Heft 11/12 Geschichtswissenschaft und Science-Fiction
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 76 2025, Heft 11/12
Inhalt
Obwohl die gesellschaftsdiagnostischen Potenziale der Science-Fiction-Kultur seit langem bekannt sind, tut sich die Geschichtswissenschaft, vor allem die deutschsprachige Geschichtswissenschaft immer noch schwer mit dem Genre. Versucht man diese Beobachtung zu erklären, so ist in besonderer Weise darauf hinzuweisen, dass sich Science-Fiction definitorisch und konzeptionell, aber auch methodisch kaum adäquat fassen lässt. Das vorliegende Heft plädiert vor diesem Hintergrund für eine verstärkte Untersuchung der Erkenntnismöglichkeiten von Science-Fiction, die vor allem auf epochale und disziplinäre Offenheit setzt: von der durchaus konstitutiven Eingestaltung antiker Narrative oder vormoderner Dinge bis hin zu frühneuzeitlichen und zeitgenössischen Weltraumreisen.
Am Anfang bietet Michael Rohrschneider eine Verhältnisbestimmung von Geschichtswissenschaft und Science-Fiction, die nicht zuletzt auf den dystopischen – und globalen – Charakter vieler Science-Fiction-Entwürfe eingeht, die aber auch auf die dynamische Aneignung aktueller Diskurse um Gentechnik, Neurowissenschaft und KI verweist. Ein weiterer Akzent des einführenden Beitrags liegt auf dem Zusammenhang von Science-Fiction-Hype, historischer Kontingenz- und Zukunftsforschung sowie den gegenwärtigen Krisen- und Beschleunigungserfahrungen. Im Anschluss legt Michael Kleu die narrativen bzw. medialen (Plot-)Strukturen frei, die Antike und Science-Fiction miteinander verbinden und dabei eine erstaunlich nachhaltige populäre Rezeptions- und Deutungsmacht entwickeln, wobei die homerische Odyssee eine besondere Rolle spielt. Am Beispiel des 2018 erschienenen Romans „Roma Nova“ der Phantasy-Autorin Judith Vogt kann er zudem zeigen, dass es möglich ist, eine bemerkenswert „authentische“ Erzählwelt zu schaffen, die geographisch ohne Berührungspunkte mit dem historischen Römischen Reich auskommt.
Andrea Stieldorf macht im folgenden Beitrag auf ein Phänomen aufmerksam, das uns allen vertraut ist: Futuristische, hoch technisierte Settings sogenannter Space Operas werden mit Objekten bestückt, die mittelalterlich anmuten. Die Verfasserin kann zeigen, dass dabei ein Wissen vorausgesetzt (und hergestellt) wird, das erstaunlich „gut“ funktioniert, etwa wenn es um rechtliche Beglaubigungen oder soziale Ordnungszusammenhänge geht. Der Beitrag lässt auch erkennen, dass und wie wir dazu in der Lage sind, subkutane und diffuse Wissensbestände situativ zu aktivieren. Im Unterschied zu den anderen Beiträgen geht Hania Siebenpfeiffer nicht von der Gegenwart und ihren Bedürfnissen aus, sondern von den extraterrestrischen Welten und Zeiten der Frühen Neuzeit. Siebenpfeiffer führt am Beispiel von literarischen Weltraumreisen des 17. und 18. Jahrhunderts vor Augen, dass die Erfindung von Science-Fiction mit der Etablierung der auf Beobachtung beruhenden „Nova Scientia“ Hand in Hand ging – und dass die narrative Etablierung außerirdischen Lebens zudem mit der Temporalisierung des Weltraums verbunden war, die den Bewohnerinnen und Bewohnern anderer Planeten zunächst die Vergangenheit, dann die Gegenwart und schließlich mit dem 18. Jahrhundert die Zukunft der Menschheit zuwies.
