Prof. Dr. Dr. Heinrich Wilhelm Schäfer

Von Oktober 2011 bis Juli 2012
Dr. theol. Dr. phil. (rer. soc.) habil., Professor für Religionssoziologie und Evangelische Theologie am Center for the Interdisciplinary Research on Religion and Society (CIRRuS)
Universität Bielefeld, Deutschland

Geboren 1955
Studium der evangelischen Theologie in Göttingen, Tübingen und Bochum



Forschungsvorhaben
Identität als Netzwerk. Ein Theorieentwurf.

Die öffentliche Rolle von religiösen Identitäten gewinnt eine immer größere Bedeutung in den Sozialwissenschaften in Reaktion auf bestimmte empirische Phänomene: fundamentalistische, pfingstkirchliche und islamistische Identitätspolitiken (Appleby, Cleary/Steigenga, Schäfer), Identitätsfestigung bei Migranten (T. Meyer), Identitätsbildung in ‚transnationalen Feldern‘ (Pries), politische Instrumentalisierung von Identitäten (Bush/Huntington) und Identitätsdiffusion in der postindustriellen Gesellschaft (Z. Baumann). Während Identitätspolitiken empirisch immer wichtiger werden, verschwimmt der theoretische Begriff von Identität. Klassische Konzepte (Erikson, Mead), welche Identität als eine mehr oder weniger geschlossene Einheit modellieren, werden ersetzt durch postmoderne Theorien multipler, hybrider oder ‚patchwork‘-Identität (Keupp, Gergen, Bhabha, Elster).
Zieht man aus diesen Befunden die Konsequenz für eine Theorie von Identität – Religiosität einschließend –, so sollte sie in der Lage sein, relative innere Einheit und relative innere Diversität von Identitäten so zur Sprache zu bringen, dass


  • die identitätskonstituierenden Zeichensysteme mit den gesellschaftlichen Reproduktionsstrukturen verbunden werden,

  • kollektive und individuelle Aspekte von Identitäten Berücksichtigung finden ebenso wie die

  • Relation zwischen Identitäten und Strategien.


Wir schlagen deshalb vor, Identität als ein Netzwerk von Dispositionen zu verstehen. Aufbauend auf Pierre Bourdieus Theorie von Habitus und praktischer Logik modellieren wir ein solches Netzwerk als bestehend aus sozialisatorisch erworbenen Dispositionen des Wahrnehmens, des Urteilens und des Handelns, die in Kognition, Affekt und Leib verankert sind und sich als Netzwerk organisieren. Solch ein Konzept – auch methodisch operationalisierbar – ermöglicht, die gleichzeitige Existenz von fragmentierten und kohärenten Strukturen zu modellieren, die die Identitäten von Akteuren konstituieren. Gleichzeitig können individuelle und kollektive Dimensionen von dispositionalen Netzwerken unterschieden werden, einfach indem unterschiedliche Netzwerke als teilweise differierend oder ‚überlappend‘ gedacht werden. Das Netzwerk-Konzept verbindet ebenso Identitäten und Strategien, da beide als in der Praxis eines Akteurs zusammenwirkend konzipiert werden können. Insofern die Dispositionen sozial hervorgebracht werden und an bestimmte Praxisfelder gebunden sind, integriert ein Netzwerk notwendigerweise auch Erfahrung und Interpretation, Aktion und Bedeutung in das Konzept von Identität als solchem – kurz, den praktischen ‚Gebrauch‘ (Wittgenstein) von Zeichen, durch den sich Identität entfaltet. Schließlich werden religiöse Identitäten nicht als separierte Entitäten aufgefasst. Sie bilden sich entsprechend zu bestimmten Dispositionen, die mit dem Bezug auf Transzendenz operieren; die aber zugleich eingewoben sind in ein weites Netzwerk nicht-religiöser Dispositionen desselben individuellen oder kollektiven Akteurs.


Ausgewählte Publikationen

Schäfer, H. W. 2008. Kampf der Fundamentalismen. Radikales Christentum, radikaler Islam und Europas Moderne. Frankfurt: Verlag der Weltreligionen (Suhrkamp). (The struggle of fundamentalisms. Radical Christianity, radical Islam and Europe’s modernity).

Schäfer, H. W. 2002. Entre dos fuegos: una historia socio-política de la Iglesia Presbiteriana en Guatemala. Guatemala / Drexel Hill: CEDEPCA / SEP / Skipjack Pr.

Schäfer, H. W. 2009. «The Pentecostal movement – social change and religious habitus» in: Bertelsmann Stiftung (ed.): What the World Believes: Analysis and Commentary on the Religion Monitor 2008. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung: pp. 533-585.

Schäfer, H. W. 2005. Identität als Netzwerk. Ein Theorieentwurf am Beispiel religiöser Bewegungen im Bürgerkrieg Guatemalas. Berliner Journal für Soziologie 15(2): 259-282. (Identity as a network. A theoretical outline exemplified on religious movements in the Guatemalan civil war).