Forum for Economic Policy
Die Gestaltung der Steuerehrlichkeit durch das Steuerrecht
Wenn man kursorisch im Freundes- und Bekanntenkreis herumfragt, „Zahlst Du ehrlich Steuern?“, dann ist die Antwort unisono ein kräftiges „ja“. Hakt man genauer nach und fragt präziser nach den Titeln der Fachliteratur, den Kilometerangaben vom Wohn- zum Arbeitsort oder nach Dienstreisen, findet sich kaum einer, der nicht schnell zugibt, an der einen oder anderen Stelle wenigstens gelegentlich getrickst zu haben. Das Phänomen, dass Menschen dazu neigen, von sich selbst nur das wahrzunehmen, was auch ihrem Selbstbild entspricht, bezeichnet man als kognitive Dissonanz. Zu dem Selbstbild der meisten Deutschen zählt, dass sie ehrlich sind – auch gegenüber ihrem Staat, wenn sie Steuern zahlen müssen. Das ist erst einmal eine gute Nachricht.
Die schlechte Nachricht ist, dass insgesamt die Bereitschaft abzunehmen scheint, Steuern zu zahlen. Zwar weiß keiner genau, wie hoch die Steuerhinterziehung wirklich ist, denn naturgemäß bewegen sich Steuerhinterzieher nicht im grellen Licht der flächendeckenden statistischen Erfassung, aber die Regelmäßigkeit großer Wellen von Steuerhinterziehern legt nahe, dass das Phänomen zumindest nicht abnimmt. Deutschland entwickelt sich in dieser Wahrnehmung zu einem Land der Steuerhinterzieher – Steuertrickser sind sie schon lange. Wie kam es dazu?
Tatsächlich ist das Bedürfnis nach Einzelfallgerechtigkeit im Steuerrecht in Deutschland besonders ausgeprägt. Das Nettoprinzip der Einkommensteuer erlaubt, alle beruflich bedingten Kosten als Werbungskosten abzusetzen. Der Finanzbeamte muss, um diesem Prinzip gerecht zu werden, jeden Einzelfall prüfen, um zu ermitteln, welche Ausgaben tatsächlich beruflich bedingt sind. Hinzu kommt, dass ein Arbeitnehmer im Laufe seines Arbeitslebens Erfahrungen sammelt und seine peer group nutzt, so dass die Transaktionskosten der Steuergestaltung sinken.
Das Fatale an dieser Entwicklung ist, dass die Steuerpolitik sie sogar begünstigt: Aus der Politischen Ökonomie ist bekannt, dass Politiker in erster Linie auf ihre Wiederwahl abzielen. Nehmen sie ihren Beruf ernst, dann liegt ihre Priorität auf der Sicherung der Wiederwahl. Zu diesem Zweck gewähren sie einzelnen Gruppen Sonderregelungen. In der Konsequenz bedeutet dies, dass jede Regierung das Steuerrecht durch neue Sonderregelungen noch komplizierter macht als ihre Vorgängerin. Die politisch gewollten Sonderregelungen führen aber dazu, dass die Wähler sich in ihrer Eigenschaft als Steuerzahler der Gestaltung verschreiben: Sie suchen und nutzen alle Möglichkeiten, um ihre Steuerpflicht zu reduzieren, und empfinden das als vollständig legitim. Dabei testen sie selbstverständlich die Grenzen. Aus den Steuergestaltern werden Steuertrickser, die rege die Grauzone bewandern. Auf diese Weise erzieht der Staat, der häufig auf der Basis der Individualgerechtigkeit seine jeweilige Wählerklientel bedient, alle seine Steuerpflichtigen zu Steuergestaltern. Diese nutzen ihre so erworbenen Kompetenzen zu Tricksereien. Und wenn dann die vermeintlich große Gelegenheit sich ergibt, rutschen viele in die Steuerhinterziehung, ohne dass – die kognitive Dissonanz macht es möglich – ein Unrechtsbewusstsein entsteht. Die Steuerhinterziehung wird zusätzlich dadurch begünstigt, dass die deutschen Steuerstrafen gering und Entdeckungswahrscheinlichkeiten subjektiv und objektiv niedrig sind.
Natürlich sind die Gelegenheiten nicht für alle gleichmäßig verteilt: In der Öffentlichkeit nimmt man Fälle wie den von Klaus Zumwinkel oder die massenhafte Hinterziehung von Kapitalerträgen in den neunziger Jahren am deutlichsten wahr – und dafür braucht man Kapital, dessen Erträge sich zu hinterziehen lohnen. Aber auch die Bezieher von kleineren Einkommen finden Mittel und Wege: Schwarzarbeit ist nicht von ungefähr ein großer Sektor. Weil die meisten Steuerpflichtigen kaum Möglichkeiten der Steuergestaltung haben, weichen sie in den informellen Sektor aus. Das machen sie, weil sie individuell das diffuse Gefühl haben, dass alle anderen über Möglichkeiten verfügen, ihre Steuerpflicht zu reduzieren. Die Unübersichtlichkeit des Steuersystems begünstigt dies, denn kaum ein Steuerpflichtiger kann nachvollziehen, über wie viele Sonderkonditionen die anderen verfügen. Doch nicht nur das: Wenn sie sich der Komplexität der Einkommensteuer nicht gewachsen fühlen, finden sie sich in einer absurden Situation wieder. Selbst wenn sie ehrlich ihre Steuern zahlen wollen, können sie ihre Steuerpflicht nicht genau beziffern, weil sie die Abzugsmöglichkeiten nicht überblicken. Bevor sie dann das Risiko eingehen, zuviel zu zahlen, zahlen sie lieber zu wenig.
Wenn das die Diagnose ist, was ist dann die Therapie? Erstens ist das Steuerstrafrecht zu verschärfen und die Entdeckungswahrscheinlichkeit zu erhöhen. Auch wenn die Geheimdienste – so das politische Signal – in Zukunft Amtshilfe leisten können, geht kein Weg daran vorbei, die Steuerfahndungen personell besser auszustatten. Zweitens ist das Steuerrecht, insbesondere die Einkommensteuer, radikal zu vereinfachen, um zu zeigen, dass ein überschaubarer Normenkatalog für alle gilt. Das erhöht die Akzeptanz und führt langfristig zu einer steigenden Steuerehrlichkeit, weil dies die Möglichkeiten der Steuergestaltung reduziert und so die Erziehung zum Tricksen bremst. Dabei ist zu berücksichtigen, dass man eine jahrzehntelange Erziehung zur Steuergestaltung und zur Steuertrickserei nicht auf einen Schlag wird umkehren können – selbst dann nicht, wenn eine Radikalreform à la Kirchhoff möglich wäre. Diese ist aber auch gar nicht notwendig: Die richtigen Schritte, die durch die Abgeltungsteuer begonnen wurden, sind nur konsequent fortzuführen in Richtung einer umfassenden Kapitalertragsbesteuerung an der Quelle. Zusätzlich ist die Werbungskostenpauschale massiv heraufzusetzen. Beides führt dazu, dass möglichst viele gar nicht erst in Versuchung kommen, das Tricksen zu beginnen.