Nin-me-šara - Deutsche Übersetzung

(1) Herrin über die göttlichen Mächte, die unzähligen, Licht, das strahlend aufgegangen ist,

(2) Frau voll gewaltiger Taten, in gleißendem Schreckensglanz, in Liebe verbunden mit (dem Himmelsgott) An und (der Erdgöttin) Uraš,

(3) Herrscherin über den Himmel, Besitzerin aller großen Insignien der Herrschaft (auf Erden),

(4) die die wirkmächtige Tiara liebt, die ideal zum hohepriesterlichen Amt paßt,

(5) mächtig im Besitz der sieben göttlichen Mächte des Hohepriestertums!

(6) Meine Herrin! Du bist Hüter der großen göttlichen Mächte!

(7) Diese Mächte hast du zu dir emporgehoben, diese Mächte hast du fest ergriffen.

(8) Diese Mächte hast du alle zusammengebracht, diese Mächte hast du fest an dich gedrückt.

(9) Wie ein Drache hast du auf das feindliche Land Gift geschleudert!

(10) Wo du wie der Gewittergott Iškur donnernd gebrüllt hast, war die Getreidegöttin Ezinam (und damit die Ernte) um deinetwillen dahin.

(11) Wasserflut, die von oben herab auf solch feindliches Land einstürzt,

(12) die Ranghöchste, von Himmel und Erde die Innana bist du!

(13) Feuer, immer neu entfacht, auf das Land Sumer herniedergeprasselt,

(14) der (der Himmelsgott) An die göttlichen Mächte gegeben hat, Herrin, die auf Raubtieren dahineilt,

(15) die das schicksalbestimmende Wort Ans durch ihr Wort zur Vollstreckung bringt:

(16) All deine großen, die Herrschaft sichernden Rituale – wer kennt sie?

(17) Zerstörerin der feindlichen Länder – dem Sturmeswüten hast du Kraft gegeben.

(18) In liebender Übereinstimmung mit dem (sumerischen Staatsgott) Enlil hast du auf dem Land Sumer furchtbaren Schrecken lasten lassen.

(19) Die Aufträge des (Himmelsgottes) An auszuführen, stehst du bereit.

(20) Meine Herrin!Wenn sich vor deinem Kriegslärm alle feindlichen Länder beugen,

(21) nachdem (entsetzt) vor dem furchtbaren Schrecken, dem gleißenden Glanz und dem heulenden Sturm die Menschen

(22) in furchtsamem Schweigen zu dir eilten,

(23) – du hattest ja die allerschrecklichsten der göttlichen Mächte ergriffen –

(24) dann war um deinetwillen die Schwelle der Tränen geöffnet,

(25) dann begann man, den Weg zum Haus der großen Klagen zu dir zu laufen;

(26) kampflos um deinetwillen, entblößt aller Waffen.

(27) Meine Herrin, welch eine Kraft ist dein! Wenn sie das härteste Material (d. h. Feuerstein bzw. Zähne) zermalmt,

(28) wenn du wie das Sturmeswüten, das pausenlos faucht, pausenlos fauchend dreinfährst,

(29) wenn du mit dem Sturmeswüten, das pausenlos tost, pausenlos tosend zuschlägst,

(30) – mit dem Gewittergott Iškur brüllst du donnernd –

(31) wenn du mit den grausigen Stürmen, den grausigen Gewitterstürmen dich unermüdlich stürmend verausgabst,

(32) wobei du selbst keinerlei Müdigkeit kennst,

(33) dann stimmt man mit der Harfe der Klagen das Klagelied an:

(34) Meine Herrin! Dann sind die Anuna, die großen Götter,

(35) wie aufgeschreckte Fledermäuse deinetwegen aufgeflattert, um sich in den Ritzen der Ruinenhügel zu verstecken.

(36) Deinem grausigen Blick haben sie nicht standgehalten,

(37) Deiner grausigen Stirn kann keiner von ihnen die Stirn bieten.

(38) Dein zornglühendes Herz – wer wird es beruhigend abkühlen?

(39) Dein Herz, wenn es von grausigen Plänen erfüllt ist, zu beruhigen, ist eine gewaltige Aufgabe!

