Konrad Cramer und Günther Patzig, Die Philosophie in Göttingen 1734-1987
Aus: Hans-Günther Schlotter (Hrsg.): Die Geschichte der Verfassung und der Fachbereiche der Georg-August-Universität zu Göttingen, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1994, S. 86-91.
Die Grundsätze einer vernünftigen Pragmatie, die Gerlach Adolf v. Münchhausen der Errichtung der Reformuniversität Göttingen zugrundegelegt hatte, haben dem Fach Philosophie an der neugegründeten Lehranstalt eine Bildungsaufgabe zugewiesen, die eine bestimmte Vorstellung von Philosophie verrät: Ein Philosophieren, das sich in Abgeschiedenheit von anderen Formen des Wissens in sein eigenes begrifflich-spekulatives Wesen einspinnt, trifft beim Aufbau eines Fächerkanons, der den >Realien< der Natur und des Geistes den Vorrang gibt, auf den Vorbehalt, die eigentliche Aufgabe der Philosophie nicht angemessen wahrnehmen zu können, nämlich die Beförderung des Bewußtseins der pragmatisch-utilitären Funktion der Vernunft für andere Wissensformen und deren praktische Umsetzung. Dieser Vorbehalt war durch Erfahrungen von Kontroversen einer sich als Letztbegründung verstehenden Philosophie insbesondere mit der Theologie gut begründet. >Hallesche Händel<, wie die zwischen Christian Wolff und seinen pietistischen Gegnern, wollte man für Göttingen ausschließen. Gleichwohl bestand die Absicht, Wolff, den gefeiertsten Philosophen der Gründungszeit, auf den zunächst einzigen Lehrstuhl für Logik und Metaphysik zu berufen. Gewiß hätte man die Neugründung durch den Übergang Wolffs von Marburg nach Göttingen >in Flor< zu setzen vermocht. Dies scheiterte jedoch an Wolffs Gehalts- und Personalforderungen.
Dieser Auffassung von Philosophie, die freilich im 18. Jahrhundert zu wenig glanzvollen Berufungen geführt hat, entspricht, daß sich der erste Inhaber des philosophischen Lehrstuhls, Samuel Christian Hollmann, der 1734 aus Wittenberg berufen wurde und sein Lehramt bis in sein 88. Lebensjahr versah, den Gründern nicht so sehr durch die Metaphysik seiner noch der deutschen Spätscholastik verpflichteten »Institutiones Philosophicae« (1727-34), sondern eher durch die in deren zweitem Teil gelieferte Behandlung der »Physica« empfohlen hatte. Als Philosoph in den Kontroversen seiner Zeit wohl unterrichtet und als Verfasser aporetischer Schriften scharfsinnig und anregend, hat Hollmann eine über die Behandlung philosophischer Tagesfragen hinausgehende philosophische Auffassung nicht gewonnen. Es bleibt ihm das Verdienst, durch seine erfolgreichen Vorlesungen und Veröffentlichungen auf dem Gebiete der allgemeinen und speziellen >Naturlehre< die Tradition der Göttinger Experimentalphysik begründet zu haben (1).
Mit Johann Georg Heinrich Feder, der 1768 berufen wurde und 1796 als Direktor des Gymnasiums nach Hannover abging, sowie seinem Schüler und Freund Christoph Meiners, der ab 1775 als ordentlicher Professor bis zu seinem Tode an der Universität wirkte, wird Göttingen zu einem Vorort der eklektizistischen Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts in ihrer empiristischen, von rationalistischen Einflüssen freilich nicht freien Variante. Entschiedener als Hollmann hat Feder in seinen weit verbreiteten Kompendien und Lehrbüchern der theoretischen und praktischen Philosophie sowie in seinen »Untersuchungen über den menschlichen Willen« (1779-93) der auf innerer Erfahrung beruhenden empirischen Psychologie die Stellung einer philosophischen Grundwissenschaft für Logik, Metaphysik und Moralphilosophie eingeräumt. Meiners ist durch psychologische und philosophiehistorische Arbeiten auf dem Standpunkt Feders, im übrigen durch zahllose Veröffentlichungen kulturgeschichtlichen Inhalts, hervorgetreten. Ein die Göttinger Philosophie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bestimmender Zug ist die Rezeption der Philosophie von Locke, Hume, Berkeley und ihrer angelsächsischen Anhänger und Gegner sowie der sensualistischen und mechanistischen Fortbildung des Empirismus durch Bonnet, Condillac und Helvetius. Auch die Nationalökonomie von Adam Smith, auf die Feder in Deutschland zuerst hingewiesen, und die Erziehungslehre Rousseaus, die ihn zu seinem »Neuen Emil« (1769-71) angeregt hat, sind in Göttingen früher als anderswo beachtet worden.
