Sind wir Bürger zweier Welten? Freiheit und moralische Verantwortung im transzendentalen Idealismus (10. - 13. März 2011)
Der Workshop wurde initiiert von Prof. Dr. Bernd Ludwig, Dr. Mario Brandhorst und Dr. Andree Hahmann (Philosophisches Seminar, Universität Göttingen) und fand unter Mitwirkung von Dr. Susanne Brauer (Institut für Biomedizinische Ethik, Universität Zürich und Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin, Schweiz, Fellow Lichtenberg-Kolleg 2010/11) vom 10. bis 13. März 2011 am Lichtenberg-Kolleg statt. Wir danken der Fritz Thyssen Stiftung für ihre Unterstützung.
Inhalte des Workshops
Es ist zu einem Gemeinplatz geworden, dass Kant das Problem der Willensfreiheit mit seiner „idealistischen Metaphysik“ eher verunklärt als erhellt und einer plausiblen Lösung zugeführt habe. Soweit diese Metaphysik überhaupt nachvollziehbar ist, wirft sie tatsächlich die Frage auf, ob sie das leistet, was sie zu leisten verspricht, und wie sie die Freiheit des Willens begründet. Sie ist zweifellos eine radikale und originelle Reaktion auf das Problem der Freiheit des Willens.
Ihre Originalität zeigt sich nicht zuletzt in der Schwierigkeit, Kant eine der heute üblichen philosophischen Sichtweisen zuzuordnen. Mithilfe der Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung behauptet Kant im Ergebnis die Vereinbarkeit von Naturnotwendigkeit und Freiheit. Anders als viele Verteidiger menschlicher Freiheit gibt Kant den Gedanken der Naturnotwendigkeit menschlichen Handelns also nicht preis. Zugleich hält er an einem Verständnis von Freiheit fest, demzufolge Freiheit absolute „Spontaneität“ verlangt und deshalb nicht Teil des Naturnotwendigen sein kann. Weil es eine solche „Spontaneität“ Kant zufolge in der Naturordnung nicht geben kann, ist die Freiheit, die moralische Zurechenbarkeit ermöglicht, auch keine Freiheit, die sich in die Naturordnung einfügt.
Wie Kant meint, ist Freiheit als absolute Spontaneität dennoch möglich und sogar wirklich. Ihr Ursprung liegt aber nicht in der Welt der „Erscheinung“, sondern in der Welt der „Dinge an sich“. Die Lösung des Dilemmas sucht Kant dementsprechend mittels einer Metaphysik. Seine Antwort verweist mit der Unterscheidung von „Ding an sich“ und „Erscheinung“ auf zwei verschiedene „Welten“, bzw. zwei entsprechende „Standpunkte“, von denen aus unser Handeln beschrieben werden kann. Darin liegt ihre Radikalität.
Die Vereinbarkeit von Naturnotwendigkeit und Freiheit im Sinn von absoluter Spontaneität wird in der Auflösung der dritten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft behauptet und durch den transzendentalen Idealismus begründet. Frei sind wir demzufolge, weil wir uns nicht nur als Erscheinungen, sondern auch als Dinge an sich denken können (bzw. müssen) und als Dinge an sich keiner Naturnotwendigkeit unterliegen. Als Erscheinung ist unser Handeln dagegen ein Teil der Natur und als solcher auch naturnotwendig. Der Bereich des Naturnotwendigen bleibt so auf die Welt der Erscheinung beschränkt, was Freiheit und Naturnotwendigkeit derselben Handlung ermöglicht.
Wie wichtig Kant dieses Ergebnis seiner Kritik war, wurde von ihm wiederholt unterstrichen und in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft sogar zum eigentlichen Ziel des kritischen Projekts erhoben. Doch obwohl die kantische Philosophie sich einer verbreiteten Anerkennung erfreut, sind die wenigsten bereit, den vermeintlich radikalen Schritt in eine Welt der Dinge an sich mitzugehen. So wird - von einzelnen Versuchen einmal abgesehen - der kantische Lösungsweg in der aktuellen Debatte über Willensfreiheit nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Das hat verschiedene Gründe, die sich zum Teil aus einer philosophischen Neigung zum Naturalismus und zum Teil aus einem veränderten Verständnis von Freiheit ergeben, aber vor allem in einer grundsätzlichen Skepsis im Hinblick auf ehrgeizige metaphysische Theorien zu finden sein dürften.
