Wirtschaftspolitisches Forum

Unter falschen Bedingungen



Axel Dreher, Frankfurter Allgemeine Zeitung, S. 13, 15. April 2006


Ein Grundproblem des Internationalen Währungsfonds (IWF) ist, daß er seine Kredite an Bedingungen knüpft, deren Nutzen nicht klar ist. Wenn die Reformkonzepte des IWF denen der nationalen Politiker entsprechen, bedarf es keiner Bedingungen. Unterscheiden sie sich aber, werden die Politiker Wege finden, die Auflagen zu umgehen. Das gilt besonders dann, wenn die Auflagen zahlreich und schwer überprüfbar sind. Weniger wäre daher mehr. Zahlreiche Bedingungen sichern den IWF-Bürokraten allerdings einen maximalen Entscheidungsspielraum. Sie können so die Politik in den Programm-Vereinbarungen festschreiben, die sie für richtig halten. Ihre Macht und ihr Prestige steigen. Folglich haben sich die Zahl und der Umfang der Kredit-Bedingungen seit der Gründung des Fonds vor mehr als 50 Jahren auch erheblich ausgeweitet. Während die Kreditnehmer ursprünglich einige wenige makroökonomische Zusagen machen mußten, greifen die Reform-Programme heute in nahezu jeden Politik-Bereich ein. Ein Abkommen mit der Ukraine vom August 1998 sieht beispielsweise mehr als 80 Reformen vor. Sie beziehen sich unter anderem auf die Staatsverwaltung, die Privatisierung von Unternehmen, die Höhe einzelner Steuersätze, den Sozialbereich und eine Landreform. In einigen Ländern führen die detaillierten IWF-Auflagen dazu, daß der Währungsfonds quasi den Finanz- und Wirtschaftsminister ersetzt.


Dabei ist das Prinzip der Konditionalität umstritten. Die Wirtschaftspolitik eines Landes ist Sache seiner Regierung, besonders wenn sie demokratisch legitimiert ist. Dem IWF fehlt die demokratische Legitimität. Seine Auflagenpolitik war in der Vergangenheit zudem keine Erfolgsgeschichte. Die Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen zeigen, daß ungefähr 40 Prozent der IWF-Programme während der Laufzeit abgebrochen werden. Genauso hoch ist der Anteil der vereinbarten Bedingungen, die die Kreditnehmer nicht umsetzen. Der Anteil der Programme, bei denen der IWF einen erheblichen Teil der vereinbarten Kreditsumme nicht auszahlt, liegt sogar bei fast 50 Prozent. Der tatsächliche Grad an Konformität mit einem vorgeschriebenen Reformprogramm wird eher noch niedriger sein. Auch das ausführlichste Programm kann nicht alle denkbaren Schritte festlegen, so daß der Regierung Wege bleiben, die Bedingungen zu umgehen. Dadurch kann die Politik noch schlechter sein, als sie es ohne die Vorgaben wäre. Beispielsweise fordert der IWF oft den Abbau von Schutzzöllen für bestimmte Branchen. Will die Regierung die geschützte Branche trotzdem weiter alimentieren, wird sie andere – meist teurere – Möglichkeiten finden.


Aber auch wenn eine Bedingung eingehalten wird, ist das nicht notwendigerweise ein Erfolg des Programms. Schließlich wissen auch die IWF-Mitarbeiter, daß sie an der Einhaltung der gestellten Bedingungen gemessen werden. Sie haben daher Anreize, viele leicht erfüllbare oder sogar bereits erfüllte Bedingungen zu stellen. Die Empfänger-Regierung hat ebenfalls den Anreiz, sich strategisch zu verhalten. Indem sie zu Beginn der Verhandlungen eine reformfeindliche Haltung zeigt, kann sie dem Währungsfonds in der Folge leicht Zugeständnisse machen. Sogar wenn sie die dann festgeschriebenen Bedingungen umsetzt, kann das kaum als Erfolg gelten – die Reformen wären ohnehin eingeführt worden.


