Siedlungsforschung und Landschaftsentwicklung Liebenau



 Siedlungsforschung und Landschaftsentwicklung im Umfeld des Gräberfeldes von Liebenau/Steyerberg von der Römischen Kaiserzeit bis in das frühe Mittelalter


Ausgrabungsprojekt zur Untersuchung von Wirtschaftsweise, Ressourcennutzung, Handwerk und Handel ländlicher Gesellschaften.

 

 



Projektvorstellung

 

Forschungsstand

 

Das Gräberfeld von Liebenau/Steyerberg ist einer der am umfassendsten erforschten Bestattungsplätze im nordwestdeutschen Raum und zeichnet sich besonders durch eine lange, kontinuierliche Belegungsdauer vom 4. bis in das 9. Jh. n. Chr. aus. Bei einzelnen Bergungen (1938-1953) und gezielten Grabungen, unter anderem in einem langjährigen von der DFG, dem damaligen Institut für Denkmalpflege Hannover und dem Landesmuseum Hannover geförderten Projekt (1953-1984), konnten 310 Brandgräber und 207 Körpergräber dokumentiert werden. Dieser mehrperiodige Bestattungsplatz umfasst Funde vom Neolithikum bis zum frühen Mittelalter, darunter einen Urnenfriedhof der späten Bronzezeit bis frühen Eisenzeit sowie einen gemischt belegten Bestattungsplatz der Völkerwanderungszeit und des frühen Mittelalters, der eines der wichtigsten ausgegrabenen, kontinentalen Gräberfelder zur Erforschung des frühen Sachsenstammes darstellt. Die hier geborgenen Beigaben aus fränkischer, thüringischer und alemannischer Provenienz lassen vermuten, dass wahrscheinlich weitreichende Kulturkontakte bestanden. Auch die, nach den erfolgreichen „Sachsenkriegen“ Karls des Großen, beginnende Christianisierung der örtlichen Bevölkerung lässt sich anhand der letzten Belegungsphase des Gräberfeldes nachvollziehen. Die wissenschaftliche Auswertung verschiedener Teilaspekte des Gräberfelders dauert bis in die heutige Zeit an und erbrachte wertvolle Erkenntnisse über die schriftlose Kultur der „Sachsen“.

 

Während über die Bestattungssitten dieser Zeit inzwischen recht viele Erkenntnisse vorliegen, ist der Kenntnisstand der Archäologie zu den germanischen/sächsischen Siedlungen an der Mittelweser bisher äußerst gering. So sind Grundrisse von Wohnhäusern dieser Zeit aus dem Landkreis Nienburg bisher nicht bekannt. Es gibt lediglich Hinweise auf Siedlungen durch Bodenverfärbungen und Bewuchsanomalien, die in Luftbildern zu erkennen sind, oder durch siedlungsanzeigende Keramikfunde, die bei Feldbegehungen zutage kamen. Entsprechende Hinweise auf Siedlungsspuren, in Form von Fundstreuungen und Luftbildern, gibt es auch aus dem Umfeld des Gräberfeldes von Liebenau/Steyerberg. Deren Erforschung ist jedoch bisher nur in Ansätzen erfolgt[1]. Aufgrund von Streufunden und Luftbildern konnte am südlichen Ortsrand von Liebenau eine sächsisch-karolingische Siedlung des 8. und 9. Jh. n. Chr. lokalisiert werden. Die Fundstelle liegt auf einem West-Ost verlaufendem Sanddünenrücken, genau in einem Zwickel zwischen den beiden Gewässern der Weser und der „Großen Aue“. Auf diesem relativ trockenen Standort bildeten sich über die Jahrhunderte mehrere Podsolhorizonte, die immer wieder von Sand überweht wurden. Das gegenwärtig bewaldete Gelände wurde bis zum heutigen Tag nicht intensiv landwirtschaftlich genutzt und niemals maschinell umgebrochen. Aufgrund dessen ergeben sich an diesem Fundplatz außergewöhnlich gute und aussagekräftige Erhaltungsbedingungen, da die ehemalige Oberfläche der aufgegebenen Siedlung von einer Sanddüne überdeckt und konserviert wurde. Zur Sandgewinnung wurde diese Düne spätestens nach dem 2. Weltkrieg im Bereich der Fundstelle Stück für Stück abgetragen und es entstand eine Sandgrube von heute 90 x 60 m Durchmesser. 