Im abschließenden Beitrag widmet sich Michael Rohrschneider der seit 1961 wöchentlich erscheinenden Heftromanserie „Perry Rhodan“. Im Mittelpunkt steht das Themenfeld „Krieg und Gewalt“ und damit die „galaktische Friedensarbeit“ des Helden. Der Beitrag versteht die Serie als empfindlichen Resonanzraum bundesrepublikanischer Geschichte – und macht damit resümierend noch einmal auf die seismographischen Qualitäten der Science-Fiction-Kultur aufmerksam. Es wird leicht vergessen: Allein die Perry-Rhodan-Fangemeinde im engeren Sinne umfasst momentan mindestens 60.000 menschliche Galaktiker.
Peter Burschel
ABSTRACTS (S. 594)
EDITORIAL (S. 596)
BEITRÄGE
Michael Rohrschneider
Geschichtswissenschaft und Science-Fiction
Eine Beziehung im Spannungsfeld von Gegenwartsrelevanz und ungenutzten Erkenntnismöglichkeiten (S. 597)
Michael Kleu
Spartacus im Weltraum
Antike Geschichte(n) in der Science-Fiction-Literatur (S. 602)
Andrea Stieldorf
In zahlreichen Farben glänzende Siegel, Wappen, Schwerter und Co.
Vormoderne Materialität in aktuellen Space Operas (S. 619)
Hania Siebenpfeiffer
Extraterrestrische Welten und Zeiten
Die frühneuzeitliche Science-Fiction und ihre anthropologischen und temporalen Entwürfe (S. 635)
Michael Rohrschneider
Pax Terra?
Zeitgeschichtliche Potenziale der Heftromanserie „Perry Rhodan“ (S. 653)
Marco Dräger
Die Revolution von 1848/49 in der Erinnerungs- und Geschichtskultur (S. 669)
INFORMATIONEN NEUE MEDIEN
Alessandra Sorbello Staub
Weit mehr als reine Unterhaltung
Science-Fiction im Netz (S. 689)
LITERATURBERICHT
Barbara Schlieben
Früh- und Hochmittelalter
Teil II (S. 691)
NACHRICHTEN (S. 705)
AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 708)
JAHRESREGISTER 2025 (S. 709)
ABSTRACTS
Michael Rohrschneider
Geschichtswissenschaft und Science-Fiction
Eine Beziehung im Spannungsfeld von Gegenwartsrelevanz und ungenutzten Erkenntnismöglichkeiten
GWU 76, 2025, H. 11/12, S. 597 – 601
Science-Fiction ist gegenwärtig in Politik, Gesellschaft, Ökonomie, Wissenschaft und (Populär-)Kultur präsent wie kaum je zuvor. Die großen globalen Themen und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sind in so hohem Maße integrative Bestandteile von ,klassischen‘ Themenbereichen der Science-Fiction, dass die Gegenwartsrelevanz dieses Genres offen zutage tritt. Der einführende Beitrag zeigt jedoch, dass sich die Geschichtswissenschaft, gerade im deutschsprachigen Bereich, seit jeher schwer damit tut, die vielfältigen Erkenntnispotenziale der Science-Fiction auszuschöpfen.
Michael Kleu
Spartacus im Weltraum
Antike Geschichte(n) in der Science-Fiction-Literatur
GWU 76, 2025, H. 11/12, S. 602 – 618
In bemerkenswerter Regelmäßigkeit betreibt die Science-Fiction eine Rezeption der Antike, die von kleineren Anspielungen bis zu äußerst tiefgreifenden Auseinandersetzungen reichen kann. Im Beitrag werden zunächst typische Formen der Antikenrezeption in der Science-Fiction vorgestellt, um im Anschluss daran mögliche Erklärungen für dieses Phänomen zur Diskussion zu stellen. Den Abschluss bildet eine ausführliche Besprechung von Judith Vogts Roman „Roma Nova“, der eine äußerst intensive Rezeption des Römischen Reiches aufweist und daher ein hervorragendes Fallbeispiel für eine Detailanalyse darstellt.
