13/06/2014:
Fünf Forschungsinstitute beziehen Position zum Mindestlohn

Das politische Verfahren zur Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland befindet sich in der heißen Phase. Der aktuell laufende parlamentarische Gesetzgebungsprozess von einer Flut an Veröffentlichungen flankiert, in denen je nach politischem Standpunkt oder Lobbyorientierung gewarnt oder gefordert, befürchtet oder gehofft wird, Ausnahmen verlangt oder abgelehnt werden usw.

Auch die Zeitschrift Wirtschaftsdienst widmet sich in ihrer neuen Ausgabe dem Thema. In der Rubrik Zeitgespräch lässt sie unter dem Titel "Das Mindestlohngesetz - Hoffnungen und Befürchtungen" Wissenschaftler/innen aus fünf unterschiedlichen Instituten ihre divergierenden Standpunkte darlegen.


  • Joachim Möller (IAB): Werden die Auswirkungen des Mindestlohns überschätzt?


    Joachim Möller ist als Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), der Forschungsabteilung der Bundesagentur für Arbeit, die dem Bundesarbeitsministerium zugeordnet ist, auf vorsichtige Stellungnahmen bedacht. So äußert er im vorliegenden Beitrag angesichts veränderter Rahmenbedingungen des Wirtschaftsmodells Deutschlands Verständnis für die "von der großen Mehrheit der Bevölkerung getragene Forderung nach einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn". Lohnuntergrenzen haben für ihn eine Schutzfunktion, sie könnten wirksam dazu beitragen, die Entwicklung der Ungleichheit im unteren Bereich der Lohnverteilung zu begrenzen.
    Ähnlich vorsichtig äußert sich Möller zu den möglichen Beschäftigungswirkungen von Mindestlöhnen. Für eine Dramatisierung des Risikos von Arbeitsplatzverlusten bestehe kein Anlass. Es wäre aber auch falsch, bestehende Risiken zu verkennen.
    In der Höhe hält Möller den Mindestlohn nur für die westdeutschen Bundesländer für "angemessen". Für Ostdeutschland sieht er bei der geplanten Mindestlohnregelung ein deutlich höheres Arbeitsmarktrisiko. Arbeitsmarktrisiko.



  • Karl Brenke, Gert G. Wagner (DIW): Mindestlohn ante portas.


    Seit dem Abgang des damaligen Institutschefs und Mindestlohngegners (und IZA-Direktors s.u.) Klaus F. Zimmermann Anfang 2011 haben beim öffentlich finanzierten Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) vom (neoliberalen) Mainstream der Wirtschaftsforschungsinstitute abweichende Positionen wieder mehr Raum. Die Stellungnahme der DIW-Autoren zu den erwartbaren Folgen des Mindestlohns fällt zwar nicht wohlwollend, aber bemüht sachlich und neutral aus.
    So geben die Autoren freimütig zu, dass niemand wisse, wie "der kommende Mindestlohn in all seinen Facetten wirken wird". Damit grenzen sie sich explizit von den einfachen Modellen des ökonomischen Mainstreams ab, in denen "theoretische Eleganz und feste Glaubenssätze der Ordnungspolitik" vor "empirischer Relevanz" stünden.
    Für den Erfolg des Mindestlohngesetzes und seine politische "Nachhaltigkeit" halten Brenke/Wagner es für entscheidend, wie sich der Mindestlohn kurz- und mittelfristig auf die Beschäftigung auswirken wird. Ausgehend von der Modellvorstellung, dass es sich bei der Einführung von Lohnuntergrenzen im Kern um einen "Angebotsschock" handelt (ein externes Ereignis beeinflusst die Preise, hier: den Preis der Arbeit), haben die Autoren berechnet, dass die gesamtwirtschaftliche Lohnsumme um nicht ganz 1,4 Prozent steigen dürfte, was "nicht viel" sei. Weil die Mindestlöhne allerdings sehr selektiv wirkten, schlussfolgern sie, dass der Angebotsschock infolge der Einführung des Mindestlohns gesamtwirtschaftlich zwar wenig spürbar sein werde. Wegen seiner selektiven Wirkung werde er aber einzelne Branchen sowie Arbeitgeber in strukturschwachen Regionen, d.h. in fast ganz Ostdeutschland, unter großen Anpassungsdruck setzen. Es wäre daher weniger riskant gewesen, den Mindestlohn zunächst niedriger anzusetzen, und ihn dann sukzessive anzuheben.




  • Thorsten Schulten, Gustav Horn (HBS): Das Mindestlohngesetz - ein wichtiges Instrument zur Stabilisierung der Lohnentwicklung.