 

 

Fundstelle Liebenau

Lage der Fundstelle bei Liebenau (roter Punkt) und des Gräberfeldes von Liebenau/Steyerberg (oranger Punkt). Kartengrundlage: Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege, AdabWEB; Bearbeitung: Tobias Scholz.

 


Im Zug dieser Abbauarbeiten und parallel zu den Ausgrabungen am Gräberfeld von Liebenau wurde 1971 aufgrund von Keramik-, Knochen- und Schlackefunden eine Probegrabung angesetzt. Der Sandabbau wurde nach dieser Probegrabung gestoppt und das umliegende Gelände unter Denkmalschutz gestellt. In den darauffolgenden Sondagegrabungen von 1971 und 1973 sind insgesamt drei, sehr dicht beieinander stehende Grubenhausbefunde in einer Tiefe von ca. 35cm unter der Grabungsoberkante angetroffen worden, jedoch keine Spuren von Wohnhäusern. Als Funde sind eine Scheibenfibel, ein Dreilagenkamm, ein Messer, ein Schlüssel, Spinnwirtel, Webgewichte, ein großer Haufen mit Muscheln und eine Grube verfüllt mit Eisenschlacken zu nennen. Besonders bemerkenswert ist das hohe keramische Fundaufkommen mit insgesamt 350 auswertbaren Randscherben. Die Verfüllung dieser ehemaligen Grubenhäuser mit Abfällen erfolgte anscheinend im Zuge einer größeren oder dauerhafteren Besiedlung in deren unmittelbarer Umgebung. Das Aussehen dieser Siedlung und deren Beziehungen zum Gräberfeld konnte bisher jedoch nicht eingehender untersucht werden. Als Vorbereitung für das vorliegende Projekt erfolgte im Sommer 2015 auf diesem Fundplatz bereits eine dreiwöchige Lehrgrabung in Kooperation mit dem Seminar für Ur- und Frühgeschichte der Georg-August-Universität Göttingen, der Samtgemeinde Liebenau, dem Flecken Steyerberg sowie der Kommunalarchäologie der Schaumburger Landschaft. Einerseits wurde unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten direkt an den Grabungsflächen der Probe- und Sondagegrabungen der 70iger Jahre angesetzt, um die damaligen Ergebnisse und Interpretationen zu überprüfen und deren Erkenntnisse zu erweitern. Andererseits sind aus bodendenkmalpflegerischer Sicht die Flächen direkt an der Abbruchkante am stärksten gefährdet gewesen, weshalb diese als erstes zu untersuchen waren. Durch die Freilegung von drei 5m x 5m großen Quadranten während der Grabung 2015, konnten eine mächtige Kulturschicht mit verschiedenen Laufhorizonten, zahlreiche Pfostenstellungen von Gebäuden sowie Siedlungs- und Abfallgruben dokumentiert werden. Des Weiteren fanden sich in einem Quadranten Wagenradspuren, die möglicherweise auf einen ehemaligen Verkehrsweg hinweisen, der parallel zur heutigen Landstraße verlief. Im Fundspektrum sind Keramik, Metallschlacken, Brandlehm, aber auch Muschelschalen und Spinnwirtel vertreten. Als besonders erwähnenswert gelten die Funde einer Glasperle, einer Messerklinge, einer Pfeilspitze und einer kissenförmigen Rechteckfibel. Über diese Funde ist eine Datierung in das späte 8. und frühe 9. Jahrhundert n. Chr. möglich.