Um die Auflagenpolitik des IWF trotz des geringen Grades an konformem Verhalten als erfolgreich bewerten zu können, müßten zumindest die eingehaltenen Bedingungen meßbare Änderungen in der Wirtschaftspolitik bewirken. Empirische Studien zeigen hingegen, daß der IWF durchschnittlich keine grundlegenden Reformen in der Wirtschaftspolitik seiner Programmländer auslöst. Immerhin sind die Fiskal- und die Geldpolitik während der Programmlaufzeit weniger expansiv. Die Währungsreserven steigen durchschnittlich an und das Leistungsbilanzdefizit wird kleiner. Ein Beleg für einen Erfolg der Auflagenpolitik ist das freilich noch nicht. Die Währungsreserven steigen schon deshalb, weil der IWF seine Kredite in gängigen international akzeptierten Währungen auszahlt. Und die Verbesserung der Leistungsbilanz ergibt sich in einer Krise ganz automatisch – weil die Währungsreserven für weitere Importe fehlen. Was die Geld- und Fiskalpolitik angeht, zeigen die wissenschaftlichen Studien, daß der Währungsfonds die Politik der Kreditnehmer während der Programmlaufzeit zwar verbessert – sie zeigen allerdings auch, daß die Umsetzung der Auflagen selbst keinen Einfluß hat. Genauso wenig wirkt sich die Zahl der Bedingungen auf die Wirtschaftspolitik aus. Die Ökonomin Ayse Evrensel berichtet darüber hinaus, daß sich die positive Entwicklung der Leistungsbilanz und der internationalen Reserven in den Jahren nach dem IWF-Programm durchschnittlich wieder umkehrt. Auch die privaten Kreditgeber scheinen nicht mit einem nachhaltigen Einfluß des Währungsfonds auf die Wirtschaftspolitik zu rechnen. Neueren Forschungsergebnissen zufolge erhöhen die IWF-Programme im Durchschnitt das private Kreditvolumen nicht – und das unabhängig davon, ob die Bedingungen eingehalten werden.


Noch wichtiger als der Einfluß des Fonds auf die Politik und die Kreditgeber ist letztlich die Auswirkung auf die Lebensqualität in den Empfängerländern. Erhöhen die Auflagen das Wirtschaftswachstum in den Programm-Ländern? Ist die Armut weniger verbreitet? Die meisten jüngeren Studien verneinen diese Fragen. Ganz im Gegenteil. Sie zeigen, daß die IWF-Programme insgesamt sogar zu einem geringeren Wirtschaftswachstum führen. Wenn ein größerer Teil der Bedingungen umgesetzt wird, fällt der Rückgang zwar geringer aus – ohne den IWF erginge es dem Land jedoch besser. Weder die Armut noch die Ungleichheit in den Krisenländern sind durch den IWF kleiner geworden.


Trotz ihrer Erfolglosigkeit werden die Kreditbedingungen in der wissenschaftlichen Literatur aber auch verteidigt. Ihre Befürworter stellen beispielsweise heraus, die Auflagen könnten einer Regierung helfen, sich an eine bestimmte Wirtschaftspolitik zu binden. Die Politiker würden so ein Reform-Programm glaubwürdig machen, ohne das ihr Land vielleicht keine privaten Kredite bekäme. Die Bindung an ein Programm könnte dann besonders wichtig sein, wenn sich in einer Regierung Reformer und Blockierer gegenüberstehen. Indem sich die Reformer an die Bedingungen binden, graben sie den Blockierern das Wasser ab; denn würden die Auflagen nicht eingehalten, müßte das Land auf die billigen IWF-Kredite verzichten. In diesem Fall wären die Regierungen nicht das hilflose Opfer des Währungsfonds als das sie so gerne gesehen werden. Vielmehr würden Teile der Regierung den Währungsfonds als Sündenbock mißbrauchen.


Der IWF selbst begründet seine Auflagen hauptsächlich mit der Notwendigkeit, die Rückzahlung der Kredite sicherzustellen. Die Auflagen sollen die Empfängerländer dazu bringen, ihre Wirtschaftspolitik zu verbessern. Dadurch wäre nicht nur der Schuldendienst gewährleistet – eine erfolgreiche Politik würde auch vor künftigen Krisen schützen. Der IWF könnte die Regierung mit Hilfe seiner Kredite und Auflagen sogar dazu bewegen, eventuelle negative Einflüsse ihrer Politik auf andere Länder zu berücksichtigen. Vielleicht verfügt der IWF auch einfach über Informationen, die die Kreditnehmer-Länder nicht haben. Vielleicht sind die IWF-Ökonomen besser ausgebildet als die Politik-Berater in den Empfänger-Ländern. Wenn der IWF dann seine Vorstellungen durchsetzen kann, würde das die Politik verbessern. Wird allerdings zugestanden, daß die für den Ernstfall bereitstehenden IWF-Kredite sich gegenteilig auswirken, indem sie als Hilfe-Versprechen zu einer unvorsichtigen Wirtschaftspolitik verleiten, könnten die an die Kreditvergabe gebundene Bedingungen dieses Problem des sogenannten „Moral Hazard“ reduzieren.



