Abstract zur Dissertation

Über zwei Drittel aller verhängten Freiheitsstrafen werden zur Bewährung ausgesetzt. Die Bewährungsstrafe ist damit – unabhängig ihrer rechtlichen Einstufung als eigenständige Sanktion oder bloßer Modifikation der Freiheitsstrafe – die zweithäufigste Sanktionsart in Deutschland. Dennoch sind viele Aspekte des Rechtsinstituts der Strafaussetzung, insbesondere aus empirischer Perspektive, weitgehend unerforscht.

Die amtlichen Rechtspflegestatistiken geben der Öffentlichkeit, der Rechtspolitik und auch der kriminologischen Wissenschaft nur in ausgewählten Teilbereichen Einblicke in Umfang und Qualität der Rechtsanwendung. Die Strafverfolgungsstatistik des Statistischen Bundesamtes (Fachserie 10, Reihe 3) weist zwar jährlich deliktsbezogen die absoluten Verurteilungszahlen derjenigen Personen aus, deren Freiheits- bzw. Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde. Danach lässt sich eine Aussetzungsquote errechnen und die praktischen Anwendungsgebiete können anhand der Deliktsgruppen einigermaßen sichtbar gemacht werden. Doch schon die kategorisierte Darstellung der verhängten Strafdauer in mehr oder weniger an den gesetzlichen Regelungen orientierten Strafdauergruppen ist dabei allerdings als unzureichend anzusehen. Es ist anzunehmen, dass sich insbesondere im Bereich der Strafen über einem Jahr die Aussetzungsquote differenzierter darstellt. Angaben zum Alter und zur Nationalität der Verurteilten lassen sich für die konkret zu Bewährungsstrafen Verurteilten aus der Statistik nicht nachvollziehen. Angeordnete Bewährungsweisungen und -auflagen werden zwar in ihrer Gesamtheit ausgewiesen, allerdings ist nicht erkennbar, inwieweit eine Unterstellung unter die Bewährungshilfe als wohl wichtigste Weisung erfolgt. Die Bewährungshilfestatistik des Statistischen Bundesamtes (Fachserie 10, Reihe 5) macht zwar Angaben über die jährlich der Bewährungshilfe Unterstellten, allerdings betrifft dies alle Unterstellungsformen, also insbesondere auch die Haftentlassenen mit Strafrestaussetzung oder Führungsaufsicht. Detaillierte Angaben zu den – wohl die große Masse ausmachenden – Verurteilten mit primär ausgesetzten Freiheitsstrafen, insbesondere im Hinblick auf Deliktsqualität, aber auch Vorstrafenbelastung und soziodemografische Aspekte wie Alter, Geschlecht und Nationalität lassen sich nicht herauslesen.

Das Forschungsvorhaben möchte diese unbekannten empirischen Aspekte sichtbar machen, insbesondere um der Gesellschaft und der Rechtspolitik die Bedeutung der Bewährungsstrafen für die soziale Strafrechtspflege in Zeiten zunehmender Repression und verstärkten Forderungen nach härteren Strafen vor Augen zu führen. Unter Rückgriff auf die für die Rückfallstatistik (Jehle/Heinz/Sutterer, „Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen – Eine kommentierte Rückfallstatistik“, hrsg. vom Bundesministerium der Justiz, Berlin 2003) abgesammelten Bundeszentralregisterdaten können die Entscheidun-gen der Gerichte detaillierter untersucht werden als dies die amtlichen Rechtspflegestatistiken hergeben. Aus dem gut eine Million Personen umfassenden Registerdatensatz werden Verurteilte ausgewählt, welche im Bezugsjahr 1994 eine Urteilsentscheidung zu Freiheits- oder Jugendstrafen mit Strafaussetzung zur Bewährung nach §§ 56 StGB bzw. 21 JGG eingetragen haben. Die Daten dieser gut 100.000 Probanden werden hinsichtlich der verhängten Strafdauer, ihrer soziodemografischen Daten, ihrer Delikts- und Vorstrafenbelastung und vor allem auch hinsichtlich einer etwaigen Bewährungshilfeunterstellung analysiert und deskriptiv ausgewertet.