Diese Ergebnisse belegen, dass es sich um einen exzeptionellen Fundplatz mit hohem Potential handelt, dessen weitere Erforschung und Dokumentation uneingeschränkt gerechtfertigt ist. Denn „erst in der kombinierten wissenschaftlichen Analyse von Bestattungs- und Siedlungsplatz sind optimale Ergebnisse über alle Lebensbereiche der Sachsen bei Liebenau zu erwarten“[2].

 


Fragestellungen und Ziele

 

Über den Alltag, die generellen Lebensumstände oder gar die kulturelle Identität der Menschen, die im ersten Jahrtausend nach Christus im Gebiet der Mittelweser lebten, ist nur wenig Authentisches bekannt. Außer wenigen Fremdbetrachtungen römischer Geschichtsschreiber und den späteren fränkischen Annalen, existieren aus dieser frühen Epoche keine schriftlichen Überlieferungen. So bleibt nur die archäologische Forschung, um wissenschaftlich exakte Erkenntnisse darüber zu erlangen, wie sich die Siedlungsgeschichte und Landschaftsentwicklung im Gebiet der mittleren Weser vollzog. 

Aus den bisherigen Untersuchungen der Siedlungsfläche ergeben sich entsprechend weitere Fragestellungen, die innerhalb des dreijährigen Grabungsprojekts beantwortet werden sollen. Da der aktuelle Forschungsstand nichts über das Aussehen einer sächsischen Siedlung im Mittelwesergebiet aussagt, ist es bedeutsam diese Wissenslücke zu schließen. So sollen mit Hilfe der angestrebten Grabungskampagnen Kenntnisse zur Bauweise und Gliederung der Gebäude, dem inneren Aufbau der Siedlung, deren Größe, Nutzungsdauer, Wirtschaftsweise, Siedlungsform und Organisationsgrad gewonnen werden. Diese Punkte werden im Fokus der Untersuchungen stehen und bieten in einer langfristigen Perspektive die Möglichkeit die Besiedlungsgeschichte dieser Region von der Zeitenwende bis in das frühe Mittelalter besser nachvollziehen zu können.

Einer der Kernaspekte der Siedlungsarchäologie beinhaltet die Frage nach den topografischen und wirtschaftlichen Grundlagen einer Ansiedlung. Hierbei wäre zu klären, ob die Siedlung in einem eher landwirtschaftlichen Kontext zu sehen ist oder ob handwerkliche Produktion und Handel eine vornehmliche Stellung einnahmen. In diesem Zusammenhang ist die bereits dokumentierte große Anzahl an Metallschlacken, die einen klaren Hinweis auf eine örtliche Eisenverhüttung auf diesem Fundplatz gibt, von Bedeutung. Denn bisher ist nicht nachgewiesen, wo und in welchem Umfang diese stattfand und ob eine schmiedehandwerkliche Eisenverarbeitung vor Ort ausgeführt wurde. Die Zeugnisse zur Eisenverhüttung werfen auch Fragen nach der Nutzung vorhandener Ressourcen auf. Auch Steine gehören – selbst in einer steinarmen Region wie dem Mittelwesergebiet – zu den ältesten Ressourcen, die Menschen zur Bewältigung ihres Alltags genutzt haben. Mithin sind mögliche Funde von Mahlsteinen von großem Interesse, da diese oftmals aus Gesteinsarten bestehen, die lokal nicht anstehend sind, wie z.B. basaltisches Vulkangestein aus der Eifel. Diese Produkte mussten demzufolge eingehandelt werden. Jeder Fund stellt somit einen Hinweis auf überregionale Kontakte und Handel dar. 

