Prof. Dr. Dorothy Noyes
Von November 2011 bis Juli 2012
Ph.D., Professorin an den Departments of English, Comparative Studies, and Anthropology und Direktorin des Center for Folklore Studies
The Ohio State University, USA
Geboren 1960 in Evanston Illinois, USA
Studium der Englischen Philologie und der Kulturanthropologie in Bloomington und Philadelphia
Forschungsvorhaben
Was erfinderisch macht: Über die Sozio-Ökonomie von Folklore
Gegenwärtige intergouvernementale Initiativen zum Schutz traditioneller Kultur beruhen auf einem problematischen Verständnis der Art und Weise, wie sich Schaffungsprozesse in Gemeinschaft vollziehen. In ihrem lobenswerten Bemühen, Akteure vor Ort zu stärken, institutionalisieren die UNESCO und die World Intellectual Property Organization (Weltorganisation für geistiges Eigentum) unabsichtlich die ideologische Unterscheidung zwischen Tradition und Moderne. In früheren Arbeiten habe ich die Entstehung traditionellen volkstümlichen Kulturguts mit der verteilten Schaffenskraft, die hinter Open-Source-Software steckt, verglichen. Dabei habe ich aufgezeigt, dass die soziale Basis traditioneller Volkskultur sich auch mit dem Begriff des Netzwerks beschreiben lässt. Traditionelle und die neue, im Netz entstehende, Kreativität unterscheiden sich nicht wesentlich. Die eigentliche historische Ausnahme – oder Fiktion – indes ist die moderne Idee des einzelnen Erfinders und Autors, die in Gesetzen zum Schutz geistigen Eigentums juristische Weihen erlangt hat.
In meiner Forschungszeit in Göttingen werde ich der Frage nachgehen, ob sich möglicherweise doch etwas Spezifisches bestimmen lässt, das traditioneller Kreativität eigen ist. Die vielgepriesenen „flexiblen Netzwerke“ die hinter heutiger technologischer Innovation stehen, sind ein historisches Spezifikum. Die Formen, die wir als Folklore bezeichnen, gehen aus relativ unflexiblen Netzwerken hervor, die durch ökonomische Knappheit, politische Zwänge und ein Übermaß an Zeit gekennzeichnet sind. Sobald sie sich jedoch auf dem freien Markt behaupten müssen, durchlaufen sie einen typischen Transformationsprozess, in dem sich Form und Bedeutungszuschreibung verändern. In meinem im Entstehen begriffenen Buch beschreibe ich die Entwicklung verschiedener Genres volkstümlicher Überlieferung, die sich aus dem Wandel ihrer sozialen Grundlage ergeben. Dabei untersuche ich auch, wie dieser Wandel in traditionellen kulturellen Formen selbst thematisiert wird. Volkstümliche Erzählungen und Feste spiegeln die gesellschaftliche Reflexion sowohl der politischen Zwänge und der Knappheit als auch der neueren Risiken wider, wie sie sich aus den zahllosen Wahlmöglichkeiten der Überflussgesellschaft ergeben. Ein Großteil der aufgezeichneten volkstümlichen Überlieferung Europas stammt aus der Zeit, als die bäuerlichen Schichten in den Nationalstaat und die Industriegesellschaft integriert wurden. Nun wo die Grenzen der Freiheit und des Überflusses ersichtlich geworden sind, sollte das in diesen Aufzeichnungen angesammelte soziale Lernen neu überdacht werden.
Ich freue mich darauf, während meines Aufenthalts die Zusammenarbeit mit der interdisziplinären DFG-Forschergruppe zu cultural property fortzusetzen, deren Studierende und Mitarbeitende meine Überlegungen maßgeblich bereichert haben.
Ausgewählte Publikationen
Noyes, D. 2003. Fire in the Plaça: Catalan Festival Politics after Franco. Philadelphia: University of Pennsylvania Press.
Noyes, D. (forthcoming). «Heritage, Legacy, Zombie: How to Bury the Undead Past» In Kapchan, D. (ed.): Intangible Rights: Cultural Heritage and Human Rights. Philadelphia: University of Pennsylvania Press.
Noyes, D. 2006. The Judgment of Solomon: Global Protections for Tradition and the Problem of Community Ownership. Cultural Analysis 5.
Noyes, D. 2003. «Group» In Feintuch, B. (ed.): Eight Words for the Study of Expressive Culture. Urbana: University of Illinois Press, pp. 7-41.
Noyes, D. 2000. Authoring the Social Drama: Suicide, Self, and Narration in a French Political Scandal. Narrative 8, pp. 210-231.