Sarah von Hagen, M.A., M.St.

Stipendiatin der Gerda Henkel Stiftung


Dissertationsprojekt


Poster Maritime Gewalten
Zur vergrößerten Ansicht auf das Bild klicken.

Militärische Gewalt auf See wurde durch die Ausbildung professioneller und permanenter Seestreitkräfte in der zweiten Hälfte der Frühen Neuzeit zum ständig präsenten Element der atlantischen Welt. Kriegsgewalt bedrohte und kostete Menschenleben; sie generierte Machteffekte und war Katalysator für die Entwicklung von Kriegsschiffen als teuersten und fortschrittlichsten Waffen sowie Marinen als größten Organisationseinheiten und Verwaltungsaufgaben ihrer Zeit. Ungeachtet ihres zentralen Stellenwerts für die Konstitution des atlantischen Raums werden militärische Gewalt auf See und die Kriegserfahrungen der zur See fahrenden historischen Akteure in der Forschung bislang kaum explizit thematisiert. Mit einer historisch-anthropologischen Untersuchung von Gewalt in den Seeschlachten des späten 17. und 18. Jahrhunderts schließt die Dissertation diese Forschungslücke in der frühneuzeitlichen Militärgeschichte und historischen Gewaltforschung und liefert eine neue Perspektive „von unten“ auf die globalen Vorherrschaftskonflikte des langen 18. Jahrhunderts.

Fragestellung und Quellen

Das Projekt fragt anhand von Gewalthandlungen britischer, französischer und niederländischer Seestreitkräfte im Nordatlantik und der Nordsee, wie sich Kriegsgewalt auf See im Rahmen ihrer spezifischen räumlichen und technischen Bedingungen konstituierte, welche Folgen sie hatte und wie sie schriftlich und visuell verarbeitet wurde. Am Beginn und Ende des gewählten Betrachtungszeitraums stehen mit dem Zweiten Englisch-niederländischen Krieg (1665–1667) und dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1775–1783) Konflikte, die als genuine Seekriege bezeichnet werden können und markante Eckpunkte für die taktische Entwicklungen wie Wahrnehmung der Seekriegsführung darstellen. Ziel des Projekts ist es, die spezifischen Signaturen maritimer Kriegsgewalt in diesem Zeitraum aufzudecken, indem es untersucht, wie Gewalt – verstanden als physische Gewalt im Sinne einer Verletzungsmacht (Heinrich Popitz) – zeitgenössisch erfahren, ausgeübt, dargestellt und legitimiert wurde.

Die Quellengrundlage dafür bilden individuelle wie mediale Erfahrungsberichte, Gerichtsakten und zeitgenössische visuelle Darstellungen der Seeschlachten, die gemeinsam einen Zugang zu sozialen Wissensbeständen, Narrativen der Verarbeitung maritimer Gewalt und zeitgenössischen Normvorstellungen bieten.

Erfahrung – Technisierung – Medialität. Besonderheiten maritimer Gewalt

Schlacht bei Texel, 21. August 1673
Willem van de Velde, der Jüngere, Gefecht während der Seeschlacht bei Kijkdiun (auch Seeschlacht von Texel, 21. August 1673), ca. 1675. Öl auf Leinwand, 114x183cm. SK-A-2393, Rijksmuseum Amsterdam.

Maritime Gewaltsituationen waren im höchsten Maß kontingente Phänomene, deren Verlauf und Ausgang kaum kontrollierbar waren. Umwelteinflüsse, die Unberechenbarkeit der Umgebung und technische Faktoren bestimmten das Geschehen; Schiffe und Besatzungen waren Meer und Wind ausgeliefert, Manöver und Bewegungen nur schwer planbar. Die scheinbare Unbegrenztheit und konturlose Weite des Meeres, die dieser entgegenstehenden Begrenztheit der Schiffe als 'schwimmende Festungen' und deren Bewegung auf einem sich ebenfalls bewegendenden Untergrund konstituierten zudem eine spezifische Räumlichkeit. Diese Kontingenz und Räumlichkeit erforderten eigene (improvisierte) Bewältigungsstrategien im Geschehen: Vermeintliche technologische Überlegenheit und taktisches Knowhow stellten keine Garanten für strategische Vorteile und militärischen Erfolg dar. Technologische und operationale Entwicklungen, etwa in Form von Schiffstypen oder einer veränderten Strategie mussten sich auf See beweisen – Notwendigkeiten für Veränderungen erwuchsen nicht zuletzt aus konkreten Gewalterfahrungen. Dabei entzogen sich die Gewalthandlungen auf See oftmals dem direkten Zugriff der Zeitgenoss:innen. Denn Seeschlachten waren zum einen in ihrer Gesamtheit nicht beobachtbare Ereignisse, zum anderen fanden sie oft ohne Zeug:innen jenseits der Teilnehmenden selbst statt. Erst durch mediale Verarbeitungen wurden die Kriegserfahrungen in der abgeschiedenen, "hölzernen Welt" (N.A.M. Rodger) überhaupt sichtbar.