Es war die wichtigste Folge der bei Feder und Meiners herrschenden Grundüberzeugungen, daß Göttingen ab 1781, dem Erscheinungsjahr von Kants »Kritik der reinen Vernunft«, zu einem Hauptort der Kritik an der kantischen Philosophie wurde. Feder besitzt eine Art sekundärer Unsterblichkeit durch seine Redaktion der von Christian Garve verfaßten ersten Rezension der »Kritik der reinen Vernunft«, die in den »Göttinger gelehrten Anzeigen« im Januar 1782 erschien und die Kant in seinen »Prolegomena« (1783) einer im Ton vernichtenden, der Sache nach jedoch nicht durchgängig gerechten Kritik unterzogen hat. Der frühe Göttinger Antikantianismus verlor rasch den Anschluß an die philosophische Entwicklung. Überhaupt brachte es der Mangel an Originalität seiner Vertreter mit sich, daß im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts nicht die berufsmäßigen Philosophen, sondern Georg Christoph Lichtenberg, Professor der Experimentalphysik und Mathematik, nicht nur außerhalb Göttingens als der eigentliche philosophische Kopf der Universität galt.
Ab 1792 las Friedrich Bouterwek über Kants Philosophie auf deren Standpunkt, entfernte sich aber schon in seinem philosophischen Hauptwerk der »Apodiktik« (1795), unter dem Einfluß des älteren und neueren Skeptizismus, Spinozas und der Lebensphilosophie Jacobis von diesem. Bouterwek lehrte ab 1802 bis zu seinem Tode als ordentlicher Professor, berühmt als Ästhetiker und vor allem als Literarhistoriker.
Mit Gottlob Ernst Schulze gewann Göttingen nach der Aufhebung der Universität Helmstedt 1810 einen originellen Kantgegner, der schon 1792 in seinem »Aenesidemus« auf wirksamste Weise in die Debatte über Kants Kritizismus eingegriffen hatte. Mit beachtenswerten Argumenten kritisiert Schulze in seinem Frühwerk Kants Kritik an Humes Theorie der Kausalität und den Versuch des Kantianers Reinhold, den Schwierigkeiten der kantischen Lehre vom »Ding an sich« durch eine neue Theorie des Vorstellungsvermögens als letztbegründendem Prinzip der Philosophie zu entkommen. Mit seinen in Göttingen verfaßten Schriften zur Logik, Rechtsphilosophie, philosophischen Enzyklopädie, Anthropologie und Erkenntnistheorie hat sich Schulze als entschiedener Gegner auch des nachkantischen spekulativen Idealismus Fichtes, Schellings und Hegels erwiesen, konnte aber auf die philosophische Entwicklung des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts keinen bedeutenden Einfluß mehr gewinnen. Doch war durch Schulzes Wirken die Göttinger Gegnerschaft gegen den Letztbegründungsanspruch des spekulativen Denkens so stark stabilisiert, daß dieses in Göttingen ohne Chance war. Das beweist das auch politisch unglückliche Schicksal des von 1823 bis 1831 als Privatdozent lehrenden Christian Friedrich Krause, der keine Professur zu erlangen vermochte. Sein in abstruser Sprache formulierter panentheistischer Weltentwurf erlangte durch historischen Zufall unter dem Namen »Krausismo« in der spanischen Welt beherrschenden Einfluß.
Der gegen Hegel und den Hegelianismus gerichtete Geist der Göttinger Philosophie bekundet sich am eindrücklichsten im Werk von Johann Friedrich Herbart. Herbart, nicht nur der bedeutendste Göttinger Philosoph in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, sondern auch der wirkungsmächtigste Gegner Hegels zu dessen Lebzeiten, hatte schon von 1802 bis 1808 in Göttingen gelehrt und kehrte 1833 als Nachfolger Schulzes aus Königsberg zurück. Er ging in der Nachfolge Kants von dem in der Erfahrung »Gegebenen« als Gegenstand und Grundlage philosophischen Denkens aus. Die »Skepsis« richtet sich auf dies Gegebene und stellt die Frage nach seiner Begreiflichkeit. Dabei entdeckt sie, daß unsere Grundbegriffe vom Gegebenen widersprüchlich sind. Im Gegensatz zu dem Verfahren der spekulativen Dialektik Hegels, die Widersprüchlichkeit der Begriffe zum Prinzip ihrer immanenten Entwicklung zu erheben, fordert Herbart eine philosophische Theorie, die den Widerspruch aus ihnen durch Umarbeitung entfernt (»Allgemeine Metaphysik« 1828ff.). Von weitreichender Bedeutung für die weitere Entwicklung der Wissenschaften waren die von ihm erstmals versuchte Anwendung der Mathematik auf die Psychologie (»Psychologie als Wissenschaft, gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik« 1824f.) sowie seine Pädagogik, deren philosophische Begründung in dieser Psychologie und einer Ethik liegt, die das moralische Urteil auf das ästhetische gründet.
