Prof. Dr. Joep (Joseph Theodoor) Leerssen
Von Oktober 2011 bis Juli 2012
Dr., Professor für Moderne europäische Literaturgeschichte
Universiteit van Amsterdam, Niederlande
Geboren 1955 in Leiden, Niederlande
Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaften und der Anglo-Irischen Wissenschaften in Aachen, Dublin und Toronto
Forschungsvorhaben
Wissenschaftliche Netzwerke und Romantischer Nationalismus: Der Fall von Jacob Grimm
In der Entwicklung des Romantischen Nationalismus in Europa (1800-1850) spielten Gelehrte und vor allem Philologen eine wichtige Rolle. Sie entdeckten und editierten mittelalterliche Texte, die anschließend als nationale Klassiker oder gar als “Nationalepos” (Beowulf, Chanson de Roland, Nibelungenlied) kanonisiert wurden; sie entwickelten eine neue Bewertung der Volkssprachen als Teile eines indoeuropäischen Stammbaums mit Sprachfamilien, Sprachen und Dialekten; sie erforschten mündliche Literatur (Märchen, Sagen, Gedichte, Lieder) als die kollektiv-demotische Äußerung eines nationalen Geisteslebens und verbanden dies manchmal mit mythologischen Wurzeln. Dadurch bewirkten sie eine Neudefinierung des Kulturbegriffs in nationalem und proto-nationalistischem Sinne und kreierten das intellektuelle und geistige Klima, in dem Historiker und Künstler (Dichter, Maler, Bildhauer, Komponisten und sogar Architekten) eine nationale Kulturpraxis kultivieren konnten. Dieser intellektuell-kulturelle “Romantische Nationalismus” bildete seinerseits die Anlaufphase, die Inspiration und die Rechtfertigung für alle Nationalbewegungen im Europa des 19. Jahrhunderts.
Die intellektuellen Beziehungen dieser Gelehrten waren dicht und eng; sie vernetzten das damalige Europa zu einer intensiven Kommunikationsgemeinschaft, von Lissabon bis Sankt Petersburg und von Bukarest bis Reykjavík. Diese Vernetzung bietet eine Erklärung für die auffällige Gleichzeitigkeit kulturnationalistischer Initiativen und Aktivitäten in vielen recht unterschiedlichen Medien und Ländern; sie wird aber erst in den letzten Jahren ersichtlich (dank einer komparatistischen, supranationalen Forschungsperspektive) aus dem Dunkel des bislang vorherrschenden “methodologischen Nationalismus”. In meinem Forschungsprojekt will ich diese Netzwerke anhand eines besonders ausgeprägten Modellfalls studieren: die internationalen brieflichen und institutionellen Kontakte und die ideologische Position des Jacob Grimm, des wohl vielseitigsten und höchstgeschätzten Philologen seines Jahrhunderts, der von 1830 bis zu seinem berüchtigten politischen Erlass 1837 in Göttingen lehrte.
Ausgewählte Publikationen
Leerssen, J. 2004. Literary historicism: Romanticism, philologists, and the presence of the past. Modern language quarterly 65(2), pp. 221-43.
Leerssen, J. 2006. Nationalism and the cultivation of culture. Nations and nationalism 12(4), pp. 559-78.
Leerssen, J. 2008. «Philology and the European construction of national literatures» in D. Van Hulle and J. Leerssen (eds.): Editing the Nation’s Memory: Textual scholarship and nation-building in 19th-century Europe. Amsterdam: Rodopi, pp. 13-27.
Leerssen, J. 2009. «From Bökendorf to Berlin: Private Careers, Public Sphere, and how the Past Changed in Jacob Grimm’s Lifetime» in L. Jensen, J. Leerssen, & M. Mathijsen (eds.): Free Access to the Past: Romanticism, Cultural Heritage and the Nation. Leiden: Brill.
Leerssen, J. 2010. Viral Nationalism: Romantic intellectuals on the move in 19th-century Europe. Nations and nationalism 17(2), pp. 257-71.