(40) Herrin, ist das Gemüt schon beschwichtigt? Herrin, ist das Herz schon wieder fröhlich?

(41) Wenn du noch zornig bist, werden sich dir Herz und Gemüt nicht beruhigend abkühlen, große Tochter des Suen (des Stadtgottes von Ur)!

(42) Herrin, jedem feindlichen Land überlegen – wer könnte je (ungestraft) deinem Hoheitsbereich etwas wegnehmen?

(43) Wenn du ein ›Gebirge‹ deinem Herrschaftsgebiet eingliederst, dann ist ihm die Getreidegottheit Ezinam (und damit die Ernte) gänzlich verwehrt.

(44) An seine großen Tore war Feuer gelegt.

(45) In seinen Kanälen strömte das Blut um deinetwillen, seine Leute hatten nichts anderes zu trinken.

(46) All ihre Truppen mußten sie vor dich führen.

(47) All ihre Elitetruppen mußten sie dir zerschlagen.

(48) All ihre kraftvollen Männer haben sie vor dir aufgestellt.

(49) In die Vergnügungsplätze ihrer Stadt fuhr das Sturmeswüten.

(50) Ihre besten Männer haben sie gefangen zu dir gejagt.

(51) Wenn eine Stadt nicht gesagt hat »Das Land (gehört) dir!«,

(52) wenn die Leute nicht gesagt haben »Er (d. h. der Stadtgott) ist dein Vater!«,

(53) dann hat er dein schicksalbestimmendes Wort gesprochen und der Ort ist dir unterworfen.

(54) Dann kann dort, in seinen Mutterleibern, kein neues Leben mehr gedeihen.

(55) Die Frau dort – mit ihrem Gemahl spricht sie dann nicht mehr in Liebe.

(56) Zur Nacht pflegt sie nicht mehr des Rats mit ihm.

(57) Ihren Leib, der die Hoffnung auf künftiges Leben birgt, enthüllt sie ihm dort nicht mehr.

(58) Angreifende Wildkuh, große Tochter Suens,

(59) Herrin, dem Himmel überlegen – wer könnte je (ungestraft) deinem Hoheitsbereich etwas wegnehmen?

(60) Große Herrin (nin gal) der Herrinnen! Für die wirkmächtigen göttlichen Gewalten

(61) aus schicksalsträchtigem Mutterleib hervorgekommen, (jetzt) deiner eigenen Mutter (Ningal) überlegen,

(62) weise und vorausschauend, Herrin über alle Länder,

(63) die vielen Menschen Leben gewährt, dein schicksalbestimmendes Lied will ich dir jetzt anstimmen!

(64) Gottheit, gewaltig an Tat, der die göttlichen Mächte zukommen, dein großartiger Spruch ist am allermächtigsten!

(65) Frau, gewaltig an Tat, mit unergründlichem, strahlendem Herzen, deine göttlichen Mächte will ich dir jetzt sagen!

(66) In meinen schicksalbestimmenden Teil der Tempelanlage war ich zu dir hin eingetreten,

(67) ich, die Hohepriesterin, ich, En-ḫedu-Ana

(68) Während ich den Korb für ein besonderes Ritual trug, den Festjubel angestimmt hatte,

(69) da hat man die Totenopfergaben aufgestellt, als hätte mein eigenes Leben schon geendet!

(70) Dem Licht kam ich nahe: da wurde es mir sengend heiß.

(71) Dem Schatten kam ich nahe: Nachdem (auch) er mir durch Sturmeswüten verhüllt wurde,

(72) da wurde mein süßklingender Mund ekelerregend,

(73) Alles, womit ich sonst Freude bewirkte, wurde zu Staub.

(74) Mein Schicksal mit (dem Stadtgott) Suen und (dem Usurpator) Lugal-Ane

(75) berichte (dem Himmelsgott) An! An möge es mir lösen!

(76) Gleich jetzt berichtest du es An. An wird es uns lösen!

(77) (Spruch Ans:) »Das Schicksal von Lugal-Ane wird eine Frau wegreißen.