Schließlich ist die Entwicklung der Kulturlandschaft als Umgebung der Siedlung ein relevanter Gesichtspunkt, der großer Aufmerksamkeit bedarf. Bodenbildungsprozesse werden von der darauf vorhandenen Vegetation wesentlich beeinflusst. So unterscheiden sich Böden landwirtschaftlich genutzter Flächen sehr deutlich von Waldböden. Mit der Untersuchung von Bodenprofilen kann die Genese eines Bodens oftmals recht gut rekonstruiert werden. Dabei gilt in der Bodenkunde die Prämisse, dass die Bodenbildungsprozesse zu allen Zeiten und an jedem Ort, unter gleichen naturwissenschaftlichen Bedingungen ablaufend, die gleichen Resultate erbringen. Daher bietet die Aufnahme und Interpretation von Bodenprofilen mitunter ein sehr gutes Mittel, Fragen zur Evolution des Landschaftsraumes zu beantworten. Bereits bei der Grabung 2015 konnte ein 1,20m mächtiges Bodenprofil aufgenommen werden, anhand dessen sich die Landschaftsgenese punktuell nachvollziehen lässt. So ist aufgrund der dokumentierten Dünenüberwehung zu vermuten, dass die Umgebung zur Zeit der Besiedlung großflächig waldfrei gewesen sein muss. Diese Hypothese gilt es durch weitere bodenkundliche Untersuchungen zu bestätigen. Zu den angestrebten Ergebnissen der geplanten Grabungskampagnen zählt vornehmlich die fachgerechte Freilegung und archäologische Dokumentation der für diesen Zeitrahmen und Raum bisher unbekannten Gebäudestrukturen. Darüber hinaus ist die Klärung oder zumindest bessere Einordnung der Datierung und der Ausdehnung der Siedlung über die Funde aus der Kulturschicht und den Siedlungs- und Abfallgruben von außerordentlicher Bedeutsamkeit für eine Nachzeichnung der frühmittelalterlichen Siedlungssituation im Gebiet der Mittelweser. Weiterhin soll das Grabungsprojekt, wie oben dargelegt, Erkenntnisse über die wirtschaftliche Grundlage des Siedlungsplatzes liefern, indem es Hinweise zur Verhüttung erbringt (z.B. in Form von Verhüttungsplätzen mit Rennfeueröfen, Schmiedeschlacken, Hammerschlag oder Werkzeuge wie Schmelztiegel o.ä.). Da Schlackenreste jedoch aus den unterschiedlichsten Prozessen resultieren können, müssten hierbei geochemische Methoden für eine genauere Analyse angewendet werden. Sollte auswertbares organisches Material in Form von Holzkohle oder gar Holzresten geborgen werden können, sind mit deren Untersuchungen möglicherweise Aussagen über bevorzugte Bauholzarten zu treffen. C14- Analysen an größeren Holzkohleresten bieten zusätzlich Möglichkeiten zur Datierung des Fundplatzes. Pflanzenreste lassen mitunter Rückschlüsse auf die angebauten Getreidearten zu, wobei gerade verkohlte Samenkörner sehr widerstandsfähig sind. Sie erfordern allerdings spezielle archäobotanische Untersuchungen. Solche Funde könnten wichtige Hinweise auf die landwirtschaftliche Ausrichtung der Siedlung und gegebenenfalls Erkenntnisse zur Ernährungsweise ihrer Bewohner liefern. Die Aufnahme und Untersuchung von Bodenprofilen an der Fundstelle sollen helfen Informationen über die Landschaftsentwicklung südlich der Großen Aue zu erlangen.

 

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Luftbildaufnahme der Ausgrabungsfläche mit Blickrichtung Westen.
Fotografie: Ronald Reimann.

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Blick über die Ausgrabungsfläche im Sommer 2018.

 

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Führung über die Ausgrabungsfläche für interessierte Laien und die lokale Bevölkerung.

 

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Zwei direkt nebeneinanderliegende Grubenhäuser mit wandbegleitenden Pfosten.


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Exkursion der Archäologischen Kommission für Niedersachsen im Juni 2018 

zur Ausgrabungsfläche in Liebenau.

 

 

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[1]H.-G. Peters, Ein siedlungsarchäologisches Forschungsprogramm im Gebiet der Mittelweser, südlich von 

Nienburg. Nachrichten aus Niedersachsens Urgeschichte 48, 1979, 127-133.

[2]H.-J. Häßler, Ein Gräberfeld erzählt Geschichte. Studien zur Sachsenforschung 5.5. Oldenburg 1999, 129.