Neuerscheinung: 2. Halbband 2020 des SAECULUM
70. Jahrgang (2020), 2. Halbband
Beiträge Jubiläumsheft „Vergleich. 70 Jahre Saeculum“
Beat Schweizer: Gräber als Ressourcen kollektiver Identitäten in vergleichender Perspektive. Zu Grabbefunden archaischer Zeit der italischen Halbinsel auf der Basis der Diskussionen zum Vergleich in Ethnologie, Geschichtswissenschaften und ArchäologieDer Beitrag zielt auf einen kontrastierenden Vergleich von Gräbern als Ressourcen sozialer Gruppen der italischen Halbinsel zwischen dem 7. und dem 3. Jahrhundert v.Chr. Dafür werden in einem ersten Teil Diskurse zum Vergleich in kultur- und geschichtswissenschaftlichen Fächern präsentiert. Für die Ethnologie und die Geschichtswissenschaften wird die Verschiebung des Interesses von generalisierenden oder makrosoziologisch ausgerichteten Vergleichen zu kontextuellen, auf Prozesse zielenden Vergleichen nachgezeichnet. Mit diesen Entwicklungen lassen sich Veränderungen der Untersuchungsgegenstände parallelisieren, von Korrelationen von Kulturelementen zu homogen gedachten Kulturen, Gesellschaften oder Nationen und letztendlich zu Prozessen um soziale und kulturelle Kontexte, für die auch Verflechtungen und Beziehungen berücksichtigt werden. In den Archäologien wurde dagegen der Vergleich einerseits vor allem in Bezug auf Klassifizierung diskutiert, anderseits im Hinblick auf Analogien als asymmetrisches Vergleichen.
Im zweiten Teil wird versucht, die neueren Konzeptionen der Ethnologie und der Geschichtswissenschaften für die Archäologie zu nutzen. Als Fallbeispiele des Vergleichs werden das Heroon von Poseidonia/Paestum und Nekropolen von Caere am Ort des heutigen Cerveteri in ihren sozialen und kulturellen Kontexten als Ressourcen im weiten Sinn der Medien der Stiftung, aber auch der Bewahrung und Veränderung von Identitäten sozialer Gruppen beschrieben. Auf der Basis eines kontrastierenden Vergleichs in dieser Perspektive wird abschließend auf andere Erklärungen historischer Entwicklungsprozesse und deren Materialität gezielt.
Wolfgang Reinhard: Resonanzsensibilität von Kulturen
Das anregende Buch von Hartmut Rosa über Resonanz soll aus interkultureller oder heute lieber transkultureller Perspektive ergänzt werden. Unterschiedliche Kulturen weisen nämlich ein unterschiedliches Maß gegenseitiger Sensibilität auf. Dieser Sachverhalt war historisch außerordentlich folgenreich. Rosas Konzept der Resonanz wird zunächst vorgestellt (1). Dann wird kurz geklärt, was wir unter Kultur verstehen wollen (2). Nach einer allgemeinen These zur transkulturellen Resonanzsensibilität (3) soll es dann um deren frühneuzeitliche Rahmenbedingungen zwischen Europa und Lateinamerika einerseits und zwischen Europa und Ostasien andererseits gehen. Denn vormoderne Verhältnisse dürften mehr vergleichbare intrakulturelle Identität übrig gelassen haben als die stark vereinheitlichte moderne Weltkultur (4). Aus drei Resonanzgeschichten zwischen Europa einerseits, Japan, China und Spanisch-Amerika andererseits (5) ergeben sich erneut allgemeine Schlussfolgerungen (6).
Ulrich Veit: Die „ethnographische Analogie“: Aufstieg und Niedergang eines heuristischen Schemas in der deutschsprachigen Urgeschichtsforschung im 20. Jahrhundert
Rückblickend betrachtet wird man die „ethnographische Analogie“ (bzw. „völkerkundliche Parallele“) als eines der zentralen Konzepte der durch den Positivismus geprägten Vor- bzw. Urgeschichtsforschung des späten 19. Jahrhunderts ansehen dürfen. Als heuristisches Prinzip zur Deutung archäologischer Funde und Befunde unterschiedlicher Art (paläolithische Wand- und Kleinkunst, neolithische Monumentalarchitektur, metallzeitliche Grabinventare) behielt diese Form eines asymmetrischen Kulturvergleichs auch noch unter den veränderten epistemologischen Bedingungen des 20. Jahrhunderts (Historismus, Funktionalismus, Prozessualismus und früher Postprozessualismus) ihre Bedeutung. Dabei gab es immer wieder Bemühungen um eine Methodisierung des entsprechenden Vorgehens – speziell im Rahmen einer kulturhistorisch orientierten Forschung. Diese haben aus nachvollziehbaren Gründen – aus einer Heuristik lassen sich keine Gesetzmäßigkeiten ableiten – jedoch nicht zur erhofften besseren Absicherung der daraus hervorgehenden historischen Schlussfolgerungen geführt. Nicht zuletzt aus diesem Grund sah sich das Prinzip des analogischen Deutens mit dem Aufkommen funktionalistischer und semiotischer Ansätze zunehmend mit Kritik konfrontiert. In dieser Debatte werden daher exemplarisch einige der massiven epistemologischen Verschiebungen in der Urgeschichtsforschung im Verlauf des 20. Jahrhunderts sichtbar. Der vorliegende Beitrag versucht, aus einer primär wissenschaftsgeschichtlichen Perspektive und mit Fokus auf die einschlägige deutschsprachige Debatte die Argumente pro und contra „ethnographische Analogie“ darzulegen. Dadurch sollen die besonderen historischen Voraussetzungen, die zu Entstehung, Blüte und Krise dieses bedeutsamen heuristischen Schemas geführt haben, sichtbar gemacht werden.