Von 1844 bis 1881, als er dem - zweiten - Ruf nach Berlin folgte, beherrschte Rudolf Hermann Lotze die Philosophie an der Universität. Er war Arztsohn aus der Lausitz, hatte sich in Leipzig 1839 für Medizin, 1840 für Philosophie habilitiert. Dies Fundament in den Naturwissenschaften bestimmte auch die Richtung seiner Philosophie: Metaphysik nicht als Letztbegründung auch der Naturwissenschaften wie bei Hegel oder Schelling, sondern Ergänzung des Naturmechanismus im Rahmen einer leibnizischen Geist-Monadologie. Sein Hauptwerk »Mikrokosmos« (1856-1858), als Gegenstück zu Alexander v. Humboldts »Kosmos« gedacht, erreichte, auch wegen der klaren und geistvollen Darstellungsart, fünf Auflagen; es wurde über das Fach und die Universitäten hinaus von den Gebildeten Europas gelesen und geschätzt. Lotzes Schüler Julius Baumann legte verdienstvolle philosophiehistorische Untersuchungen vor und vertrat einen von seinem Lehrer inspirierten, naturwissenschaftlich orientierten Realismus.
Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Göttingen, übrigens ohne eigenes Verdienst, für 15 Jahre zur Heimat einer der für die Philosophie der Folgezeit wichtigsten und lebendigsten philosophischen Strömungen. Der zuständige Beamte des Preußischen Kultusministeriums, Althoff, sorgte dafür, daß Edmund Husserl, der Begründer der Phänomenologie, aus Halle auf ein Extraordinariat in Göttingen verpflanzt wurde (Die Fakultät ließ Husserl und den Minister ihre Verstimmung über diesen Oktroi noch 1906 spüren, als sie dem Vorschlag, Husserl zum Ordinarius zu ernennen, nicht zustimmen wollte.).
Husserls »Logische Untersuchungen« (1900f.) waren gerade erschienen. Husserl, von Haus aus Mathematiker, wollte fort von den Untersuchungen über die genetische Konstitution unserer Vorstellungen im Sinne des Psychologismus und der Analyse transzendentaler Voraussetzungen aller Gegenstandserkenntnis im Sinne des Neukantianismus: Er wollte »zurück zu den Sachen«, durch sorgfältiges Hinnehmen des im Erlebnis unmittelbar und evident Gegebenen. So sollten Wesensgesetze des intentionalen Erlebens Einsichten in Sachzusammenhänge sichern: Wesensschau wird zur Methode, die die Philosophie als Wissenschaft kennzeichnet. Dieser Ansatz hat Epoche gemacht und auch auf andere Wissenschaften, insbesondere auf Psychologie, Literaturwissenschaft, Rechtswissenschaft und Religionswissenschaft, anregend gewirkt. In Göttingen versammelte sich um Husserl eine Gruppe produktiver Schüler: A. Reinach, H. Lipps, J. Hering, Hedwig Conrad-Martius, Edith Stein und andere. Das »Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung«, das von 1913 an erschien, vereinigte für geraume Zeit wohl die interessantesten Beiträge zur Philosophie, die in Deutschland verfaßt wurden.
