kunstwerk des Monats im April 2023

02. April 2023
Akt(en)Einsicht. Eine Aktstudie des 18. Jahrhunderts aus dem Kontext der Accademia Clementina in Bologna und ihr Weg nach Göttingen
Vorgestellt von Friederike Röpke


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Ubaldo oder Gaetano Gandolfi (San Matteo della Decima 1728–1781 Ravenna und San Matteo della Decima 1734–1802 Bologna)
Männlicher Akt, auf Steinen sitzend, ca. 1745–1769, Rötel, weiß gehöht
Provenienz: Sammlung Johann Dominicus Fiorillo
Kunstsammlung der Georg-August-Universität Göttingen, Inv. Nr. H 352

Es handelt sich bei dem Kunstwerk des Monats April 2023 um eine Rötelzeichnung mit Weißhöhungen auf einem großformatigem Blatt (428 x 312 mm). Gekonnt setzt der Künstler den Rötelstift für grazile Linienführungen, aber auch für flächendeckende Schattenbereiche ein. Diese werden unter anderem durch verschiedene, aneinandergesetzte parallelverlaufene Schraffurenpartien erzeugt und auch die Materialität der Steinblöcke wird so evoziert. Durch das Einbinden von unbezeichneten Flächen wird der Papierton Teil der Zeichnung und stellt beleuchtete Flächen dar.
Das Zeichenmaterial, das Format sowie die einzelne Figurenstudie weisen bereits auf die Funktion der Zeichnung als Studienwerk hin. In den europäischen Kunstakademien des 17. und 18. Jahrhunderts waren Aktstudien wichtige Bestandteile der künstlerischen Ausbildung. Dabei saßen die Künstler:innen im Halbkreis im Aktsaal um das Aktmodell und zeichneten es aus ihrem Blickwinkel auf ein zumeist großformatiges Blatt. Diese qualitätvoll ausgeführte Rötelzeichnung stammt vermutlich aus der Accademia Clementina in Bologna, da das Wasserzeichen auf dem Papier von Papierherstellern aus der nähren Umgebung Bolognas stammt und in die Mitte des 18. Jahrhunderts datiert werden kann. Durch verschiedene Stilvergleiche konnte der Zuschreibungskreis auf die Bologneser Künstlerbrüder Ubaldo (1728–1781) und Gaetano Gandolfi (1734–1802) eingegrezt werden, deren Zeichenweise sich schwerlich voneinander unterscheiden lässt. In vielen europäischen Kupferstichkabinetten finden sich solche Zeichnungen dal nudo der Brüder wieder, die auch als Lehrer an der Accademia Clementina für die Aktzeichenklassen zuständig waren.
Die Zeichnung stammt aus der Sammlung Johann Dominicus Fiorillos (1748–1821), der während seiner künstlerischen Ausbildung u. a. zwischen 1765 und 1768 an der Kunstakademie in Bologna war. Dieser nahm etliche Zeichnung verschiedener Bologneser Künstler mit nach Braunschweig, wo er als Hofmaler tätig war und ein Konvolut an den Braunschweigischen Herzog verkaufte, in dem sich auch Aktstudien Gaetanos und Ubaldos befanden. Einige Zeichnungen – so auch das hier zu sehende Blatt – nahm er mit nach Göttingen, als er zum Zeichenlehrer und Kustos der Kunstsammlung an der Georgia Augusta ernannt wurde. Sechs weitere Zeichnungen, die sich heute im Kupferstichkabinett des Städtischen Museums Göttingen befinden, gehören ebenfalls nachweislich zu Fiorillos Zeichnungssammlung.
Der Vortrag ist Teil des Begleitprogramms zur Ausstellung „Werk|Prozesse. Italienische Handzeichnungen des 15. bis 18. Jahrhunderts in der Kunstsammlung der Universität Göttingen“, die vom 16. April bis 20. August 2023 zu den regulären Öffnungszeiten der Kunstsammlung besichtigt werden kann.