Śakas und Indo-Parther
Im zweiten Jahrhundert vor Christus geriet Indien unter den Einfluß von Völkerbewegungen, die weitab in Zentralasien vor sich gingen. In dessen Kernland hatte gegen 170 v. Chr. das Nomadenvolk der Hsiung-nu – auf Grund der (oberflächlichen) Namensähnlichkeit oft fälschlicherweise als „Hunnen“ bezeichnet –, dem das Vordringen nach Osten seit des Baus der chinesischen Mauer gegen Ende des dritten vor-christlichen Jahrhunderts verwehrt war, im Kampf um Weidegebiete die Yüeh-chih vernichtend geschlagen und gen Westen abgedrängt. Diese schoben nun ihrerseits die Śakas, ein weiteres Nomadenvolk, das am rechten Ufer des Iaxartes zu Hause war, regelrecht vor sich her und drängten einen Teil – dies chinesischen Quellen zufolge – über den Pamir in das obere Indus-Tal, einen anderen und wesentlich größeren in den Norden des graeko-baktrischen Reiches. Dieser wurde schnell von ihnen erobert, da er zuvor lange in Kämpfe mit den benachbarten Parthern verwickelt war. Sehr bald aber sahen sich die Śakas selbst Angriffen der Parther ausgesetzt. Und diese kriegerischen Auseinandersetzungen sollten letztlich große Auswirkungen auch auf Indien haben.
Ebenso wie Diodotos in Baktrien erhob sich um die Mitte des dritten vor-christlichen Jahrhunderts auch der seleukidische Satrap Parthiens, Andragoras, gegen seinen Herrn, Antiochos II. (möglicherweise aber auch gegen dessen Nachfolger, Seleukos II.), und erklärte die Unabhängigkeit seines Landes, des Gebiets südöstlich des Kaspischen Meeres. Im Vorfeld dieser Ereignisse waren die Parner, ein Nomadenvolk, das am Oxus lebte, nach Parthien eingedrungen und hatten innerhalb der noch bestehenden Satrapie einen eigenen Staat geformt. Die Arsakiden, wie sich diese Dynastie nach ihrem Gründer nannte, einem ἀνὴρ Σκύθης (Strabo 11,9,2, 515C) von zweifelhafter Herkunft (vir … incertae originis, Justin 41,4,6), erweiterten in der Folge das parthische Reich beträchtlich. Unter Mithradates I. wurden zwischen 160 und 155 v. Chr. Teile des Gebiets der Graeko-Baktrier annektiert. In Kämpfen mit den dort mittlerweile ansässigen Śakas fielen in der Folge zwei parthische Könige, Phraates II. (gest. 128 v. Chr.) und Artabanus I. (gest. 123 v. Chr.). Mithradates II. (123-90) gelang es aber, die Śakas in sein Reich zu integrieren und in der Drangiana im Süden des heutigen Afghanistans anzusiedeln, die daher auch Śakastan oder S(e)istan, „Land der Śakas“, genannt wurde. Von dort wichen beträchtliche Gruppen über Arachosien und den Bolan-Paß und weiter südlich gelegene Einfallspforten in das Gebiet des unteren Indus aus und zogen unter ihrem Anführer Maues (ca. 80-56 v. Chr.) stromaufwärts. Durch Kampf, aber auch durch Heiratsallianzen brachten sie ein Gebiet unter ihre Kontrolle, das sich von Takṣaśilā und Kashmir bis nach Mathurā im Osten und Sukkur im Süden erstreckte und von – teils durch Inschriften namentlich bekannten – Gouverneuren regiert wurde. Maues war der erste Śaka-König auf indischem Boden – auf seinen Münzen nennt er sich mit dem parthischen Titel „Großer Oberkönig der Könige“ (Vorderseite ΒΑΣΙΛΕΩΣ ΒΑΣΙΛΕΩΝ ΜΕΓΑΛΟΥ ΜΑΥΟΥ, Rückseite rajatirajasa mahatasa Moasa).
Mauesʼ Datierung und die Route seines Einfalls nach Indien, so wie sie hier gegeben werden, sind allerdings nicht unumstritten. Manche datieren ihn wesentlich früher (ca. 125-85 v. Chr.) und vermuten, daß er über das Pamir-Gebirge in das Tal von Gilgit eingedrungen ist. Weitere Untersuchungen müssen zeigen, was richtig, was falsch ist.
