Von Anne Vabarna und meiner ersten Hausarbeit

Alles ist neu, ungewohnt, aufregend. Und groß, die Uni ist so groß. Das sind die Eindrücke, die ich als Ersti in Göttingen habe. Jetzt, ein halbes Jahr später, ist nicht mehr alles ganz so fremd und überwältigend, aber ganz souverän laufe ich immer noch nicht auf dem Campus herum…

Und dann ist plötzlich wieder alles ungewohnt und anders, denn es ist 2020 und alle Vorlesungen finden online statt.

Zwei Dinge gefallen mir an diesem Studium besonders: dass ich mir meine Kurse größtenteils selbst aussuchen kann, weshalb ich mich direkt für Kultur der Finnougrier: Setumaa angemeldet habe, und dass wir in der Finnougristik so wenige Leute sind, sodass man schnell alle Namen kennt. In diesem Kurs sind wir zu dritt, eine Dozentin und zwei Studentinnen. Uns verbindet die Liebe zu dem kleinen baltischen Staat namens Estland und natürlich die Tatsache, dass außerhalb des Gebäudes quasi niemand unser Studienfach aussprechen kann, geschweige denn weiß, was sich dahinter verbirgt. Und ein paar Wochen später stehe ich in der größten Bibliothek, in der ich je war, der SUB, und hoffe, dass das mit dem Bestellen der Zeitschrift geklappt hat. Ich gebe zu, mein Herz pocht aufgeregt, als ich eintrete und nach der richtigen Nummer im Abholregal suche. Ja, da ist sie, die estnische Literaturzeitschrift aus dem Jahre 1928. Und ja, um den Artikel zu lesen, um den es mir geht, muss mein Wörterbuch ganze Arbeit leisten. Ich bereite die erste Hausarbeit meines Lebens vor, und es geht um Anne Vabarna, die “Nationaldichterin” der Setu (oder Setukesen), die auf estnischem und russischem Boden leben und eine ganz eigene Kultur haben.

Anne Vabarna

Über Anne zu schreiben, ist gar nicht so leicht. Abgesehen davon, dass die meisten Quellen auf Finnisch oder Estnisch sind und ihre eigenen Texte natürlich im Setu-Dialekt, fängt es schon damit an, dass man sich bei ihrem Geburtsdatum nicht ganz einig ist.

Berühmt ist Anne für ihr Epos “Peko”. Anne ist eine tolle Improvisationssängerin und Dichterin. Als der finnische Musikforscher Armas Otto Väisänen beschließt, dass die Setu ein Nationalepos haben sollten, fällt seine Wahl auf Vabarna als Autorin. Sie verarbeitet Väisänens Vorschläge, alte Setu-Sagen und biblische Themen, singt ihrem Sohn vor (da sie selbst nicht schreiben kann) und Väisänen veröffentlicht das Ergebnis in Finnland.

Das Epos

Peko ist von Geburt an sehr groß und stark und besiegt die Feinde im Krieg dank seiner magischen Gegenstände (ein besonderes Schwert, ein magischer Eichenknüppel und schützende Kleidung) problemlos. Jesus macht ihn daraufhin zum König. Gemeinsam mit seiner Frau regiert er gut und weise über sein Volk. Und auch nach seinem Tod steht er seinem Volk zur Seite und hilft, wenn es in Not ist – man muss nur seinen Namen rufen.

Fazit

Der Peko als Gott des Getreides ist zwar bei den Setu bekannt und am jährlichen Königreichstag wird auch ein stellvertretender König und Sprecher Pekos auf Erden gewählt – doch mir scheint, dass Anne Vabarna als Gesangmutter bekannter ist als ihre epische Figur.

Während der Recherchen bin ich immer tiefer in die Welt der Setu eingetaucht und konnte kaum damit aufhören, alte Texte von und über Anne Vabarna zu lesen. Klar, meine erste Hausarbeit ist nicht perfekt, aber wie sich herausstellt, war es gar nicht so schlimm wie erwartet und mit der Note bin ich auch zufrieden. Hoffen wir mal, dass dieses digitale Semester ebenfalls ein gutes Ende gibt. Und wenn ich Sorge habe, versuche ich es mal damit, Pekos Namen zu rufen, vielleicht taucht er ja wie im Epos auf und hilft mir.

Text: Marina Loch

Quellen:
Hagu, Paul und Suhonen, Seppo, Helsinki, 1995: Peko: Setu rahvuseepos. Snellman-Instituutti A-Sarja, 18/1995
Hasselblatt, Cornelius, Berlin, 2006: Geschichte der estnischen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, (Seiten 75-89)
Kalkun, Andreas, 2008: A woman’s Voice in an Epic: Tracing Gendered Motifs in Anne Vabarna’s Peko, Journal of Ethnology and Folkloristics, Volume 2 2008, number 2, S. 25-45
Viidalepp, Richard Voldemar: Anne Vabarna 1877-1964, Keel ja kirjandus, Ausgabe 2, 1965 (Seiten 122-124)
Voolaine, Paulopriit: Seto lauluema Vabarna Anne „Peko (Pekolanõ)”, Eesti kirjandus, Ausgabe 1, 1928 (Seiten 6-21)
Voolaine, Paulopriit: Setu lauluema Anne Vabarna „Peko laulu“ II osa. Eesti kirjandus, Ausgabe 8, 1930 (Seiten 378-389)

Internetquellen:
Hagu, Paul: Setu lauluema Anne Vabarna, auf http://www.folklore.ee/rl/pubte/ee/setu/anne/anne.html, zuletzt aufgerufen am 16.02.2020
Vesik, Liisa, Hagu, Paul, Tartu, 2002: "Peko laul" II auf http://www.folklore.ee/rl/pubte/ee/setu/anne/peko2/, zuletzt aufgerufen am 18.02.2020
Vesik, Liisa, und Hagu, Paul, Tartu, 2002: Comment to the Seto epic: second part of the "Peko song" (4318 verses) auf http://www.folklore.ee/rl/pubte/ee/setu/anne/peko2/peko_0_en.html, zuletzt aufgerufen am 18.02.2020
http://www.unesco.org/archives/multimedia/document-369, zuletzt aufgerufen am 18.02.2020 https://visitsetomaa.ee/et/seto-kuningriik,  zuletzt aufgerufen am 18.02.2020

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