Forum for Economic Policy

Verwirrung bei globalen Armutsdaten



Stephan Klasen, cege report, p. 3, February, 2009


Im Jahre 2000 beschloss die Weltgemeinschaft auf dem Millenniumsgipfel die so genannten Millenniumsziele. Das erste Ziel besagt, absolute Armut, ausgehend von 1990, bis zum Jahre 2015 zu halbieren. Der verwendete Indikator ist der Prozentsatz der Bevölkerung, der pro Kopf und Tag weniger als 1 $ (genauer: 1,08 $) zur Verfügung hat. Im Jahre 1990 betraf das ca. 29 % der Bevölkerung der Entwicklungsländer bzw. 1,25 Mrd. Menschen. Bis zum Jahre 2005 sank die Rate auf ca. 17 % bzw. 930 Millionen Menschen; damit erscheint die Erreichung des ersten Millenniumsziels bis 2015 weiterhin realistisch. Im August letzten Jahres wurden plötzlich neue Ergebnisse von der Weltbank präsentiert: Tatsächlich lag im Jahre 2005 die Rate der absolut armen bei ca. 26 % bzw. 1,4 Mrd. Menschen. Wie sind diese neuen Zahlen zu erklären?


Die Erklärung der Weltbank ist wie folgt: Bei der Umrechnung der internationalen Armutslinie in nationale Währungen benutzt man kaufkraftadjustierte Wechselkurse (PPP Wechselkurse), um sicherzustellen, dass die Kaufkraft der Armutslinie in allen Ländern gleich ist. Diese PPP Wechselkurse basieren auf Preisvergleichen einer großen Anzahl von Gütern zwischen allen Ländern der Welt. Die globalen Armutszahlen, die bis letztes Jahr galten, beruhten auf internationalen Preisvergleichen, die im Jahre 1993 durchgeführt wurden. Im Jahre 2005 wurde eine neue Preisvergleichsrunde (ICP) durchgeführt, die diesmal mehr Länder und genauere Methoden verwendete. Die Ergebnisse dieser 2005 ICP waren überraschend. Da festgestellt wurde, dass das Preisniveau in China, Indien und vielen afrikanischen Ländern deutlich höher ist als vorher angenommen, ist auch die Kaufkraft der Einkommen in diesen Ländern deutlich geringer und das PPP-adjustierte BIP dementsprechend kleiner. China ist hier ein Extremfall: Das kaufkraftadjustierte BIP ist dort nun 40 % (!) kleiner als zuvor angenommen.


Für die Berechnung der Armutsraten haben diese Änderungen ebenso dramatische Konsequenzen. Anstatt die internationale Armutslinie von 1,08 $ zu aktualisieren (was konzeptionell in der Tat ein schwieriges Unterfangen wäre) entschloss sich die Weltbank, eine neue absolute Armutslinie zu generieren, die auf dem Preisvergleich von 2005 beruht und damit natürlich auch das Preisniveau von 2005 berücksichtigt. Die neue Armutslinie ist 1,25 $ pro Kopf und Tag in Preisen von 2005 (statt 1,08 $ in Preisen von 1993). Zugleich benutzt man die Ergebnisse der ICP von 2005, um die Armut seit 1990 neu zu berechnen.


Wenn berücksichtigt wird, dass das gemessene Preisniveau in vielen Entwicklungsländern in der ICP von 2005 deutlich höher ausfällt, können jetzt die Ergebnisse der Weltbank vom letzten Jahr auch nachvollzogen werden. Die gemessene Armut ist zwar im Jahre 2005 viel höher, war aber im Jahre 1990 auch viel höher. Von daher hat sich wenig am Trend der schnellen Armutsreduktion in Entwicklungsländern geändert.


Aber was ist von dieser kompletten Überarbeitung der globalen Armutszahlen zu halten? Sie erscheint in mehre-rer Hinsicht problematisch, wie in einer jüngsten Analyse im Rahmen unseres DFG-Projektes ‚Absolute Armut und Globale Gerechtigkeit’ festgestellt wurde. Erstens, selbst wenn man annimmt, dass der Preisvergleich von 2005 besser als alle vorherigen ist, heißt das nicht, dass er auch einen besseren internationalen Preisvergleich für das Jahr 1990 darstellt. Dazwischen hat sich die Struktur der globalen Produktion und des Konsums dramatisch geändert, wodurch auch die relative Entwicklung der Preisniveaus in der Welt beeinflusst wurde. Zweitens kann es gut sein, dass das ICP von 2005 das Preisniveau überschätzt hat, vor allem in China und Indien. Dies hängt damit zusammen, dass man in dieser Runde besonders darauf achtete, dass die verglichenen Güter so ähnlich wie möglich (am besten identisch) sind. Dies führt aber dazu, dass die Güter nicht mehr repräsentativ für das Konsum-verhalten in ärmeren Ländern sind. So werden die meisten Menschen in ärmeren Ländern keine international vergleichbaren Markenprodukte konsumieren (allenfalls eine international orientierte Elite), sondern sie werden statt-dessen lokal produzierte Substitute kaufen, die deutlich billiger sind. Von daher ist das hohe gemessene Preisniveau für sie nicht relevant, ihre Kaufkraft damit höher und die Armut dementsprechend geringer. Drittens beeinflussen Annahmen über die Produktivität des öffentlichen Sektors diese Preisvergleiche; auch hier wurden 2005 Änderungen vorgenommen, die u.U. zu einer Überschätzung des Preisniveaus geführt haben. Darüber hinaus gibt es auch einfache Plausibilitätsprobleme bei den neuen Ergebnissen. Rechnet man in das Jahr 1980 zurück, so hätten in China im Jahre 1981 84 % in absoluter Armut gelebt und viele davon auf einem Einkommensniveau, das eigentlich nicht zum Überleben gereicht hätte. Von daher ist es unklar, ob nicht auch bei den Ergebnissen der ICP von 2005 Probleme vorliegen, die sowohl die Preisvergleiche für 2005 verzerren als auch den Rückschluss auf Preisvergleiche im Jahre 1990 beeinflussen.


Es kann somit festgestellt werden, dass die regelmäßige Neuberechnung der globalen Armut basierend auf den jeweils gültigen Preisvergleichen mit erheblichen konzeptionellen und praktischen Problemen behaftet ist. Eine mögliche Alternative wäre, statt eine internationale Armutslinie zu definieren, die jeweils von der ICP abhängt, eine konsistente Methodik für die Entwicklung einer nationalen Armutslinie zu entwerfen. Ähnlich wie bei den internationalen Standards für die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung gilt es, diese dann in einem international koordinierten Prozess umzusetzen. Es existieren auch bereits konkrete Vorschläge, wobei natürlich auch hier einige konzeptionelle und praktische Probleme zu lösen wären. Gelingt dies nicht, werden wir im Jahre 2012, wenn die Ergebnisse der neuen ICP des Jahres 2011 veröffentlicht werden, uns erneut fragen müssen, wie hoch denn die absolute Armut in der Welt tatsächlich ist.