Keiner dieser Gründe hält einer eingehenden Überprüfung stand. Es ist nicht die Aufgabe des Währungsfonds, das politische Gleichgewicht eines Landes zu verändern. Die richtigen Rezepte zur Bekämpfung einer Krise oder beim Kampf gegen die Armut sind auch unter Wissenschaftlern umstritten. Schließlich regeln die IWF-Programme nicht nur die grobe Ausrichtung der Politik eines Landes – sie greifen detailliert in das Leben seiner Bürger ein. Werden die falschen Rezepte umgesetzt, sind es die Bürger, die mit den Folgen leben müssen. Wäre die Sorge um den fälligen Schuldendienst der wirkliche Grund für die Auflagen, müßte jede einzelne Bedingung daraufhin überprüft werden, ob die Rückzahlung durch sie wahrscheinlicher wird. Tatsächlich werden die Kredite des Währungsfonds jedoch in den allermeisten Fällen getilgt – und das unabhängig davon, ob die Bedingungen erfüllt worden sind. Auch die Wahrscheinlichkeit künftiger Krisen scheint durch die IWF-Programme nicht zu sinken. Im Gegenteil. Viele Länder waren in der Vergangenheit fast ständig am Tropf des Währungsfonds: Fast 70 Länder hingen mehr als 20 Jahre von seinen Krediten ab. Ayse Evrensel hat zudem gezeigt, daß die Wirtschaftspolitik der Kreditnehmer nach einem Programm durchschnittlich schlechter ist als zuvor – und daß sie sich mit jedem zusätzlichen Programm weiter verschlechtert. Mit jedem IWF-Programm steigt deshalb die Wahrscheinlichkeit, daß künftig wieder Hilfe benötigt wird. Was eine mögliche Ansteckungsgefahr für andere Länder angeht, ist eine harte Auflagenpolitik eher schädlich als nützlich. Regierungen, die diese Bedingungen fürchten, wenden sich zu spät an den Fonds und schieben notwendige Anpassungsmaßnahmen weiter auf. Das gilt sogar dann, wenn die Regierung gar nicht beabsichtigt, die Bedingungen tatsächlich umzusetzen, denn die bloße Vereinbarung eines harten Programms kann hohe innenpolitische Kosten verursachen. Wenn der IWF tatsächlich bessere Informationen hätte, bräuchte er sie nur bekannt zu geben. Kreditbedingungen wären nicht nötig, denn wie die Informationen des Fonds zu bewerten sind, könnte jede Regierung selbst entscheiden. Die im Vergleich zu nationalen oder privaten Institutionen großen Prognosefehler des Währungsfonds lassen zudem Zweifel an seinem Informationsvorsprung aufkommen. Die meisten Regierungen werden ohnehin von Ökonomen beraten, die an einer westlichen Universität studiert haben. Und um der Gefahr des „Moral Hazard“ zu begegnen, ist die derzeitige Auflagenpolitik gänzlich ungeeignet. Die Bedingungen beziehen sich auf die Zukunft. Um die Politik, die zu Krisen führt, wirksam zu korrigieren, müßten sie für die Vergangenheit gelten – sie dürfen nicht erst festgelegt werden, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Wenn eine Regierung darauf hoffen kann, im Ernstfall mit etwas Verhandlungsgeschick ohne harte Auflagen davonzukommen, wird sie weniger vorsichtig sein, als wenn sie von vornherein eine solide Wirtschaftspolitik befolgen muß.