Methodisch-theoretische Vorgehensweise

Menschen waren notwendige Teilnehmende einer Seeschlacht waren, aber nicht ihre hinreichende Bedingung: Verlauf und Ergebnis einer Schlacht wurden ebenso durch Wetter, Windrichtungen, Wellen, Schiffe, Kanonenpulver, die naturräumlichen Begebenheiten und unzählige weitere Faktoren bestimmt wie durch menschliches Entscheiden und Handeln. Handlungsspielräume und die Wahrscheinlichkeiten möglicher Ausgänge der Schlacht änderten sich im Geschehen ständig und entzogen sich phasenweise vollständig dem menschlichen Zugriff. Um das Phänomen empirisch vollständig zu erfassen, wird Gewalt deshalb praxeologisch anhand der maritimen Gewaltpraktiken Verbrennen, Entern, Verfolgen und Beschießen operationalisiert. Ergänzt durch Elemente der Science and Technology Studies (STS) betrachtet ein solcher Ansatz menschliche, technische und natürliche Akteure symmetrisch. So lässt sich Gewalt als Effekt eines räumlich und zeitlich verorteten, komplexen, ergebnisoffenen und regelhaften Zusammenspiels von menschlichen Körpern, technischen Artefakten, naturräumlichen wie klimatischen Bedingungen, Bewegungsabläufen und spezifischen Normvorstellungen empirisch besser und umfangreicher beobachten. Um den Spezifika maritimer Gewalt auch darstellerisch gerecht werden zu können, arbeitet das Projekt entsprechend der Ansätze einer situationistischen Gewaltforschung mit der dichten Beschreibung von Sequenzen ausgewählter Fallbeispiele. Verbunden wird diese Nahperspektive mit einer Makroperspektive, die Wirkmechanismen der einzelnen Gewaltpraktiken über die spezifische Situation hinaus aufdeckt.


Vita


  • seit 10/2020: Promotionsprojekt an der Georg-August-Universität Göttingen
  • 10/2022–01/2023: Forschungsaufenthalt am Deutschen Historischen Institut Paris
  • 10/2021–09/2022: Gastaufenthalt an der Universität Exeter

  • 2020: M.St. in History of War an der Universität Oxford
  • 2019: M.A. in Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen
  • 2017: B.A. in Geschichte und Deutsche Philologie an der Georg-August-Universität Göttingen


Beruflicher Werdegang


  • seit 07/2023: wissenschaftliche Hilfskraft am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Universität Göttingen
  • 03/2023–06/2023: wissenschaftliche Hilfskraft Lehrstuhl für Frühe Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der Wissenschaftsgeschichte am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Universität Göttingen
  • 2023: Lehrauftrag am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen
  • 2020–2021: wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Frühe Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der Wissenschaftsgeschichte am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Universität Göttingen
  • 2018–2020: Redaktionsassistenz der Zeitschrift Historische Anthropologie
  • 2017–2019: studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Frühe Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der Wissenschaftsgeschichte am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen


Stipendien


  • seit 2023: Promotionsstipendium der Gerda Henkel Stiftung
  • 2022–2023: Mobilitätsstipendium des Deutschen Historischen Institut Paris
  • 2021–2022: Forschungsstipendium des DAAD
  • 2020–2021: Exposéstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes
  • 2019–2020: Auslandsstipendium des DAAD
  • 2016–2021: Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes


Forschungsinteressen


  • Maritime Militärgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts
  • Geschichte der Gewalt
  • Militärgeschichte des 18. Jahrhunderts
  • Geschichte der Frühen Neuzeit
  • Geschichte Großbritanniens
  • Selbstzeugnisse
  • Theorie und Methoden der Geschichtswissenschaft


Ausgewählte Publikationen


  • Zwischen Repression und Emanzipation. Gewalterfahrungen von Blacks in der Royal Navy (1756–1815), in: WerkstattGeschichte 90 (2024), S. 17–36.

  • Violent Seas. A Cultural History of Naval Warfare, c. 1660–c. 1780, in: Harald Heppner (Hrsg.), Wartimes in the 18th Century. Perceptions and Memories, Yearbook of the Society for 18th Century Studies on South Eastern Europe 6 (2023), S. 13–19.

  • Everyone's a Winner? Militärischer Erfolg und Normenkonkurrenz am Beispiel der Belagerung von Toulon 1707, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 81/2 (2022), S. 417–446.

  • Berichten über das Unbekannte – Frühneuzeitliche Reisebeschreibungen als Zugang zu Fremdheitserfahrungen, in: Maria Rhode/Ernst Wawra (Hrsg.), Quellenanalyse. Ein epochenübergreifendes Handbuch für das Geschichtsstudium, Stuttgart 2020, S. 313–320.

  • Ehr-Korrekturen. Zur Redaktionsgeschichte des Journal de la Campagne en Flandre 1746 des Fürsten Carl August Friedrich zu Waldeck, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 69 (2019), S. 115–139.


Lehre



Mitgliedschaften


weitere Mitgliedschaften: