Prof. Dr. Norbert Schappacher
Von Oktober 2011 bis Juni 2012
Dr., Professor für Mathematik
Université de Strasbourg, Frankreich
Geboren 1950 in Essen, Deutschland
Studium der Mathematik und Philosophie in Bonn, Göttingen und Berkeley, Cal.
Forschungsvorhaben
Sozialgeschichte und Philosophie der Mathematik 1919 – 1960, eine junge konservative Revolution in der Wissenschaft?
Das Studium von wissenschaftlichen Revolutionen überschattete nach Thomas Kuhns berühmtem Buch die Wissenschaftsgeschichte und drang mit Ausdrücken wie Paradigmenwechsel sogar in die Alltagssprache ein. Inwieweit Kuhns namentlich auf die Physik gemünzte Kategorien auch für die Mathematikgeschichte brauchbar sind, bleibt eine schwierige Frage. Indes wurde die (nach dem Ersten Weltkrieg auch von den Akteuren so genannte) Grundlagenkrise der Mathematik im frühen 20. Jahrhundert von verschiedenen Historikern und Philosophen studiert und u.a. in einen breiten Prozess der Modernisierung eingeordnet.
Mein Interesse gilt demgegenüber der Zwischenkriegszeit – oder besser: der langen Epoche der Weltkriege bis Ende der 1950er Jahre. In dieser Zeit wurden in der Mathematik traditionelle Theorien in einer Weise umgeschrieben, welche ebenso umwälzend wie rückwärtsgewandt, ebenso ontologisch liberal wie problemkonservativ war. Ich studiere die Prozesse jener Zeit insbesondere an zwei mathematischen Subdisziplinen, die jede in ihrer Weise die Besonderheiten der Moderne nach der Krise aufzeigen: an der Wahrscheinlichkeitsrechnung (einschließlich der Theorie der Zufallsprozesse und im Vergleich mit der angewandten Statistik) und an der Algebraischen Geometrie, die ab den 1930er Jahren von Grund auf neu geschrieben wurde.
Es stellt sich heraus, dass sich die radikalen Umwälzungen dieser Gebiete im Dreieck von Wissenschaftsgeschichte, Philosophie und Politik abspielen, wobei insbesondere die geopolitischen Aspekte für die angemessene mathematikhistorische Erfassung wesentlich sind. Dies erlaubt Rückschlüsse von diesem anscheinend so speziellen Thema der Mathematikhistorie auf Fragen von viel allgemeinerem Interesse an die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts – und liefert u.a. unerwartete Anregungen zum unter Historikern aus verschiedenen guten Gründen umstrittenen Begriff der Konservativen Revolution.
Ausgewählte Publikationen
Schappacher, N. 2010. «Rewriting Points.» (Invited talk, History of Mathematics section). in: Proceedings of the International Congress of Mathematicians, Hyderabad, India, 2010, pp. 3258-3291.
Oehler-Klein, S. / Schappacher, N. 2007. «Siegfried Koller und die neuen Herausforderungen der Statistik im Nationalsozialismus» in S. Oehler-Klein (ed.): Die Medizinische Fakultät der Universität Gießen im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit: Personen und Institutionen, Umbrüche und Kontinuitäten. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, pp. 247-262.
Schappacher, N. 2008. How to describe the transition towards a new mathematical practice : the example of Algebraic Geometry. Oberwolfach Reports 24.
Schappacher, N. 2007. «A historical sketch of B.L. van der Waerden’s work on Algebraic Geometry 1926-1946» in J. J. Gray & K. H. Parshall (eds.): Episodes in the History of Modern Algebra (1800-1950). History of mathematics series, vol. 32. Providence, RI: American Mathematical Soc. [u.a.], pp. 245-283.
Goldstein, C. / Schappacher, N. / Schwermer, J. (eds.). 2007. The Shaping of Arithmetic after C. F. Gauss’s Disquisitiones Arithmeticae. Berlin (u. a.): Springer Verlag.