Der Mißerfolg der IWF-Bedingungen ist leicht zu erklären: Die meisten Wirtschaftskrisen gehen auf eine schlechte Politik zurück. Ohne Hilfe aus dem Ausland bliebe der Regierung in der Krise gar nichts anderes übrig, als die Politik zu ändern und Reformen einzuleiten. Die IWF-Kredite lindern die Not. Sie lindern folglich auch den Druck auf die Regierung, Reformen voran zu treiben. Bedingungen sind deshalb wichtig, denn andernfalls bliebe alles beim alten. Die Erfahrungen mit der bisherigen Auflagenpolitik offenbaren allerdings ein grundsätzliches Problem: Wenn die Kreditnehmer die IWF-Rezepte nicht akzeptieren, lassen sich die vereinbarten Bedingungen entweder nicht durchsetzen oder sie werden nach dem Ende der Kreditvereinbarung wieder rückgängig gemacht. Sogar nach einem offensichtlichen Wortbruch handelt der Währungsfonds meist neue Bedingungen aus und vergibt weitere Kredite. Das Einfrieren der Kredit-Linien ist nicht im Interesse seiner Mitarbeiter, denn deren Budget würde langfristig schrumpfen, wenn sie es nicht ausschöpften. Der Anreiz der Regierung, ihr Wort zu halten, wird dadurch noch geschmälert. Der Kredit-Vertrag ist so nicht glaubwürdig – doch mit seiner Glaubwürdigkeit steht und fällt die Wirksamkeit der Auflagen. Die Bindung der Regierung an ein Reform-Programm kann die privaten Kreditgeber nur überzeugen, wenn sie mit der Umsetzung der Reformen rechnen. Als Sündenbock kann der Währungsfonds nur dienen, wenn der Kreditnehmer bei Verstößen gegen die Bedingungen mit einem Ausschluß von den Krediten rechnen muß. Den Schuldendienst können die Bedingungen allenfalls gewährleisten, wenn sie eingehalten werden. Nur dann wird auch die Gefahr weiterer Krisen kleiner. Keine dieser Voraussetzungen ist in der Praxis erfüllt. In ihrer gegenwärtigen Form ist die Auflagenpolitik daher gescheitert. Sie muß grundlegend reformiert werden. Statt die Bedingungen erst festzulegen, wenn eine Krise bereits ausgebrochen ist, sollten sich die Auflagen auf die Zeit vor der Krise beziehen. Nur die Länder, die bestimmte Voraussetzungen erfüllt haben, würden überhaupt Kredite bekommen. Die Bedingungen könnten eine maximal erlaubte Defizitgrenze und ein Limit für die Geldmengenexpansion beinhalten. Der IWF-Kritiker Allan Meltzer von der Carnegie Mellon Universität schlägt zudem Bedingungen vor, die das Funktionieren des Bankensystems, den freien Marktzugang für ausländische Finanzinstitute und die zeitnahe Bereitstellung von Informationen über die Staatsfinanzen gewährleisten. Auch sollten nach Meltzer nur solche Länder IWF-Kredite bekommen, die den Wechselkurs ihrer Währung vom Markt bestimmen lassen. Der IWF müßte alle Länder anhand dieser Kriterien bewerten und zu jedem Zeitpunkt öffentlich machen, welche Länder im Krisenfall kreditberechtigt wären. Nur so kann das negative Signal vermieden werden, daß ein Land mit seiner Bewerbung um einen Listenplatz senden würde.


Diese ex ante geltende Konditionalität würde die Häufigkeit der Wirtschafts- und Währungskrisen beträchtlich reduzieren. Tritt eine Krise aber trotzdem ein – so der Einwand ihrer Kritiker – garantieren die Bedingungen nicht, daß die Krise wirksam bekämpft wird. Dieser Einwand trifft zweifellos zu. Er gilt allerdings genauso für die herkömmlichen Bedingungen. Einer entsprechenden Reform der Auflagen-Politik sollte deshalb nichts im Wege stehen. Tatsächlich ist sie aber weder im Interesse der IWF-Bürokraten, noch im Sinne der wichtigsten Anteilseigner des Währungsfonds. Auch der Einfluß der privaten Kreditgeber auf den Fonds steht einer Reform entgegen. Die Banken haben ein eigenes Interesse an Bedingungen, beispielsweise um den freien Marktzugang zu den Kredit-Ländern zu erzwingen. Genauso sichert die Willkür fallweiser Ex-post-Auflagen den Anteilseignern des Fonds ihren Einfluß auf die Kreditnehmer. Daß seine größten Anteilseigner – besonders die USA – den Währungsfonds kontrollieren, wird kaum noch bestritten. Der IWF stellt Bedingungen, die diese Länder in bilateralen Verträgen nicht hätten durchsetzen können. Empirische Studien zeigen, daß die G7-Länder mit den IWF-Programmen politische Gegner bestrafen und befreundete Regime belohnen. Meine eigene Studie mit dem Politologen Nate Jensen von der Universität Washington zeigt, daß politisch weniger einflußreiche Länder schärfere Bedingungen akzeptieren müssen. Andere Forschungsarbeiten berichten von einem positiven Zusammenhang zwischen der politischen Nähe zu den USA und der Kredithöhe. Sogar der Einfluß privater Banken auf die Zahl der Auflagen läßt sich nachweisen.


Eine grundlegende Abkehr von fallweisen Auflagen würde die Wirtschaftspolitik der Kreditnehmer verbessern. Da diese Reform aber nicht im Interessen derer ist, die über sie zu entscheiden haben, wurde ein anderer Weg eingeschlagen. Die Anteilseigner und die Führung des Währungsfonds haben darauf gedrängt, Bedingungen nur noch dann zu stellen, wenn sie für die Programmziele von zentraler Bedeutung sind. Im September 2002 wurden die Richtlinien der Konditionalität entsprechend geändert. Genützt hat das nicht viel. Die Zahl der Auflagen ist in den Programmen mit den ärmsten Ländern durchschnittlich nur geringfügig kleiner als vor der Änderung. In den anderen Programmen ist sie gar nicht gesunken. Diese Entwicklung spiegelt den Einfluß der IWF-Bürokraten wider, die sich dem Willen ihres Managements widersetzen. Zahlreiche Auflagen geben ihnen Macht – und diese Macht zu erhalten, ist in ihrem Interesse. Die Programmländer werden wohl weiterhin von der internationalen Bürokratie bevormundet werden.