Andersens Schatten. Ein persönliches Fundstück

Von Heinrich Detering

Unter den vielen Büchern, die 2004 und 2005 zu Hans Christian Andersens zweihundertstem Geburtstag erschienen, ragt ein Bilderbuch hervor: Günter Grass sammelte in einem großformatigen, bei Steidl aufwendig gedruckten Band seine dreißig Lieblingsgeschichten des dänischen Dichters und versah sie mit einhundertsieben eigenen Illustrationen: Der Schatten. Hans Christian Andersens Märchen – gesehen von Günter Grassi. Es war das einzige Mal, dass Grass ganz zurücktrat hinter das Werk eines anderen Autors, der ihm lebenslang Vorbild, Anreger und Begleiter und in mancher literarischen und politischen Hinsicht beinahe ein alter ego gewesen war. In ähnlicher Aufmachung wie die ebenfalls bei Steidl erschienenen Bild-Text-Bände Zunge zeigen und Totes Holz und in noch etwas größerem Format (31,5 x 24,5 cm), trat Grass nun ausschließlich als Herausgeber und Illustrator auf. Der Text, den er selbst beisteuerte, ist nur zwei Druckseiten lang – eine Liebeserklärung an den Märchenerzähler, den Sprachzauberer und satirischen Zeitkritiker:

Die Anregung, in diese Märchenwelt einzutauchen, mit Hans Tolpatsch dem Zunftältesten, dem die Zeitung gehört, Schlamm ins feiste Gesicht zu schleudern, in Kays Auge die Spiegelscherbe zu pflanzen und mit Kinderaugen den Kaiser nackt zu sehen, kam aus der Stadt seiner Herkunft, Odense. Dort, wie überall in Dänemark, nein, auf der ganzen weiten Welt, wird am 2. April 2005 Andersens 200ter Geburtstag gefeiert. Mir kam der Auftrag ins Haus, zehn Lithographien für ein Mappenwerk zu zeichnen. […] Es wurden mehr und mehr.ii

Gesprächsweise hat er das genauer erläutert:

Es fing damit an, dass ich, aus reiner Lust, eine Lithographie zur Prinzessin auf der Erbse gemacht habe. […] Ich fing an und konnte nicht aufhören. Das ging über ein halbes Jahr. Und so habe ich dann aus den von mir ausgewählten Märchen, darunter auch einiges aus Ihrer Schräge Märchen-Sammlung, einen Band mit ich weiß nicht wie vielen Lithographien gemacht. Der Schatten war das titelgebende Märchen. Das war für mich eine wunderbare Unterbrechung der damals laufenden Manuskriptarbeit an Beim Häuten der Zwiebel. Und danach bin ich dann wieder ans Manuskript gegangen.iii


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Abb. 1: Gewidmetes Plakat zu Der Schatten
Foto: Heinrich Detering


Wie eine graphische Summe charakteristischer Einzelbilder ist die Collage konzipiert, die zunächst als Illustration auf dem Vorsatzblatt des Bandes und dann, um ein Titelverzeichnis erweitert, als Plakat gedruckt wurde. Im Format von 72 x 45 cm werden dort Hans Tolpatsch und der fliegende Koffer, die (von Andersen persönlich an der Leine gezogene) Eisenbahn und der brave Soldat aus dem Feuerzeug, der nackte Kaiser und das gescheite Kind mit weiteren Motiven so angeordnet, dass sie um ein großes Ei in der oberen Bildmitte tanzen. Es ist das Schwanenei, aus dem in Andersens Märchen das vermeintliche hässliche Entlein schlüpft, und es erscheint hier wie das Ur-Ei all dieser Märchen und Geschichten.
Damit variiert das Plakat einen Bildtypus, der zu Andersens Lebzeiten in Farbdrucken in ganz Europa verbreitet war. In ihm wird jeweils das Porträt eines populären Autors umspielt von den kleiner dargestellten Bildern seiner beliebtesten Gestalten. Charles Dickens sitzt auf dem bekanntesten Bild dieser Reihe, mit träumend geschlossenen Augen, im bunten Wirbel seiner Romanfiguren, während Little Nell auf seinem Schoß kauert; Dickensʼ Dream nannte der Zeichner Robert William Buss dieses Blatt aus Dickensʼ Todesjahr 1870.

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Abb. 2: Dickens’ Dream von R. W. Buss, Ausschnittiv


Schon früher – im Jahr 1863 – ist Andersen selbst so, von dem schwedischen Künstler Johan August Malmström, mit seinen Figuren porträtiert worden.

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Abb. 3: Andersen imellem hans eventyr von Johan August Malmström v


Im selben Bildzentrum nun, in das diese Vorlagen das Porträt des Autors stellten, befindet sich auf Grassʼ Plakat zum Schatten das große Ei des Entlein; Andersen läuft – als eine freundlichere Version seines Märchen-Schattens – mit großen Schritten auf diesen Ursprungsort seiner Geschichten und seiner selbst zu.

