Inklusion und Diversität aus der Perspektive der romanistischen Fachdidaktik


Wabe Romanistik

Die folgenden Ausführungen basieren auf dem Impulsvortrag von Prof. Dr. Birgit Schädlich (Romanistische Fachdidaktik) und der daran anschließenden Diskussion mit den Teilnehmenden des 5. Netzwerktreffens „Diversität in der Lehrer*innenbildung“ am 12.06.2018.


Protokollantin: Gesche Dumiak

Thematisierung von Inklusion und Diversität

In der romanistischen Fachdidaktik in Göttingen werden Diversität und Inklusion insbesondere im Hinblick auf die Dimension Mehrsprachigkeit sowie in Bezug auf Hören und Sprechen diskutiert. Im Mittelpunkt stehen dabei Reflexionen und Überlegungen zur Entwicklung und Umsetzung von Unterrichtspraktiken, die sowohl sprachliche und körperliche Voraussetzungen der Schüler*innen als auch die Qualitätskriterien von Fremdsprachenunterricht berücksichtigen. Hierbei werden Bezüge zum fachdidaktischen Diskurs hergestellt und dieser kritisch reflektiert.
In der romanistischen Fachdidaktik ist Mehrsprachigkeit eine zentrale Bezugskategorie. Ihr wird unter anderem ein Potenzial der Sensibilisierung für die Diversität der Schüler*innen zugeschrieben. Jedoch berücksichtigen die in den Fachdidaktiken diskutierten Konzepte wie beispielsweise das Konzept der „Interkomprehension“, also das Verstehen einer unbekannten Sprache aufgrund von Kenntnissen in einer anderen Sprache, die lebensweltliche Mehrsprachigkeit der Schüler*innen nicht, sondern beziehen sich überwiegend auf schulische Sprachenfolgen. Beispielweise werden bei der Vermittlung einer zweiten Fremdsprache die Kenntnisse der ersten Fremdsprache einbezogen (z. B. Latein nach Spanisch). Der Einbezug erfolgt dabei vornehmlich auf der rezeptiven und sprachreflexiven Ebene. Demnach zeigt sich, dass die Dimension der Mehrsprachigkeit unterschiedlich gefüllt werden kann und dies reflektiert werden muss. Dabei gilt es im Sinne von Diversität und Inklusion die lebensweltliche Mehrsprachigkeit der Schüler*innen in die fachdidaktischen Konzepte einzubeziehen. In Bezug auf Konzepte wie „Interkomprehension“ stellt sich aus dieser Perspektive die Frage, inwiefern diese und die hier bereits entwickelten Materialien dafür genutzt werden können. In der Fachdidaktik Französisch werden daher Fragen und Anforderungen einer „reflektierten Mehrsprachigkeit“ im Französischunterricht aufgeworfen.
Des Weiteren wird Hörbehinderung thematisiert und dabei die Rolle des Hörens und Sprechens im Kontext des Fremdsprachenunterrichts reflektiert. Unter anderem stellt sich die Frage, welche Maßnahmen Schüler*innen mit Hörbeeinträchtigung die Teilhabe am Unterricht ermöglichen könnten. Hierzu vorliegende Vorschläge (wie beispielsweise der Einsatz von Mikrofonen und Lautsprechern) sind dabei ein wichtiger Beitrag, können aber viele für den (Fremdsprachen-)Unterricht typische Szenarien nicht abdecken, sodass sich die Frage stellt, inwieweit Gütekriterien kommunikativen Fremdsprachenunterrichts auch über solche technischen Hilfen hinaus reflektiert und erfüllt werden können. Insbesondere ist im Kontext des Hörens auch die Bedeutung des Sprechens im Fremdsprachenunterricht mit zu bedenken: So kann das Sprechen einer Lerner*innensprache wie Französisch oder Spanisch besonders vor dem Hintergrund der schulischen Leistungsorientierung mit Scham- oder Angstgefühlen besetzt sein.