Dessen ungeachtet wird das Problem der Willensfreiheit, das Kant mit der Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung zu lösen versuchte, mit unverminderter Intensität diskutiert, und wie man mit Kant sagen kann, ist eine Lösung auf dem „Kampfplatz dieser endlosen Streitigkeiten“ (KrV, A VIII) nicht in Sicht. Auch wenn es in der aktuellen Debatte den Anschein hat, als habe der Kompatibilismus, der seinerseits in sehr verschiedenen Formen vertreten wird, gegenüber inkompatibilistischen oder libertarianischen Positionen die Oberhand gewonnen, ist dieser mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert. Was dem Vertreter des Kompatibilismus eine argumentative Bringschuld auferlegt, ist der Gedanke, dass moralische Verantwortung eine Art von Freiheit und Zurechenbarkeit voraussetzt, welche echte Urheberschaft durch das Subjekt und in einem kausalen Sinn offene Wahlmöglichkeiten einschließt und so zwangsläufig über jede mit dem Determinismus vereinbare Freiheit hinausgeht.
Andererseits stellt sich die Frage, wie sich die Forderung nach einer solchen Urheberschaft und offenen Wahlmöglichkeiten überhaupt einlösen ließe. Zum einen kann ein bloßes indeterminiertes Geschehen nicht die Freiheit von Handelnden sein. Tatsächlich erscheint es sogar als schwierig, eine Handlung, die nicht ihre Ursache im Überlegen und Wollen des Handelnden hat, mit Recht diesem Handelnden als seine freie Tat zuzuschreiben und ihn für sie verantwortlich zu machen. Zum andern spricht unabhängig von der Frage der Freiheit vieles dafür, dass das menschliche Wollen und Handeln ebenso bedingt ist wie jedes andere Naturgeschehen auch. Es ist deshalb auch schwer zu begründen, warum ausgerechnet der Raum der menschlichen Freiheit von Verursachung und der entsprechenden Form der Erklärbarkeit ausgenommen sein sollte.
Kants Auflösung der dritten Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft sollte diese Probleme mithilfe der Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung lösen: Die Unterscheidung gewährleistet in der kantischen Konzeption einerseits die kausale und damit explanatorische Lückenlosigkeit der Ereignisse in der Erscheinungswelt, was das menschliche Denken und Handeln in der Erscheinung ausdrücklich einschließt. Andererseits ermöglicht sie es, ein und dasselbe kausale Geschehen als freies und zurechenbares Handeln zu beschreiben, insofern dieses Geschehen eine Wirkung der transzendentalen Freiheit des Handelnden, als Ding an sich selbst betrachtet, darstellt. Kants Konzeption steht damit quer zur modernen Unterscheidung von Kompatibilismus und Inkompatibilismus, die Kant also nicht als die einzigen, einander ausschließenden Alternativen versteht.
Allerdings wirft die kantische Lösung schwierige Fragen sowohl exegetischer als auch systematischer Natur auf:
Die Frage der Interpretation. Was genau hat Kant mit der Unterscheidung im Sinn, und wie soll sie die Möglichkeit transzendentaler Freiheit sichern? Hier gibt es eine Vielzahl miteinander unvereinbarer Lesarten. Kann der transzendentale Idealismus und mit ihm die Auflösung der dritten Antinomie so gedeutet werden, dass beide das leisten, was Kant sich von ihnen verspricht?
Die Frage der Angemessenheit. Angenommen, der transzendentale Idealismus werde in einer der kantischen nahestehenden Lesart akzeptiert. Vermag diese Theorie das Problem wirklich zu lösen, oder scheitert sie an den Einwänden, die auch andere indeterministische Freiheitstheorien treffen? Verstrickt sich Kants Theorie vielleicht in noch größere Schwierigkeiten als diese?
Die Frage der Begründung. Wie wäre, wenn es sich um eine aussichtsreiche Lösung handelt, für die Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung zu argumentieren? Welchen Grund haben wir, den transzendentalen Idealismus für wahr oder auch nur für erwägenswert zu halten?
Die Frage der Voraussetzungen. Ist es überhaupt gerechtfertigt, Freiheit und Naturnotwendigkeit begrifflich einander entgegenzusetzen? In welchem Sinn setzen Verantwortung und Zurechenbarkeit Wahlmöglichkeiten voraus? Kant selbst argumentiert vor dem Hintergrund einer Tradition, die Freiheit als absolute Spontaneität deutet, doch bleibt die Rechtfertigung dieses Freiheitsbegriffes selbst recht unklar.
Die Frage der Alternativen. Wenn das kantische Projekt fehlschlägt oder unglaubwürdig bleibt, stellt sich die Frage, was wir statt dessen über Freiheit und Zurechenbarkeit sagen sollen. Kann es eine kompatibilistische Lösung geben? Gibt es eine von Kants Metaphysik unabhängige indeterministische Alternative, oder bleibt nur der „harte Determinismus“ oder „Pessimismus“, der die Idee von Freiheit und moralischer Verantwortung grundsätzlich zurückweist? Welche Konsequenzen hätte das Scheitern für Kants praktische Philosophie?
Die Frage der Orientierung. Kann man eine alternative Auffassung von Freiheit entwickeln, die wesentliche Einsichten Kants aufnimmt und transformiert? Was bleibt von der Metaphysik des transzendentalen Idealismus? Welche Einsichten Kants bleiben gültig und geben uns weiterhin Orientierung?