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Abb. 4: Ausschnitt aus dem Plakat zu Der Schatten
Foto: Heinrich Detering


Über diesem Buch sind Grass und ich einander zum ersten Mal wirklich nähergekommen. Begegnet waren wir uns schon früher: Nach der Verleihung des Lübecker Thomas-Mann-Preises an Ruth Klüger 1999 (kurz bevor Grass den Nobelpreis erhielt) hatten wir lange zusammengesessen und uns über Literatur und Politik unterhalten. Aber zusammengebracht hat uns erst Andersen. Grass hatte bei der Vorbereitung seiner Auswahl auch den Band Schräge Märchen gelesen, den ich auf Hans Magnus Enzensbergers Anregung für die Andere Bibliothek zusammengestellt und übersetzt hatte; für fünf Texte hatte er meine Übersetzung benutzt. So lag es nahe, dass er mich einlud, den Band zur Feier Andersens im Lübecker Buddenbrookhaus öffentlich vorzustellen. Das Gespräch, das wir am 7. Dezember 2004 zuerst auf dem Podium und dann weiter im Restaurant führten, war das erste einer langen Reihe, an deren Ende ein über mehrere Tage fortgesetztes, dann in Buchform erschienenes Gespräch bei Grass daheim in Behlendorf stand.vi
Auf dem Weg über Andersens Werk, seine Sensibilität für soziale Außenseiter, Stigmatisierte und Deklassierte, seine Sprachlust und seine Experimentierfreude zwischen den Genres, seine in Artigkeiten verkleidete Renitenz gegenüber der herrschenden Bürgerlichkeit und einem allgegenwärtigen gewaltbereiten Nationalismus, nicht zuletzt auch seine lebenslange Verbindung von Texten mit Zeichnungen, Collagen – auf diesem Weg ließ sich vieles besprechen und klären, was Grassʼ eigene Arbeit betraf und so umstandslos noch nicht an- und auszusprechen war. Denn unsere wechselseitigen Vorbehalte und Vorsichtsmaßnahmen waren an diesem Anfang beträchtlich; ich hatte in der FAZ genervt über seinen Gedichtband Novemberland geschrieben, er hatte das verbittert als einen weiteren Angriff nicht gegen einen Text, sondern gegen seine Person gelesen. Wenn davon schließlich nichts übrigblieb, wenn wir eigentlich schon am Ende jenes Abends in Lübeck sehr einträchtig zusammensaßen, dann lag es an Andersen.
Unter den Plänen, die sich aus diesem Abend entwickelten, war folgerichtig die Idee einer gemeinsamen Andersen-Auswahl. Sie sollte von dem Streit ausgehen, den Dänemark und Deutschland (oder Preußen) um die Herzogtümer Schleswig und Holstein geführt hatten und in dem Andersen, der mit seiner Dichtung in beiden Ländern zuhause war, sich hilflos und verloren fühlte. Die fünffache Seereise hieß der Band: Mit H. C. Andersen in Schleswig und Holstein, und er erschien 2014 in Neumünster bei Wachholtz. Am 27. März 2014 stellten wir diesen kleinen Ableger des großen Schatten-Buches im Günter Grass-Haus vor, und Grass sprach davon, „wie aktuell dieses Thema ist: der Sprachenstreit, der Anspruch Dänemarks aufs Nur-Dänische, das Nur-Deutsche der anderen Seite – und das Nichtbegreifen, dass zwei Sprachen in einem Land – und natürlich kommt das Friesische noch dazu – ein Reichtum ohnegleichen ist. Wir erleben sowas heute wieder.“vii In diesem Band erschienen zum ersten Mal einige der Zeichnungen, die Grass im Sommer auf der dänischen Insel Møn angefertigt hatte und die er dann in sein letztes Buch Vonne Endlichkait aufnahm.

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Abb. 5 + 6: Heinrich Detering / Günter Grass (Hg.): Die fünffache Seereise. Mit Hans Christian Andersen in Schleswig und Holstein. Neumünster 2014. – Beim Aussuchen der Illustrationen (Foto: Maren Ermisch)


Und auch ein Gedicht, das Grass über Andersen schrieb, ging aus dieser Arbeit hervor. Denn unter den versammelten Texten war auch die Rungholt-Sage, die Andersen, inmitten der dänisch-deutschen Feindseligkeiten, dem geographisch nahen, politisch fernen Theodor Storm nachschrieb. In einem Gespräch, das wir schon am 14. Dezember 2010 begonnen hatten und dann anstelle eines Nachworts druckten, bemerkte Grass: „Mir ist da ein Gedanke gekommen. Das wäre doch eigentlich eine wunderbare Geschichte, die man schreiben müsste: über ein fiktives Treffen zwischen Andersen und Storm.“ Als ich zustimmte, schlug er vor: „das sollten Sie schreiben!“ Zum Glück tat er es dann selber. Das Gedicht Auf der Suche nach der versunkenen Stadt ist 2012, zu seinem fünfundachtzigsten Geburtstag, in dem Band Eintagsfliegen erschienen.
Am Abend nach diesem Gespräch, im von Pfeifenrauch vernebelten Arbeitszimmer in Lübeck, hat Grass mir sein Schatten-Plakat geschenkt, mit einer Widmung. Ich besitze wertvollere Blätter von Grass als dieses Plakat; aber auf ihm liegt für mich der freundliche Schatten einer guten, langen Zusammenarbeit. Er hat die Umrisse Andersens.


i Im Göttinger Archiv findet sich der entsprechende Bestand unter Cod. Ms. Grass-Archiv S.
ii Günter Grass: Nachträgliches. In: Der Schatten. Hans Christian Andersens Märchen – gesehen von Günter Grass. Göttingen: Steidl 2004, 276–278.
iii Aus der unpublizierten Nachschrift eines öffentlichen Gesprächs mit dem Vf. im Lübecker Grass-Haus am 27. März 2014.
iv Robert William Buss: Dickens’ Dream [1870], Ausschnitt. In: Michael St. John Parker: Charles Dickens. London 1973, 12f.
v Johan August Malmström: Andersen imellem hans eventyr. In: Niels Oxenvad: H. C. Andersen. Ein Leben in Bildern. München 1997, 125.
vi Heinrich Detering / Günter Grass: In letzter Zeit. Ein Gespräch im Herbst. Göttingen 2017.
vii Wie Anm. 2.