(78) Weil Berge (d. h. Feindländer) undWasserfluten ihr unterworfen zu Füßen liegen,

(79) weil diese Frau (auch gegenüber anderen Gegnern) gewaltig ist, wird sie die Stadt vor sich erzittern lassen.

(80) Tritt (vor Gericht), damit sie mir das, was in ihrem Herzen rumort, beruhigend abkühle!«

(81) En-ḫedu-Ana bin ich – ein Gebet will ich nun zu dir sprechen.

(82) Meiner Tränenklage, als wäre sie ein angenehmes Trankopfer,

(83) will ich vor dir, schicksalbestimmende Innana, nun freien Lauf lassen, »Dein (ist es, das) Urteil zu vollstrecken!«, sage ich jetzt zu dir.

(84) Was Dilimbabbar angeht, so bekümmere dich nicht!

(85) Während (der Katastrophe, daß) bis hin zu den Reinigungsriten des schicksalbestimmenden (Himmelsgottes) An alles, was diesen angeht, verdorben wurde,

(86) hat er (Lugal-Ane) von An (dessen Tempel) E-ana (»Himmelshaus«) weggerissen!

(87) Dem ehrwürdigsten Gott (An) hat er keine Ehrfurcht entgegengebracht!

(88) Diesen Tempel, an dessen Wonne er (= An) wahrlich nie satt wurde, dessen Schönheit er niemals überdrüssig geworden wäre,

(89) diesen Tempel hat er (= Lugal-Ane) ihm (= An) zu einer Stätte des Abscheus gemacht!

(90) Eine Art »Gefährte« … ! – Während er so zu mir eingetreten war, hat er (in Wahrheit vielmehr) seinen Neid an mich herangetragen!

(91) Meine gewaltige göttliche Wildkuh! Den sollst du verjagen, den sollst du packen!

(92) Am Ort, der Leben ermöglicht – ich – was bin ich da noch?

(93) Als ein rebellierendes Gebiet, deinem Nanna verhaßt, soll An sie (= die Stadt Ur) ausliefern!

(94) Diese Stadt – An soll sie niederschmettern!

(95) Enlil soll sie verfluchen!

(96) Keine Mutter soll ein weinendes Kind dieser Stadt beruhigen!

(97) Herrin! Das, was Klagen erregt hat,

(98) nämlich dein ›Schiff der Klagen‹ soll im feindlichen Gebiet zurückgelassen werden!

(99) Oder muß ich sterben, weil ich mein schicksalbestimmendes Lied angestimmt habe?

(100) Was mich angeht – mein Nanna hat nicht nach mir gefragt,

(101) als das abtrünnige Gebiet mich ganz und gar vernichtet hat.

(102) Dilimbabbar hat das Urteil über mich ganz gewiß nicht gesprochen!

(103) Ob er es gesprochen hat oder nicht – was ist nun zu tun?

(104) Nachdem er (= Dilimbabbar bzw. Lugal-Ane) all seine Wünsche triumphierend erreicht hat, hat er es (= das Urteil) aus dem Tempel hervorkommen lassen.

(105) Wie eine Schwalbe hat er mich vom Fenster weggescheucht. Nachdem er dafür gesorgt hat, daß die Leute mein Leben vertilgt haben,

(106) läßt du (Innana) zu, daß ich nun zum Dorngestrüpp des Feindlandes gehen muß?

(107) Die wirkmächtige Tiara des hohepriesterlichen Amtes hat er mir entrissen,

(108) hat mir einen Dolch gegeben und gesagt: »Das ist nun dein Schmuck!«

(109) Einzigartige Herrin, von An geliebt,

(110) dein schicksalbestimmendes Herz ist gewaltig (erzürnt): Möge es um meinetwillen (zu seinem Gebiet) zurückkehren!

(111) Gemahlin, die den (legitimen Herrscher) Ušumgal-Ana liebt!

(112) Vom Fundament des Himmels bis zu seinem Zenit bist du die große Herrin (nin gal),

(113) die hohen Götter, die Anuna haben sich dir unterworfen.

(114) Von Geburt her warst du zwar eine kleine Herrin,

(115) doch jetzt, da du die Anuna, all die großen Götter so übertroffen hast,

(116) da küssen sie mit ihren Lippen den Boden vor dir.

