Die Wirklichkeit der Geschichte (17. bis 19. November 2011)
Die historischen Wissenschaften galten lange Zeit als empirische Wirklichkeitswissenschaften, die sich mit den handfesten Realitäten des vergangenen Lebens auseinandersetzen. Mit dem Cultural Turn der 1990er-Jahre verschob sich jedoch der Fokus. Nicht mehr die vermeintlichen Realitäten, sondern die kulturellen und symbolischen Interpretationskonstrukte standen im Zentrum des Interesses. Wirklichkeit wurde nicht mehr als tatsächlich vorhanden vorgestellt, sondern als kulturell geformtes und symbolisch repräsentiertes menschliches Konstrukt. Nicht mehr von einer Wirklichkeit, sondern von mehreren handeln nun die Wissenschaften, die mit Geschichte befasst sind. Die Aufmerksamkeit verschob sich von den Einflüssen und Determinanten, die die eine Wirklichkeit auf die Welt der Menschen hatte, hin zu den Entstehungs- und Konstruktionsbedingungen von Wirklichkeiten im Plural. Seit den 1990er-Jahren macht sich eine Scheidelinie in der Scientific Community bemerkbar, die sich entlang der Frage auftut, ob es jenseits der kulturellen Konstrukte eine wirkmächtige Wirklichkeit gibt, die auch ohne symbolische Repräsentanz geschichtswirkmächtig wird oder nicht. Und dort, wo eine solche angenommen wird, sind die methodischen Zugangsweisen zu dieser ebenso umstritten wie die Sache selbst. In jüngster Zeit ist eine Gegenbewegung spürbar. Die zunehmende Kritik am vermeintlich willkürlichen Charakter kultureller Konstruktionen führt zu Überlegungen nach einer (Re-)Materialisierung des Wirklichkeitsbegriffes. In diesen Dichotomien zwischen Konstruktion und Materialität, zwischen Kontingenz und Kausalität steht die mehrdeutige Frage nach der ‚Wirklichkeit der Geschichte‘ derzeit im Fokus theoretischer wie empirischer Debatten der verschiedenen, mit Geschichte und Geschichtlichkeit befassten Wissenschaften.
Die Tagung will sich auf theoretischer und konzeptioneller Ebene der Frage nach dem Wirklichkeitsbegriff der Geschichtswissenschaft und mit Geschichte auf verschiedenste Art und Weise beschäftigten Wissenschaften widmen. Sie wird sich dem Problemfeld auf drei Ebenen nähern:
Welche konzeptionellen und theoretischen Traditionen und Diskurse sind in der heutigen Auseinandersetzung um den geschichtswissenschaftlichen Wirklichkeitsbegriff wirkmächtig und welche logische und empirische Überzeugungskraft haben diese heute noch?
Wie kann nach dem Cultural Turn und nach den Auseinandersetzungen um eine postmoderne Geschichtswissenschaft eine schlüssige Begriffsdefinition von historischer Realität aussehen?
Wie lassen sich neue Konzepte in der empirischen Forschung operationalisieren und welche Folgen haben diese für die Zukunft der historischen Wissenschaften?
Die Tagung nähert sich dem Thema mit 4 Schwerpunkten:
(1) Logik des Wirklichkeitsbegriffs
(2) Theoriebildung und Wirklichkeitsrepräsentation
(3) Lebensweltliche Wirklichkeit der Geschichtswissenschaft(-betreibenden)
(4) Mediale Repräsentation und historische Wirklichkeit
(1) Logik des Wirklichkeitsbegriffs
Zwischen einem naiven Realismus historistischer Prägung und einem radikalen Konstruktivismus sind in der Geschichtswissenschaft unterschiedliche mehr implizite denn explizite Definitionen von historischer Wirklichkeit präsent. Eine erste Sektion wird der Frage nachgehen, wie der Begriff Wirklichkeit in den historischen Wissenschaften präzisiert und argumentationslogisch prägnant formuliert werden kann. Wovon handelt die Geschichtswissenschaft und was lässt sich als ‚historische Wirklichkeit‘ definieren?
(2) Theoriebildung und Wirklichkeitsrepräsentation
In Zeiten des Kalten Krieges war die Diskussion um Subjektivität/Parteilichkeit und Objektivität der Geschichtswissenschaft ein zentrales Element wissenschaftlicher, meist ideologisch präfigurierter Selbstverortungsdiskurse. Im Kontext des Cultural Turns ist es seit den 1990er-Jahren opportun geworden, die Geschichtswissenschaft im Zwischenraum einer als unmöglich angenommenen reinen Objektivität und eines abgelehnten puren Subjektivismus zu verorten. Die Intersubjektivität wird in der Regel durch quellenkritische Verfahren angestrebt, zentral aber durch Diskussionen der theoretischen Basisannahmen abgesichert. Dieser Theory Turn hat weitreichende Auswirkungen auf die alltägliche Praxis der Geschichtswissenschaft und auf das Selbstverständnis ihrer Protagonistinnen und Protagonisten. Ob jedoch Theorie historische Wirklichkeit schafft oder diese nur erforschbar macht, ist weithin umstritten. Die zweite Sektion widmet sich dieser Frage, in welchem Verhältnis Theorie zur Wirklichkeitskonstitution in den historischen Wissenschaften steht.
(3) Lebensweltliche Wirklichkeit der Geschichtswissenschaft(-betreibenden)
Theorien im Plural sind zum zentralen Handwerkszeug aktueller Geschichtsschreibung geworden. Jedoch lassen sich diese theoretischen Basisannahmen selten falsifizieren, schon gar nicht verifizieren. Pragmatische Argumente stehen meist im Zentrum der theoretischen Basisentscheidungen, die für ein Forschungsvorhaben getroffen werden. Übersehen wird häufig, dass sich hinter pragmatischen Entscheidungen auch lebensweltliche Entscheidungen verbergen. Welche Rolle die Lebenswelt der in den Wissenschaften agierenden Subjekte spielt, wird zumeist mit Verweis auf politische Entscheidungen diskutiert. Wo aber parteipolitische oder auch parteireligiöse Bindungen nicht mehr jene Bindekraft haben, die sie noch im 19. und frühen 20. Jahrhundert hatten, muss die Frage nach der lebensweltlichen Verstrickung des Wissenschaftlers selbst neu gestellt werden. Die dritte Sektion der Tagung fragt danach, in welchem Verhältnis die Wirklichkeitskonstitution in den historischen Wissenschaften zu der lebensweltlichen Bindung ihrer Protagonisten steht?
(4) Mediale Repräsentation und historische Wirklichkeit
Die mediale Bedeutung von Wirklichkeitsgenerierung ist seit den Arbeiten der Toronto School of Communication, von McLuhan, Ong, Havelock etc., im Kontext eines postmodernen Konstruktivismus Allgemeinplatz geworden. Dennoch ist die Geschichtswissenschaft tendenziell immer noch eine Textwissenschaft, die größtenteils wissenschaftliche Texte über historische Texte verfasst. Was sich in einer zunehmend medialisierten und visualisierten Umwelt an diesem Verhältnis ändern könnte, ändern sollte und nicht ändern darf, ist Thema einer vierten Sektion, die sich mit dem Verhältnis von Medien und Wirklichkeit in der Praxis der historischen Forschung beschäftigt.
Der Workshop wurde initiiert von Prof. Dr. Stefan Haas (Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Göttingen).