Andrea Stieldorf
In zahlreichen Farben glänzende Siegel, Wappen, Schwerter und Co.
Vormoderne Materialität in aktuellen Space Operas
GWU 76, 2025, H. 11/12, S. 619 – 634
In der Science-Fiction tauchen Objekte auf, die aus dem Mittelalter stammen oder mittelalterlich anmuten, selbst wenn das Setting ein futuristisches ist. Am Beispiel einiger jüngerer Space Operas werden die Funktionen von Urkunden, Siegeln, Wappen und Schwertern in diesen Erzählungen untersucht. Die Autor:innen setzen Wissensbestände über diese Objekte bei den Leser:innen voraus, die nicht wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechen müssen. Dennoch nutzen die Space Operas die beglaubigenden und statusanzeigenden Funktionen dieser Objekte sowie das Wissen um ihren Einsatz unter vormodernen Kommunikationsbedingungen. Sie zeigen zugleich, dass dieses überblendet wird durch die weitere Verwendung dieser Objekte in der Moderne.
Hania Siebenpfeiffer
Extraterrestrische Welten und Zeiten
Die frühneuzeitliche Science-Fiction und ihre anthropologischen und temporalen Entwürfe
GWU 76, 2025, H. 11/12, S. 635 – 652
Der Beitrag untersucht temporale und anthropologische Entwürfe extraterrestrischer Welten in einer Periode, in der ‚Literatur‘ und ‚Wissenschaften‘ sich erst formieren. Der Fokus auf das 17. und 18. Jahrhundert macht dabei zweierlei deutlich: zum einen, dass das Genre der SF keine Erfindung der Moderne ist, sondern zeitgleich mit der Etablierung der auf Observation, Experiment und Kalkulation beruhenden nova scientia entsteht; zum anderen, dass die Erfindung extraterrestrischer Spezies mit der Temporalisierung des Alls einhergeht, die die Bewohner anderer Planeten zunächst als Vergangenheit, dann als Gegenwart und ab dem 18. Jahrhundert als Zukunft der Menschheit entwirft.
Michael Rohrschneider
Pax Terra?
Zeitgeschichtliche Potenziale der Heftromanserie „Perry Rhodan“
GWU 76, 2025, H. 11/12, S. 653 – 668
Die seit 1961 ununterbrochen wöchentlich erscheinende Heftromanserie „Perry Rhodan“ wurde von der Geschichtswissenschaft bislang kaum erforscht. Sie gilt als Spiegelbild der bundesrepublikanischen Geschichte, das in nahezu seismographischer Weise aktuelle Strömungen rezipiert und eine Projektionsfläche für politische und gesellschaftliche Gedankenexperimente bildet. Im Zentrum des Aufsatzes steht der öffentliche Diskurs über einen adäquaten Umgang der Serie mit den Themen Krieg und Gewalt sowie über den kontrovers diskutierten Stellenwert pazifistischen Gedankenguts.
Marco Dräger
Die Revolution von 1848/49 in der Erinnerungs- und Geschichtskultur
GWU 76, 2025, H. 11/12, S. 669 – 688
Nach einem knappen chronologischen Abriss der Realgeschichte von 1848 liegt der Schwerpunkt des Beitrags auf der Rezeptionsgeschichte der Revolution vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Am Beispiel der Revolutionsjubiläen wird exemplarisch der Konstruktcharakter von Geschichte sowie die geschichtskulturelle Funktionalisierung und geschichtspolitische Instrumentalisierung von Jubiläen für die jeweilige Gegenwart aufgezeigt. Der Beitrag aktualisiert somit bisherige Analysen der Jubiläen von 1848 und setzt zugleich einige neue Akzente. Er beinhaltet auch Überlegungen und Anknüpfungspunkte zum historischen Lernen im Geschichtsunterricht, in dem 1848 nach wie vor ein Standardthema ist, wobei bislang aber die Rezeptionsgeschichte weitgehend ausgeklammert geblieben ist.