Curriculare Verankerung von Inklusion und Diversität

Im interdisziplinären Lehrforschungsprojekt „Mehrsprachige Kompetenzen erforschen und ausbilden“ stehen die Beobachtung von Französischunterricht und die Frage, wie Mehrsprachigkeit interaktiv modelliert wird, im Mittelpunkt. Dabei geht es primär um die Entwicklung und Reflexion verschiedener Handlungsoptionen in Bezug auf den Einbezug verschiedener sprachlicher Voraussetzungen von Schüler*innen in die Unterrichtsplanung und -durchführung (weniger um Materialentwicklung, die zwar einen wichtigen Schritt darstellt, aber in der Folge vor allem Anlass zur Reflexion der Arbeit mit dem Material ist).
Das interdisziplinäre Lehrforschungsprojekt kann im Master of Education in der Romanistik mit den Seminaren "Grundlagen der Unterrichtsplanung" (Modul 304.1) und "Vorbereitung auf das vierwöchige Forschungspraktikum im Fach Französisch" (Modul 304.2) angerechnet werden.
Das interdisziplinäre Lehrforschungsprojekt ist eine Kooperation mit der Professur für Interkulturalität und Mehrsprachigkeit und kann ebenfalls im Rahmen der Zusatzqualifikation Interkulturalität und Mehrsprachigkeit/Deutsch als Fremd- und Zweitsprache belegt werden.

Diskussionspunkte und offene Fragen

Fragen zum Umgang mit Diversität im (Fremdsprachen-)Unterricht

  • Individualisierung als Markierung von Behinderung?

    Wie geht man damit um, dass man einerseits durch Individualisierung eine Behinderung berücksichtigen will, andererseits dadurch eine Behinderung markiert? Ein Vorschlag wäre hier, den Schüler*innen im Sinne von Binnendifferenzierung Wahlmöglichkeiten zu geben. Indem man die Zuordnung zu einem bestimmten Zugang dem*der Schüler*in selbst überlässt, könnte die Markierung vermieden oder reduziert werden. Geht man von einer heterogenen Lerngruppe aus, ist die Hörbehinderung eine von vielen Lernvoraussetzungen, die sich gegenüber anderen Voraussetzungen als solche möglicherweise nicht hervorhebt. Dennoch erscheint es wichtig, über die Voraussetzung Bescheid zu wissen, um angemessen darauf reagieren zu können.


  • Diversität und Leistung

    Individualisierung und Binnendifferenzierung stehen in einem Spannungsverhältnis zum gemeinsamen Lernen in der Gruppe. Fragen hierbei sind u. a.: Welche Konsequenzen könnte Binnendifferenzierung haben? Welche unterschiedlichen Produkte gibt es am Ende? Welche Konsequenzen hat das für die Notengebung? Und was bedeutet schlussendlich Diversität für das Anerkennen von individuellen Stärken und Schwächen für die Leistungsbewertung?


  • Normorientierung - Individuelle oder übergeordnete Normen?

    In der Literatur der romanistischen Fachdidaktik wird die Lernzieldifferenzierung zwar viel bearbeitet, dies schlägt sich jedoch nicht immer in der Lehrpraxis nieder. Im Französischunterricht ist die Normorientierung sehr stark bei einer gleichzeitig großen Leistungsheterogenität. Dadurch drängt sich die Frage nach Normorientierungen in verschiedener Hinsicht auf: Normen des Sprachgebrauchs und kommunikativer Praktiken (z. B. Fokussierung auf und Förderungen von Lesen und Schreiben bei Beeinträchtigungen des Hörvermögens) sowie auch sprachliche Normen im Sinne der Frage, „welches“ Französisch Referenzpunkt von Französischunterricht sein soll. Hier scheint gerade das Fach Französisch gegenüber anderen Fremdsprachen eine (sprachhistorisch und –politisch) bedingte Normorientierung zu praktizieren, die mit Ansprüchen von Diversität und Inklusion auch kollidieren kann. Würde dies dann im Sinne von Diversität bedeuten, keine übergeordnete Norm, sondern individuelle Normen zu setzen? Inwiefern sollte eine gemeinsame sprachliche Norm am Ende durchgesetzt werden?



Diskussionspunkte im Kontext der romanistischen Fachdidaktik

  • Thematisierungen und Nicht-Thematisierungen in der romanistischen Fremdsprachendidaktik

    In der romanistischen Fremdsprachendidaktik wird häufig auf Mehrsprachigkeit als Ansatzpunkt für die Besprechung von Diversität und Inklusion zurückgegriffen. Dabei wird auf einen weiten Inklusionsbegriff rekurriert und „Altbewährtes“ herangezogen, beispielsweise in der Nutzung der Mehrsprachigkeitsdidaktik und interkomprehensiven Konzepten als Ansatz, auf sprachliche Heterogenität zu reagieren. Spezifische „Behinderungen“ (dies sollte am Beispiel Hörbeeinträchtigung deutlich werden) werden kaum eingehend reflektiert. Die Frage nach der Reifikation von Kategorien bspw. wird in diesem Zusammenhang nicht diskutiert.