Husserl ging 1916 nach Freiburg. Ordinarius für Philosophie wurde 1919 Georg Misch, Meisterschüler und Schwiegersohn Wilhelm Diltheys. Zwischen der Schule Husserls und Diltheys Lebensphilosophie hatten sich lebhafte Verbindungen geknüpft, insofern war dieser Wechsel kein Bruch. Misch wurde als Herausgeber der Schriften Diltheys und als Verfasser der mehrere Bände umfassenden »Geschichte der Autobiographie« weithin bekannt, deren erster Band 1907, deren letzter 1967 erschien. In seinen systematischen Werken ging es ihm darum, die Lebensphilosophie Diltheys mit Husserls Phänomenologie und Heideggers Existenzphilosophie in produktive Beziehung zu bringen, ohne doch die bestehenden Grenzen zu verwischen. 1935 wurde Misch aus rassischen Gründen von der nationalsozialistischen Regierung aus seinem Lehramt vertrieben. Er emigrierte nach England und kehrte 1946 nach Göttingen zurück, wo er bis zu seinem Tod 1965 seine Arbeiten als Emeritus fortführte. Neben Misch wirkte seit 1919 bis zu seinem frühen Tod 1927 Leonard Nelson. Er wollte sowohl in der theoretischen wie in der praktischen Philosophie Kants Ansätze fortführen. Ungewöhnlich für einen deutschen Philosophen war seine Bereitschaft, philosophische Einsichten in politische Praxis umzusetzen. Nelson, der einen nicht an Marx, sondern an Kant orientierten Sozialismus vertrat, gründete den »Internationalen Sozialistischen Kampfbund« (ISK), der einer der Sammelpunkte des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus wurde; seine überlebenden Mitglieder beteiligten sich nach dem Krieg maßgeblich am Wiederaufbau demokratischer Institutionen. Moritz Geiger, Ordinarius von 1923 bis 1933, der besonders durch seine Beiträge zur phänomenologischen Ästhetik hervortrat, mußte wie Misch Deutschland verlassen und starb 1938 in den Vereinigten Staaten. Den durch die Vertreibung Mischs freigewordenen Lehrstuhl übernahm 1935 Hans Heyse, der sich als Kantforscher einen Namen gemacht hatte, nun aber bereit war, in Hitler die Verkörperung der platonischen Idee des Philosophenkönigs zu begrüßen.
Nach dem Ende des Dritten Reiches gelang der Universität ein glanzvoller Neuanfang durch die Berufung von Nicolai Hartmann aus Berlin. Von 1946 bis zu seinem Tode 1950 lehrte Hartmann, der sich durch seine realistische Erkenntnistheorie, seine detaillierte Wertethik und souveräne Beherrschung der Philosophiegeschichte von Plato bis Hegel verdienten Ruhm erworben hatte, mit großer Wirkung weit über das Fach hinaus. Sein Nachfolger war von 1953 bis 1961 Josef König, Schüler von Georg Misch. König hat besonders an den Problemen des Grenzgebietes von Logik, Ontologie und Sprachphilosophie gearbeitet. Neben ihm wirkte von 1952 bis 1961 Helmuth Plessner, aus dem Exil in Groningen auf den neugeschaffenen Lehrstuhl für Soziologie berufen, der als einstiger Husserl-Schüler und als einer der Begründer der philosophischen Anthropologie die Gesellschaftstheorie als Teil eines umfassenden philosophischen Zusammenhangs begriff. Die Geschichte der Philosophie, besonders des Mittelalters, wurde von 1949 bis 1964 durch Joseph Klein vertreten.
Seit 1963, als auf die nunmehr drei philosophischen Lehrstühle (der systematischen Philosophie, der Geschichte der Philosophie und der Wissenschaftstheorie schwerpunktweise, aber ohne Ausschließlichkeit, zugeordnet) Angehörige der Generation berufen wurden, die ihre Studien nach dem Krieg begann, entwickelte sich das Philosophische Seminar zu einem Zentrum der analytischen Philosophie und der Anwendung ihrer Methoden in der systematischen und historischen Forschung. Wenn dabei das Vorbild Gottlob Freges (1848-1925), der als einer der Begründer dieser Richtung gilt, besondere Bedeutung hatte, so schloß sich damit innerhalb der Geschichte der Philosophie in Göttingen ein Kreis: Frege wurde 1873 in Göttingen promoviert, wo er auch bei Lotze studiert hatte, dessen antipsychologistische Theorie der Urteilsgeltung für seine eigene Theorie der Wahrheit vorbildlich gewirkt haben dürfte.
(1) Vgl. Cramer, K.: Die Stunde der Philosophie - Über Göttingens ersten Philosophen und die philosophische Theorielage der Gründungszeit. In: Zur geistigen Situation der Zeit der Göttinger Universitätsgründung 1737 - Eine Vortragsreihe aus Anlaß des 250jährigen Bestehens der Georgia Augusta, hrsg. v. J. v. Stackelberg, Göttingen 1988, S. 101-143.