Das Gebiet westlich von Takṣaśilā und die Paropamisaden verblieben außerhalb des Herrschaftsgebietes des Maues. Sie gehörten zum Reich des Vonones (ca. 75-56 v. Chr.), eines anderen Śaka-Fürsten. In seiner Hand war das Kerngebiet Arachosien, die ehemalige achämenidische Satrapie Harauvatiš (Av. Haraaitī), während Seistan von seinem Bruder Spalahora und die östlichen Territorien von dessen Sohn Spalagadama regiert wurden. Der nächste wichtige Herrscher dieses westlichen Śaka-Reiches, Azes I. (56-10 v. Chr.), vereinigte dieses mit dem östlichen im Panjab. Seine Münzprägungen lassen erkennen, daß er sein Herrschaftsgebiet von Westen nach Osten ausdehnte. Damit stellte sich das – vergleichsweise kurzlebige – Śaka-Reich endgültig als Keil zwischen das indo-griechische Reich, das dadurch zweigeteilt war. Während sich dessen westlicher Teil, obschon von allen Seiten umringt, noch einige Jahrzehnte in griechischer Hand halten konnte, wurde der östliche von Azes I. und von Rājūvula dem Śaka-Reich einverleibt. Azes I. eroberte auch jene Gebiete zurück, die die Indo-Griechen unter Apollodotos II. (ca. 80-65 v. Chr.) und dann unter Hippostratos (ca. 65-55 v. Chr.) kurz vor Mauesʼ Tod im Jahre (ca.) 56 v. Chr. für einige Zeit in ihren Besitz bringen konnten, insbesondere Takṣaśilā. Offenbar herrschte er, wie dies wiederholt in der Geschichte der Śakas der Fall war, zusammen mit seinem Sohn, Azilises (10 v. – 6 n. Chr.). Auf diesen folgte Azes II. (6-17 n. Chr.), der letzte große Śaka-Herrscher des Nordwestens Indiens, der allerdings den westlichen Teil des Śaka-Reiches – Seistan und Arachosien – an die Parther verlor. Und auch er scheint sich, Münzprägungen zufolge, geraume Zeit die Herrschaft mit Azilises geteilt zu haben. Ob allerdings dieser König überhaupt anzusetzen ist, ist zuletzt, auch auf Grund numismatischer Gesichtspunkte, in Frage gestellt worden. Weitere Forschung wird zeigen müssen, ob zurecht.
Von den Indo-Griechen übernahmen die Śakas das Münzwesen, brachten auf ihren Prägungen aber – anders als die Indo-Griechen nach Agathokles – auch ʻhinduistischeʼ Gottesgestalten und Symbole an. Ihr eigener wichtiger Beitrag zur Kultur Indiens war indes die Einführung einer neuen und bis heute verwendeten Zeitrechnung, der (sog.) Vikrama-Ära. Diese hebt an mit dem ersten Jahr der Regierung des Azes I., also 56 v. Chr.
Die Śakas hatten sich mit den Parthern nicht nur in Seistan und Arachosien kriegerisch auseinanderzusetzen, sondern diese bedrohten als neue Fremdmacht auch den indischen Teil ihres Reiches. Und gegen 20 n. Chr. drangen sie, nachdem sie sich zuvor im Süden Afghanistans unter Gondophares (ca. 20-46) weitgehend unabhängig von den Śakas gemacht hatten, in die Paropamisaden und Gandhāra ein, stießen dann weiter in das Tal des Indus vor und eroberten dabei nicht nur indo-griechisches Territorium, sondern auch Teile jener Gebiete, die kurz zuvor eben die Śakas unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Doch bereits während der Herrschaft des Abdagases I. (Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr.), des Neffen und Nachfolgers des Gondaphares, scheinen die Kuṣāṇas in Gandhāra und Jammu eingefallen zu sein, die dann unter seinen Nachfolgern in diesen Gebieten, die um die Mitte des ersten nach-christlichen Jahrhunderts herrschenden Könige Sarpedanes und Sases (/ Sasan), an eben diese neuerlichen Eindringlinge in Indiens Nordwesten verloren gingen. Abgedrängt von diesen nach Süden wurde – soweit zu sehen – unter Satavastres dann aber der Sind hinzugewonnen, wo die Indo-Parther in Kontakt mit den westlichen Kṣatrapas kamen. Als die Kuṣāṇas, wohl unter Vema Takhtu, in der Folge das ganze Indus-Tal von Sases (/ Sasan), dem letzten indo-parthischen König des Sind, der über ein größeres Territorium herrschte, gewannen, war das Herrschaftsgebiet der Indo-Parther auf den Westen – Seistan und Arachosien – begrenzt. Dort regierten dann etliche ihrer Könige in kurzer Folge – Pakores, (vermutlich) ein Zeitgenosse von Vema Takhtu, also gegen Ende des 1. Jahrhunderts lebend, Sanabares und Abdagases II. –, ehe sie gegen 230 n. Chr. von den Sassaniden endgültig unterworfen wurden.