Vorstellungen über Sprache(n) und (Fremdsprachen-)Unterricht

  • Was ist Sprache, was ist (Fremdsprachen-)Unterricht?

    Als ein Ursprung der Beobachtung, dass im (Fremdsprachen-)Unterricht zwar Sprache thematisiert und gelernt wird, dazu allerdings selten die sprachliche Heterogenität der Schüler*innen selbst aufgegriffen wird, kann in den Vorstellungen von Sprache und Sprachunterricht vermutet werden. In der Vermittlungssituation wird ein bestimmtes Verständnis von „Sprache“ modelliert, das losgelöst ist von der lebensweltlichen Sprachlichkeit der Schüler*innen. Dies betrifft auch Vorstellungen über mehrsprachige Kompetenzen. Wie könnte eine Kompetenz aussehen, die sich auf Mehrsprachigkeit bezieht? Welche Rolle könnten z. B. die Interkomprehension oder diskursive Kompetenzen dabei spielen? Was ist das Spezifische an der „mehrsprachigen Kompetenz“ und welche Rolle spielen dabei Varietäten und unterschiedliche „lerner*innensprachliche“ Konstrukte? Ein einflussreiches Instrument für die Beurteilung einzelsprachlicher Kompetenzen ist der GER (Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Sprachen), der Sprachkompetenzen in Skalen beschreibt. Zwar wird hier auch eine mehrsprachige und mehrkulturelle Kompetenz definiert, diese wird jedoch kaum rezipiert. Auch die neuen Ergänzungen zum GER von 2018 („companion volume“) sehen einerseits ein durchaus als inklusiv verstandenes Mehrsprachigkeitsverständnis vor, halten aber gleichzeitig an der ‚alten’ Logik der Skalierung sprachlicher Kompetenzen fest, was kritisch hinterfragt wird.


  • Vorstellungen über Sprachen und „Sprachbegabungen“ nehmen Einfluss auf Bildungschancen

    Warum eine Sprache in der Schule als „zweite Fremdsprache“ angewählt wird, hat ebenfalls mit Vorstellungen über die zur Wahl stehenden Sprachen zu tun. Diese werden unter anderem dadurch beeinflusst, wie die Sprachen im Fremdsprachenunterricht konstruiert werden. Ob eine Sprache als leicht oder schwer wahrgenommen wird, kann beispielsweise durch eine stärkere oder schwächere Normorientierung beeinflusst werden. Es werden auch bestimmte existierende Bilder von Sprachen dabei reifiziert – bestimmte Sprachen werden beispielsweise mit Bildungsgängen verbunden (z. B. Latein und bestimmte Studienfächer). Die Frage der zweiten Fremdsprache ist allerdings auch mit der Frage nach Bildungschancen verbunden, da sie für höhere Bildungsabschlüsse vorausgesetzt wird. Häufig wird in Integrierten Gesamtschulen (in Niedersachsen) in der 6. Klasse entschieden, ob ein*e Schüler*in eine zweite Fremdsprache belegt oder nicht. Entschieden wird hier vor allem nach der erwarteten Leistungsfähigkeit des Kindes insgesamt und im Bereich des Sprachenlernens („Sprachbegabung“) im Besonderen.



„Authentizität“ im Fremdsprachenunterricht

  • Zielsetzung des Erlernens „authentischer Sprache“ bzw. Alltagssprache: Was bedeutet „Authentizität“ (z. B. von Hörtexten oder Material)

    Für Menschen mit Hörbeeinträchtigung ist die Integration von Hören und Lesen beispielsweise authentisch, da sie in vielen Situationen (z. B. beim Schauen von Filmen, Recherchieren von Liedtexten) auf die Schriftsprache zurückgreifen. Die im Fremdsprachenunterricht konstruierte Isolierung des Hörens auf das Verstehen eines reinen Hörtextes erscheint also wenig authentisch, weil es komplexe Kommunikationsprozesse und -situationen, die sich beispielsweise durch eine Kombination verschiedener Fertigkeiten auszeichnen (z. B. Hör-Seh-Verstehen), stark verkürzt. Authentizität ist also je nach Stärken oder Schwächen einzelner Schüler*innen ein relativer Begriff, sodass Orientierungen an Desideraten der kommunikativen Didaktik (z. B. Stärkung mündlicher Kommunikation – Hören und Sprechen) vor diesem Hintergrund kontextualisiert und reflektiert werden sollte.