Unser aller Eintänzer

Von Svenja Brand

Im Werk von Günter Grass mischt sich kulinarischer Genuss mit literarischer Ästhetik. Aus „Hammelschulter mit halben Knoblauchzehen gespickt und […] in Butter gedünsteten Birnen zwischen grüne gesottene Brechbohnen gebettet“ (Der Butt) wurde Weltliteratur; während des Dreißigjährigen Krieges wird den Grass’schen Poeten im Treffen in Telgte „in tiefen Kummen dampfender Hirsebrei mit ausgelassenem Schweineflom und Speckspirkeln übergossen“ serviert; und in Vonne Endlichkait findet sich ein ausführliches Prosagedicht über Innereien, in dem das (Grass’sche) Ich „Schweinenieren in Mostrichsoße oder paniertes Hirn zu Blumenkohl und Stampfkartoffeln“ preist. So wird, was auf den Tisch kommt, bei Grass nicht nur genüsslich verzehrt, sondern nachschmeckend ebenso genüsslich in Literatur beschrieben und bebildert. Gleiches gilt für das Tanzen, das sich in Grass’ Werk nicht nur in einer Vielzahl tanzende Paare darstellender Skulpturen, sondern auch in literarischer Form wiederfindet, besonders im 2003 erschienenen Gedicht- und Zeichenband Letzte Tänze.

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Abb. 1: Tanzende Skulpturen Schneller Schritt, 2002 und Charleston/Langsame Drehung, 2002 von Günter Grass in seinem Band Gebrannte Erde. Mit Fotos von Dirk Reinartz. Göttingen: Steidl 2002, S. 138 ‬f. Buch und Text © Steidl Verlag + Günter und Ute Grass Stiftung, Fotos von Schneller Schritt, 2002 und Charleston/Langsame Drehung, 2002 © Karin Reinartz


Dass diese literarisch-kulinarische und tänzerische Ästhetik nicht im Abstrakten ihren Ursprung nahm und nimmt, beweist ein Stück Tischkultur – im sehr wörtlichen Sinn –, das ins Göttinger Archiv von Grass’ buchkünstlerischer Zusammenarbeit mit dem Steidl Verlag Eingang gefunden hat: eine weiß-gestärkte, dicht beschriftete, bekleckste und noch die alten Bügelfalten konservierende Tischdecke aus dem Frankfurter Maritim Hotel, die ein abendliches Essen anlässlich der Buchpremiere von Grass’ Letzte Tänze bei der Frankfurter Buchmesse im Oktober 2003 „dokumentiert“. In einer großen Kalligrafie heißt es dort: „To Celebrate ‚Letzte Tänze‘ bei Günter Grass. Dinner at Calypso“. Etwas abgesetzt davon: „MIT GERHARD STEIDL AND HIS ‚MAJESTIC VERLAG‘“.

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Abb. 2: Ausschnitt der beschrifteten Tischdecke1. Foto: Svenja Brand © Steidl Verlag


Wie bei einem signierten Fußballtrikot, das erst durch seine Gras-, Erd- und Schweißflecken symbolisch an Wert gewinnt, sind es hier nebst der vielen Unterschriften Flecken getrockneten Weins, die dem Stück Tuch ein gewisses Etwas verleihen – oder besser: sind es die vom Künstler Paul Ruscha2 handschriftlich hinzugesetzten Erläuterungen ebendieser beim „Dinner“ entstandenen Kleckse. Da ist lesbar, dass ein Châteauneuf-du-Pape („CHATEAU NEUF du PAPE“) getrunken und vertropft wurde, ein anderer Klecks ist bloß als „SECONDARY RED“ betitelt. Noch ein bisschen poetischer werden mit Pfeilen markiert zwei andere Flecken als „1/2 EXCLAMATION POINT…“ und „…THE BLOODY TEARS OF AN UNWEDDED WOMAN…“ gedeutet.

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Abb. 3: Handschriftliche Fleckendeutung von Paul Ruscha. Foto: Svenja Brand © Steidl Verlag


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Abb. 4: Von Paul Ruscha vorgenommene Fleckendeutung. Foto: Svenja Brand © Steidl Verlag


Aber nicht nur der kulinarische Genuss hat Spuren auf der Decke hinterlassen:

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Abb. 5: Grass’ Signatur auf der Decke. Foto: Svenja Brand © Steidl Verlag


Günter Grass selbst hat als „Euer aller Eintänzer“ unterzeichnet – eine Anspielung nicht nur auf den am Messesamstag in einer Lesung vorgestellten Gedicht- und Zeichenband Letzte Tänze, sondern auch auf den „geübte[n], leidenschaftliche[n] Tänzer“3 Grass. Besonders bekannt sind wohl die Bilder vom tanzenden Nobelpreisträger mit seiner Frau und seiner Tochter am Abend der Preisverleihung in Stockholm 1999.

