Nachruf
Das Musikwissenschaftliche Seminar trauert um Martin Staehelin
von Michael SchäferIm Alter von 87 Jahren ist der Göttinger Musikwissenschaftler Prof. Dr. Dr. h. c. Martin Staehelin am 23. Juni 2025 gestorben. Im Herbst 1983 wurde er an das Musikwissenschaftliche Seminar der Universität Göttingen als Vertreter des Faches Historische Musikwissenschaft berufen. Dort lehrte er bis zum Eintritt in den Ruhestand im Jahre 2002.
Staehelin stammte aus einer Basler Gelehrtenfamilie. Er absolvierte eine Ausbildung als Flötist an der Musikakademie Basel, dazu eine Ausbildung zum Gymnasiallehrer (Alte Sprachen und Musik). Er studierte Musikwissenschaft und alte Sprachen an der Universität seiner Heimatstadt, wurde dort 1967 dort promoviert und habilitierte sich 1971 an der Universität Zürich. 1976 wurde er Direktor des Bonner Beethovenarchivs und -hauses und Professor an der Universität Bonn. Von 1992 an wirkte er als ehrenamtlicher Direktor des Göttinger Johann-Sebastian-Bach-Instituts, dessen satzungsbedingte Auflösung – nach Abschluss der Neuen Bach-Ausgabe – er im Jahre 2006 regelte.
Seine musikwissenschaftliche Tätigkeit hatte ihre Schwerpunkte in der Musikgeschichte des 15./16. und des 18./19. Jahrhunderts sowie in der Quellenforschung zur mittelalterlichen und spätmittelalterlichen Musikgeschichte. Seine Veröffentlichungen zeichneten sich durch profunde Sachkenntnis und durch philologische Akribie aus, durch eine ausgesprochen exakte Sprache und durch die gewissenhafte Sorgfalt in der Prüfung aller Sachverhalte, denen er beim Quellenstudium begegnete: die „Befundinterpretation auf sicherem Fundament“, wie er selbst es in einem Enzyklopädieartikel formulierte.
Zu den Doktoranden, die er betreute, gehören zwei herausragende Fachvertreter. Ulrich Konrad (Jahrgang 1957) war ab 1983 Staehelins Assistent, habilitierte sich 1991 in Göttingen, wurde 2001 für seine bahnbrechenden Mozart-Forschungen als erster und bislang einziger Musikwissenschaftler mit dem Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis geehrt und ist heute Ordinarius an der Universität Würzburg. Jürgen Heidrich (Jahrgang 1959) habilitierte sich 1999 und wurde 2004 als Professor für Historische Musikwissenschaft an der Universität Münster berufen.
Für seine Verdienste um die Forschung wurde Staehelin vielfach ausgezeichnet, etwa mit der Dent Medal der Royal Musical Association London (1975) und dem Glarean-Preis der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft (2009). 1998 wurde er Editionsleiter der Denkmälerreihe „Erbe deutscher Musik“ und 1999 Mitglied des Beirats der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Seit 1987 war er ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, seit 1992 der Academia Europaea. Im Jahr 2011 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universität Münster. Zu seinem 65. Geburtstag 2002 wurde ihm die Festschrift „Musikalische Quellen – Quellen zur Musikgeschichte“ gewidmet.
Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen gehören neben zahlreichen Aufsätzen die zweibändige Edition der Messen Heinrich Isaacs (1970), die vollständige Reproduktion der Handschrift W1 der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (1995) – der bedeutendsten Quelle der frühen europäischen Mehrstimmigkeit – sowie die Lebens- und Werkbiografie des Zürcher Musikpädagogen, Verlegers und Komponisten Hans Georg Nägeli, die er mit einem umfangreichen Band mit Dokumenten und ausgewählten Schriften Nägelis ergänzte (2023). Bei diesem Projekt hat ihn, der zu dieser Zeit von den Beschwerden des Alters bereits deutlich gezeichnet war, seine Ehefrau Elisabeth Staehelin mit der Zusammenstellung und Einordnung seiner in 50-jähriger Arbeit entstandenen Einzelstudien tatkräftig und zielstrebig unterstützt.
Neben seiner Lehre an der Universität Göttingen hat sich Staehelin auch um das Göttinger Konzertleben verdient gemacht. So war er von 1989 an als Hausherr mitverantwortlich für die Durchführung der Konzertreihe „musica viva“ mit zeitgenössischer Musik, die die Schünemann-Stiftung im historischen Treppenhaus des Göttinger Accouchierhauses veranstaltete. Zudem war er von 2000 bis 2003 als Vorsitzender der Göttinger Kammermusikgesellschaft zuständig für Organisation und Programmgestaltung der Aulakonzerte und viele Jahre lang Mitglied im Vorstand der Göttinger Händelgesellschaft.
Michael Schäfer ist Alumnus des Musikwissenschaftlichen Seminars der Georg-August-Universität Göttingen.