(117) Obwohl mein eigener Prozeß noch nicht abgeschlossen ist, umgibt mich ein fremder, feindlicher Urteilsspruch, als sei er für mich bestimmt.

(118) Das strahlend-reine Bett hatte er (= Lugal-Ane) nicht besudelt,

(119) die Sprüche der (Stadtgöttin) Ningal habe ich dem Kerl nicht offenbart.

(120) Die strahlende en-Priesterin Nannas bin ich.

(121) Meine Herrin, geliebt von An, möge sich dein Herz mir beruhigend abkühlen!

(122) Es soll bekannt sein, es soll bekannt sein: Nanna hat keinen Urteilsspruch ausgesprochen, »Dein ist er« hat er gesagt!

(123) Daß du wie der Himmel gewaltig hoch bist, soll bekannt sein!

(124) Daß du wie die Erde unermeßlich weit bist, soll bekannt sein!

(125) Daß du rebellierende Gebiete vernichtest, soll bekannt sein!

(125a) Daß du gegen feindliche Länder brüllst, soll bekannt sein!

(126) Daß du die Häupter (der Rebellion) zerschlägst, soll bekannt sein!

(127) Daß du wie ein Raubtier (ihre) Kadaver frißt, soll bekannt sein!

(128) Daß dein Blick grausige Vernichtung bringt, soll bekannt sein!

(129) Daß du diesen Schreckensblick zum Einsatz bringen wirst, soll bekannt sein!

(130) Daß dein Blick überall vernichtendes Funkeln versprüht, soll bekannt sein!

(131) Daß du unerschütterlich und unnachgiebig bist, soll bekannt sein!

(132) Daß du all deine Wünsche triumphierend erreichst, soll bekannt sein!

(133) Daß Nanna keinen Urteilsspruch ausgesprochen hat, daß er »Dein ist er« gesagt hat,

(134) das hat dich noch größer gemacht hat, meine Herrin, du bist die Allergewaltigste –

(135) und deshalb, du meine Herrin, die An liebt, will ich hiermit von all deinem unwiderstehlichen Wüten künden!

(136) Die Kohlen habe ich aufgehäuft, die Reinigungsrituale dafür vorbereitet,

(137) der Tempel Ešdam-ku (»Schicksalbestimmende Herberge«) steht für dich bereit: Wird sich dein Herz nicht um meinetwillen beruhigend abkühlen?

(138) Da das Herz mir voll, da es mir übervoll geworden war, machtvolle Herrin, habe ich dies für dich geschaffen.

(139) Was dir zur Nacht gesagt wurde,

(140) soll der Kultsänger dir zur Mittagszeit wiederholen:

(141) »Nachdem wegen deines gepackten Gatten, wegen deines gepackten Schützlings

(142) dein Zorn groß geworden war, da hatte dein Herz keine Ruhe finden können …!«

(143) Die machtvolle Herrin, die Herrscherin über die (Götter-)Versammlung,

(144) sie hat das Ritual von ihr angenommen.

(145) Das Herz der schicksalbestimmenden Innana hat sich für sie zu seinem Gebiet gewendet.

(146) Der Tag war angenehm für sie, Entzücken verbreitete sie, überreiche Schönheit verströmte sie reichlich.

(147) Wie das aufgegangene Mondlicht (Nanna) kleidete sie sich strahlend schön.

(148) Nanna gab seiner Bewunderung tatkräftig Ausdruck,

(149) sie (= Innana) grüßte ihre Mutter Ningal,

(150) und während die Torhüter-Gottheiten ihr (= Innana) den Willkommensgruß entbieten,

(151) ist das, was sie (= Ningal) der Herrscherin zuspricht, gewaltig!

(152) Dir, Zerstörerin aller feindlichen Länder, die von An die göttlichen Mächte erhalten hat,

(153) meiner Herrin, in Entzücken gehüllt, dir Innana gehört dieses Preislied!



Übersetzung nach Prof. Dr. A. Zgoll aus Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Neue Folge, Band 8 – Weisheitstexte, Mythen und Epen, 55-67.