Manfred K.H. Eggert: Die Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie 1950–2020. Von antiquarischer Selbstgenügsamkeit zu komparatistischer Praxeologie
Dieser Beitrag versucht, einen Überblick über die Entwicklung der deutschsprachigen Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologie zwischen 1950 und 2020 zu geben. Dieser Zeitraum entspricht zum einen den 70 Jahren der Existenz des Saeculum, in dessen Jubiläumsheft dieser Aufsatz erscheint. Zugleich markiert das Jahr 1950 die Veröffentlichung des ersten Lehrbuchs des hier behandelten Fachs nach dem Zweiten Weltkrieg durch Christian Pescheck. Wie der Untertitel dieses Beitrags signalisiert, geht es mir vor allem um den Bereich der theoretischen Reflexion, mit der sich die Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie im Laufe der vergangenen 70 Jahre ihrem Quellenmaterial genähert hat. Das Saeculum erscheint für die hier präsentierten Überlegungen auch deswegen als der richtige Ort, weil Edward Sangmeister dieses Jahrbuch 1967 für seine programmatische Abhandlung über „Methoden der Urgeschichtswissenschaft“ gewählt hat.
Stephan Conermann/Miriam Quiering: Der Transkulturelle Vergleich – ein Bericht aus dem Inneren von Verbundprojekten
Dieser Beitrag berichtet aus der Innenperspektive zweier großer DFG-Projekte über die Chancen und Möglichkeiten, aber auch Grenzen und Herausforderungen transkultureller Vergleiche. Vor allem der postkoloniale Vorwurf des Eurozentrismus stellt die Transkulturalitätsforschung vor ein bislang ungelöstes Dilemma, da bereits die Festlegung des Vergleichsobjekts und des Tertium Comparationis üblicherweise aus einer europäischen Perspektive geschieht. Durch die Auswertung von insgesamt fünf Sammelbänden, die im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive“ (SFB 1167) zwischen 2016 von 2020 entstanden sind, werden Arbeitsmethoden, theoretische Überlegungen und Forschungsergebnisse des SFBs kritisch beurteilt und für zukünftige Vergleichsprojekte nutzbar gemacht. Auch das 2019 angelaufene Exzellenzcluster „Beyond Slavery and Freedom. Asymmetrical Dependencies in Pre-Modern Societies“ (EXC 2036) hat den Anspruch, verschiedene Kulturräume und -epochen aus vergleichender Perspektive zu untersuchen. Da es hier für eine Bilanzierung noch zu früh ist, starten wir unseren Erfahrungsbericht zu transkulturellen Vergleichsmöglichkeiten mit einem von Gül Şen und Stephan Conermann herausgegebenen Band zur Sklaverei im Osmanischen Reich. Ergänzt wird dies durch die Auswertung zweier externer, von Gwyn Campbell und Alessandro Stanziani zum Thema Schuldknechtschaft herausgegebener Sammelbände. Da Sklaverei aufgrund der Schwierigkeit, den Begriff eindeutig zu definieren, nur bedingt als Vergleichsobjekt taugt, steht hier die Frage im Vordergrund, inwiefern sich starke asymmetrische Abhängigkeiten bzw. im Fall von Campbell und Stanziani Formen der Schuldknechtschaft als Tertium Comparationis für die transkulturelle Sklavereiforschung eignen.
Stefanie Samida: Kollektives Sammeln in Zeiten des Übergangs
Im Zentrum des Beitrags steht die Analyse eines Phänomens, das sich als kollektives Sammeln von Gegenwart bezeichnen lässt und eng mit Übergangsprozessen verbunden ist, die von den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen als krisenhaft wahrgenommen werden. Dieses Phänomen wird anhand von zwei Fallbeispielen – dem Ende der DDR 1989/90 und dem Beginn der Coronapandemie 2020 – aus einer breiten historisch-kulturwissenschaftlichen Perspektive und vergleichend analysiert. Die Analyse zeigt, dass wir es hier das eine Mal mit einer beschleunigten Musealisierung und Historisierung gelebter Gegenwart zu tun haben und das andere Mal mit einer ‚Ethnographisierung‘ des Alltags. Am Ende des Beitrags wird der Prozess des kollektiven Sammelns unter der Prämisse dessen, was der Soziologe Hartmut Rosa als Verfügbarmachung von Welt beschreibt, betrachtet.