In einem zweiten größeren Teil befasst sich das Forschungsvorhaben mit der Frage nach dem spezialpräventiven Erfolg von Bewährungsstrafen. Diese stellt sich, weil man mit einer Sanktion (zumindest auch) spezial- und generalpräventive Zwecke verbindet: Nach § 46 Abs. 1 StGB ist zwar die Schuld Grundlage der Strafe, sie ist aber nicht alleiniger Maßstab – der Bundesgerichtshof hat mit seiner Schuldrahmentheorie der schon und noch schuldangemessenen Strafe Spielräume für die Berücksichtigung insbesondere spezialpräventiver Erwägungen bei der Strafzumessung eröffnet, was auch in § 46 Abs. 2 StGB zum Ausdruck kommt. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollen zudem bei der Wahl der Strafart und der Modifikation der Strafvollstreckung spezialpräventive Aspekte Berücksichtigung finden. Insbesondere bei der Aussetzung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe nach § 56 StGB entscheiden vornehmlich spezialpräventive Gesichtspunkte über die Sanktionierung des Betroffenen: das Gericht setzt die Vollstreckung zur Bewährung aus, „wenn zu erwarten ist, dass der Verurteilte sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird“. Ähnlich ausgerichtet ist die jugendstrafrechtliche Norm zur primären Strafaussetzung: nach § 21 JGG wird die Jugendstrafe ausgesetzt, wenn zu erwarten ist, dass der verurteilte Jugendliche „künftig einen rechtschaffenen Lebenswandel führen wird“. Der Erfolg der Strafaussetzung kann also darin gesehen werden, dass der Verurteilte keine erneuten Straftaten begeht, mithin nicht rückfällig wird.

Die Registereintragungen der Bewährungsprobanden werden daher ab dem Erfassungsdatum über einen individuell bestimmten vierjährigen Rückfallzeitraum bis 1998 hinsichtlich neuer Verurteilungen ausgewertet. Besonderheiten hin-sichtlich Geschlecht, Alter, Nationalität, Vorstrafenbelastung und Deliktsart werden herausgearbeitet und dabei gesondert die unter Bewährungsaufsicht Ste-henden betrachtet. Auch das Rückfalldelikt und die ihm folgende Sanktion werden untersucht. Die so errechneten Rückfallraten können aber nicht per se als Indiz für Misserfolg angesehen werden, sondern bedürfen sehr sorgfältiger Interpretation. Es geht hierbei insbesondere um die Frage, welchen Grad die Erwartung künftiger Straffreiheit aufweisen muss oder – anders formuliert – wel-ches Rückfallrisiko eingegangen werden darf. Die hierzu angebotenen Formulierungen in Rechtsprechung und Literatur geben kaum Präzisierungshilfe, zudem gibt es keine sicheren Prognosen der Legalbewährung. Es kann sie auch nicht geben, denn zwangsläufig gibt es einen Anteil von Fällen, in denen sich die zugrunde liegenden Erwartungen der Legalbewährung nicht erfüllen, es vielmehr zu Rückfällen kommt. So stellt sich die Frage, ob jede sanktionierte Tat im Rückfallzeitraum auch als Rückfall gezählt werden sollte, oder ob vielmehr nur auf den einschlägigen Rückfall abzustellen ist und unspezifische Straftaten, z.B. Verkehrsdelikte bei ursprünglich wegen Diebstahls Verurteilten, nicht zu berücksichtigen sind.

Auch der Widerruf nach Strafaussetzung wird in diesem Zusammenhang untersucht. Auch hierzu sind die bisherigen Angaben der Bewährungshilfestatistik unzureichend. In Frage steht vor allem, wie häufig und aus welchen Gründen eine Strafaussetzung widerrufen wird.

Da für die Erfolgsbetrachtung der Bewährungsstrafe auch Vergleiche mit ande-ren Sanktions- und Vollstreckungsformen nützlich sind, werden die Resultate zumindest im Überblick der Wiederverurteilungsquote von zu Geldstrafe oder ambulanten jugendrechtlichen Sanktionsmaßnahmen Verurteilten sowie aus dem Strafvollzug Entlassenen gegenübergestellt. Es versteht sich allerdings von selbst, dass etwaige unterschiedliche Erfolgs- und Misserfolgsquoten in erster Linie von unterschiedlichen prognostischen Bewertungen der Verurteilten durch die Gerichte und der damit zusammenhängenden Zuführung zu der jeweils angeratenen Sanktion abhängen werden. Es ist nicht anzunehmen, dass die Gesamtheit der günstig prognostizierten Bewährungsprobanden ähnliche Rückfallquoten hat, wie die Masse der ungünstiger eingeschätzten Vollzugsprobanden. Allerdings soll versucht werden, durch eine Gegenüberstellung von – aufgrund ihrer soziodemografischen Daten, der Delikts- und Vorstrafenbelastung – gleichartigen Probandengruppen mit unterschiedlichen und alternativ verhängbaren Sanktionen und durch die Grundannahme regionaler Sanktionsunterschiede, etwaige Effizienzunterschiede sichtbar zu machen.

Grundlegende Ergebnisse zur Rückfälligkeit konnten bereits veröffentlicht wer-den: Jehle/Weigelt, Rückfall nach Bewährungsstrafen. Daten aus der neuen Rückfallstatistik. in: Bewährungshilfe Jg. 51 (2004), S 149-166.