Auf der Buchmesse nun hat Grass sein Publikum in einer großen leeren Halle4 zum Tanz geladen ¬– ganz im Sinne einer Aufforderung in Versen aus dem gerade vorgestellten Band: „Komm, tanz mit mir, solang ich noch bei Puste / und von den Sohlen aufwärts existiere.“5 Die Berichterstattung zur Messepräsentation griff die Tanz-Dynamik auf: „Der fast 76-jährige Nobelpreisträger eröffnete den Abend mit einem schmissigen Tango. Letzte Tänze – wie es der Titel seines letzten Gedichtbandes suggerierte, waren das noch nicht.“6 „Günter Grass feiert eine Tanzparty“7, schrieb Volker Weidermann über die Veranstaltung, bei der „[e]in elfköpfiges Tanzorchester […] Tango, Foxtrott, Dixieland, Blues, Walzer und Swing [spielte]. Gleich drei Mal sprang der Großschriftsteller von seinem Sessel auf und reichte einer der vier Sängerinnen die Hand.“ 8 Etwas weniger euphorisch hieß es in der Welt weiter: „Nur das Publikum, von Grass zum Mittanzen aufgefordert, ließ sich nicht verführen.“9 Ob zum Tanzen verführt oder nicht – die beschriftete Tischdecke lädt zum Nachsinnen und vielleicht auch zum imaginären Nachschmecken von lebensfreudiger (Tanz-)Geselligkeit und kulinarischem Genuss ein. Immer wieder erinnert diese genussvolle Lebensbejahung dabei auch an den ‚barocken Dichter‘ Grass, der das carpe diem angesichts der (eigenen) „Endlichkait“ in Verse fasst – auch im folgenden Gedichtausschnitt formuliert als Einladung zum Tanz:

Laß uns tanzen im Schnee, damit wir,
solang er noch liegt, Spuren machen
im knirschenden Weiß,
die bleiben, bleiben
bis es – vorausgesagt – taut 10



Kulinarisch-tänzerischer Genuss und literarische Ästhetik, beides hat in Grass’ Werk Eingang gefunden – und auch ins Göttinger Archiv. Mit einem leichten Augenzwinkern kann die beschriebene Tischdecke so vor Augen führen, wie eng Dichtung und Leben im Werk von Günter Grass miteinander verbunden sind und wie sie wechselseitig aufeinander Einfluss nehmen.


1Eine Abbildung der Tischdecke in Gänze ist aus Datenschutzgründen leider nicht möglich. Signiert haben die Decke: Paul Ruscha (Künstler), Günter Grass, Gerhard Steidl (Verleger), Gundula Kronewitz (Partnerin von Gerhard Steidl), Jan Menkens (Steidl, Rechte und Lizenzen), Jan Strümpel (ehemals Steidl Lektorat), Friederike (Ika) Sprenger (ehemals Steidl Vertrieb), Claudia Glenewinkel (Steidl, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Lektorat), Florian Beisert (Steidl, Druckerei), Frank Hertel (Steidl, Assistenz und Fahrer), Daniela Hermes (freie Lektorin, damals Grass-Lektorat mit Helmut Frielinghaus), Klaus Staeck (Grafiker, Rechtsanwalt), Jörg-Dieter Kogel (damals Radio Bremen), Monika Müller (damals Steidl Key Account Management, Hörbücher), Sigrid Moritz (Buchmesse Frankfurt) und Silvia Brice (Grass-Übersetzerin (Lettisch)). Claudia Glenewinkel sei sehr herzlich für ihre Hilfe bei der Entzifferung der Unterschriften gedankt. Nicht sicher aufgelöst werden konnten „Schorsch“ (bei dem es sich Claudia Glenewinkel zufolge um den Autor Georg Schattney handeln könnte, der bei der Premiere anwesend war) und „Anjeska“ (laut Glenewinkel möglicherweise die Tanzpartnerin von Grass; dazu passt, dass die Unterzeichnende sich als „Traumtänzerin“ verewigt hat). Auch die amerikanische Unterschrift mit einem Verweis auf die Route 66 in Winslow, Arizona („Rt. 66, Winslow, AZ“), bleibt unentschlüsselt.
2Ruscha stand mit dem Projekt selbst nicht in Verbindung, war aber an diesem Abend Gast des Steidl Verlags. Wie die Deutungen der Weinflecken stammt auch die große Kalligrafie von ihm. Auch für diese Informationen danke ich Claudia Glenewinkel vom Steidl Verlag sehr herzlich.
3 So in der Vorstellung von Letzte Tänze auf der Homepage des Steidl Verlags [https://steidl.de/Buecher/Letzte-Taenze-0517435460.html] (09.03.2021).
4Mit Dank an Claudia Glenewinkel für die Information.
5Günter Grass: „Zuletzt drei Wünsche“, in: Letzte Tänze. Göttingen: Steidl Verlag 2003, S. 86.
6Ingo Ahrend: Angst essen Scham auf. Frankfurter Buchsmesse 2003. Braucht die Buchbranche mehr Erotik? In: Der Freitag, 17.10.2003 [https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/angst-essen-scham-auf] (04.03.2021).
7Weidermann, Volker: Was macht Naddel im Hause Unseld? In: FAZ, 12.10.2003 [https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/frankfurter-buchmesse-was-macht-naddel-im-hause-unseld-1135428.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2] (04.03.2021).
8Frankfurt wie es singt und lacht. In: Die Welt, 13.10.2003 [https://www.welt.de/print-welt/article265809/Frankfurt-wie-es-singt-und-lacht.html] (04.03.2021).
9Ebd.
10Günter Grass: „Schnee“, in: Letzte Tänze. Göttingen: Steidl Verlag 2003, S. 32. Besonders auffällig ist das hier wie in den oben zitierten Versen mahnende „solang […] noch“, in dem die Lebenslust provozierende Endlichkeit besonders deutlich zum Ausdruck kommt.