    Für die beiden Wissenschaftler der 1977 vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) als dessen Mitbestimmungs-, Forschungs- und Studienförderungswerk gegründeten Hans-Böckler-Stiftung (HBS) stellt der allgemeine gesetzliche Mindestlohn angesichts des in den letzten Jahren stark gewachsenen Niedriglohnsektors und eines damit einhergehenden Nachlassens der Binnennachfrage eine "notwendige Korrektur am Arbeitsmarkt dar, die die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer stärkt und damit insgesamt einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der Lohnentwicklung in Deutschland leistet".
    Die anhaltende Debatte um Ausnahmen von der Mindestlohnregelung betrachten die Autoren kritisch und verweisen auf grundlegende juristische und ökonomische Probleme. Aus juristischer Sicht gingen Ausnahmeregelungen immer mit Diskriminierungen einher, die verfassungs- und europarechtlich nur in sehr engen Grenzen legitimierbar seien. Ökonomisch entstünden nur neue Anreize, möglichst "billigere" Beschäftigte ohne Mindestlohn einzustellen, was zu gesamtwirtschaftlich problematischen Substitutions- und Verdrängungseffekten führe. Auch die für zwei Beschäftigtengruppen (Jugendliche unter 18 Jahre und Langzeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten nach beruflichem Wiedereinstieg) seitens der Bundesregierung bereits geplanten Ausnahmeregelungen halten sie für bedenklich bis kontraproduktiv.
    Als wichtig bewerten die Autoren den Beitrag, den das Mindestlohn-Gesetzespaket zur Stärkung des seit Jahren erodierenden deutschen Tarifvertragssystems leisten kann. Hier erwarten sie insgesamt eine Stabilisierung des deutschen Tarifvertragssystems. Sollte zudem die anvisierte Stärkung der Tarifbindung gelingen, so könne sich perspektivisch die Funktion des Mindestlohns auf diejenigen Beschäftigtengruppen konzentrieren, die außerhalb des Tarifvertragssystems stünden.




  • Hagen Lesch, Alexander Mayer, Lisa Schmid (IW): Das Mindestlohngesetz: Belastungsprobe für den Arbeitsmarkt.


    Das Autorenteam des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) Köln, eine von Verbänden und Unternehmen der privaten Wirtschaft finanzierte Denkfabrik, die schon mal als wissenschaftlicher Schreibtisch der Arbeitgeberverbände bezeichnet wird, befasst sich mit dem Aspekt der Eingriffsintensität, denn die geplante Mindestlohnregelung stelle einen erheblichen Eingriff in das Lohngefüge dar. Mutmaßungen darüber, wie viele Personen davon "potenziell betroffen" sind, werden anhand von Berechnungen auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels in Zahlen gefasst: Die Autoren gehen davon aus, dass von der Einführung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns 2015 knapp 4,6 Mio. Arbeitnehmer betroffen sein werden.
    Ausnahmeregelungen könnten nach Ansicht der Autoren angesichts des vergleichsweise starken Eingriffs in die Lohnbildung zwar die Eingriffsintensität mildern, doch seien Ausnahmen "nicht unproblematisch, weil die Herausnahme bestimmter Beschäftigtengruppen zu rechtlich problematischen Ungleichbehandlungen sowie zu Fehlanreizen auf dem Arbeitsmarkt führen kann".
    Die Übergangsfrist, nach der noch bis Anfang 2017 vom Mindestlohn nach unten abweichende Tariflohnvereinbarungen getroffen werden können, bewerten die Autoren positiv. Sie lasse den Tarifparteien Zeit, die Löhne schrittweise nach oben anzupassen. Ökonomisch wie verfassungsrechtlich stelle sich allerdings die Frage, "warum die Übergangsfrist nicht für alle Tarifverträge gilt". Da regionale Tarifverträge aufgrund ihres regionalen Bezugs nicht die Anforderungen des Entsendegesetzes (AEntG) erfüllten, würden Branchen mit regionalen Verhandlungsstrukturen gegenüber Branchen mit bundesweiten Verhandlungsstrukturen benachteiligt.




  • Patrick Arni, Werner Eichhorst, Alexander Spermann, Klaus F. Zimmermann (IZA): Mindestlohnevaluation jetzt und nicht erst 2020.


    Das von der Deutschen Post AG gegründete und im Wesentlichen von der Deutschen Post World Net gesponsorte Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) ist für seine arbeitgeberfreundliche, stramm neoliberale Ausrichtung bekannt. Der grundsätzlichen Ablehnung staatlicher Interventionen in die vermeintlich freie Wirtschaft folgend, sehen die Autoren im gesetzlichen Mindestlohn einen massiven Eingriff in den Arbeitsmarkt, durch den "vorsichtig gerechnet 600 000 Jobs, vor allem in Ostdeutschland, verloren gehen".
    Die Ausnahmeregelungen werden befürwortet, denn damit würden die "beschäftigungspolitischen Gefahren für Langzeitarbeitslose etwas vermindert", wiewohl ein Zeitraum von zwölf statt sechs Monaten Ausnahme vom Mindestlohn besser gewesen wäre. Die Ausnahme von Jugendlichen gehe ebenfalls nicht weit genug, denn "der Zeitraum zwischen 18 und 21 Jahren ist (...) entscheidend". Die bisher ignorierten ignorierten positiven britischen Erfahrungen mit einem Stufenmodell würden eine Ausnahme für Jugendliche unter 21 Jahren nahelegen.
    Die im überarbeiteten Referentenentwurf des Bundesarbeitsministeriums neu vorgesehene verpflichtende Evaluation der Wirkungen eines gesetzlichen Mindestlohns im Jahr 2020 wird von den Autoren begrüßt. Zugleich fordern sie, dass möglichst früh Forschungsaufträge in Auftrag gegeben werden - und zwar nicht an "von den Mitgliedern der Kommission präferierte Institutionen". Zudem solle eine Anhebung des Mindestlohnes so lange ausgesetzt werden, bis erste Erkenntnisse aus der Evaluation der Wirkungen des Mindestlohnes ab 2015 bzw. 2017 vorliegen.




  • Quelle: Zeitgespräch: Das Mindestlohngesetz - Hoffnungen und Befürchtungen. In: Wirtschaftsdienst 94. Jg., H. 6/2014, S. 387-406