Frauen(studium) Anfang des 20. Jahrhunderts
„Ich war sehr erfreut, als eine junge Frau mit hübschem, freundlichem Gesicht die Tür öffnete. Später gestand sie mir, dass auch sie bei meinem Anblick angenehm überrascht war. Sie hatte noch nie Studentinnen im Haus gehabt und dachte, sie seien alle alt und hässlich." (Schmidt, 2001)
Als die Philosophin Edith Stein 1913 ihr Studium in Göttingen begann, wurde weiblichen Studierenden noch mit Vorurteilen und Misstrauen begegnet.
Frauen erhielten in Preußen zum Wintersemester 1908/1909 das Recht sich an einer Universität zu immatrikulieren, was zu einer umfassenden Veränderung der Sozialstruktur der Studierendenschaft führte. Zu einer weiteren fundamentalen Änderung kam es zum Wintersemester 1914/1915, als ein großer Teil der männlichen Studierenden die Universität in Folge des ausgebrochenen Weltkriegs verlassen musste. Vom Wintersemester 1908/1909 bis einschließlich Sommersemester 1914 immatrikulierten sich 9800 Männer und 721 Frauen an der Universität Göttingen. Für die nachfolgenden Semester sind die Daten nicht vollständig erhalten.
Die Zahlen stammen aus den Personalverzeichnissen, als den von der Universität herausgegebenen Listen der Mitglieder der Universität, die auch die Studierenden umfassten. Sie wurden ergänzt durch Informationen aus Matrikelbüchern, Vorlesungsverzeichnissen und Zeugnissen. Auf diesem Weg konnten auch die Namen und Studienfächer der immatrikulierten Personen sowie teilweise Geburtsort, Geschlecht, Beruf der Eltern (insbesondere des Vaters), Herkunftsort, Adresse am Studienort und die belegten Veranstaltungen samt verantwortlicher Dozenten ermittelt werden. Die binäre Geschlechterzuordnung der ausgewerteten Quellen wurde beibehalten.
So viele Daten auch erhalten sind, so schwierig lässt sich Vollständigkeit erzielen, weil nicht einmal in den Matrikelbüchern alle Studierenden erfasst wurden. Sodann verwendeten die Schreiber des Kurators unterschiedliche Schreibweisen für Namen und Orte, wodurch Unterschiede zwischen den Ergebnissen dieser Untersuchung und bisherigen Forschungen entstehen.
Die Aufteilung der studierenden Frauen auf Studiengänge und Fakultäten
Die meisten Frauen schrieben sich für Studiengänge der Philosophischen Fakultät ein (ca. 90%) (Abb. 2). Ein Viertel von ihnen wählte entweder ein Studium der Neueren Sprachen oder der Deutschen Philologie. Auch die Studiengänge Mathematik, Naturwissenschaften und Geschichte gehörten mit 16% und jeweils knapp 9% zu den häufig gewählten Fächern an der Philosophischen Fakultät (Abb. 1) (Bis zur Gründung der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät im Jahr 1922 waren die hier erwähnten Studiengänge Mathematik, Physik, Chemie, Geographie und Naturwissenschaften an der Göttinger Universität der Philosophischen Fakultät zugeordnet). Weitere Studiengänge, die von den immatrikulierten Frauen der Universität Göttingen gewählt wurden, waren Philosophie (ca. 3%), Chemie (ca. 2%), Geographie (ca. 1%), und Kameralistik (ca. 1%). Das am wenigsten gewählte Fach an der Philosophischen Fakultät war im untersuchten Zeitraum Physik, das nur jede 200. Studentin belegte (Abb. 1). Mit gut 8% war die Medizinische Fakultät bei den Göttinger Studentinnen die zweithäufigste gewählte Fakultät. Am seltensten wählten die Studentinnen Studiengänge der Juristischen (ca. 1%) und der Theologischen Fakultät (0,3%) (Abb. 2).
Abbildung 1: Studienfächer der studierenden Frauen zwischen 1908 und 1915.
Abbildung 2: Fakultäten der studierenden Frauen zwischen 1908 und 1915.
Der deutlich niedrigere Anteil der Studentinnen an den zuletzt genannten Fakultäten lässt sich unter anderem durch einen starken Mangel an Berufsperspektiven für Frauen nach dem Studium erklären. Hinzu kam, dass die Kirche es den Frauen bis 1909/10 nicht ermöglichte, das erste theologische Examen abzulegen (Tollmien 1999, S. 381). An der Medizinischen Fakultät sprach sich ein Großteil der Mitglieder gegen Frauen an der Universität aus. In den 1850er Jahren wurden diverse Stellungnahmen und Broschüren veröffentlicht, in denen belegt werden sollte, weshalb Frauen nicht für ein Medizinstudium oder gar für die Ausübung einer medizinischen Tätigkeit nach dem Studium geeignet seien. Viele der darin geäußerten Vorbehalte wurden noch Jahrzehnte später von Mitgliedern der Fakultät vertreten (Huerkamp 1988, S. 202). Dem wurde entgegengehalten, dass Frauen für die Behandlung von weiblichen Patientinnen besonders bei gynäkologischen Krankheiten dringend benötigt würden, da viele Frauen sich schämen würden, einen männlichen Arzt aufzusuchen und sich deswegen in Gefahr begäben (Huerkamp 1988, S. 204). Hinzu kamen gesellschaftliche Erwartungen, wonach besonders Berufe in der Pflege der Rolle der Frau entsprachen und sich damit die grundsätzliche Entscheidung für ein Studium rechtfertigen ließ (Huerkamp 1988, S. 209).
Auch die Wahl einiger Studiengänge an der Philosophischen Fakultät war eng verknüpft mit den gesellschaftlichen Rollenbildern. So nutzten einige Frauen ihr Studium als Mittel zum Erhalt ihres sozialen Status, auch wenn viele von ihnen in Betracht zogen, ihr Studium für eine Heirat abzubrechen. In diesem Fall konnten sie ihr Studium der meisten Fächer an der Philosophischen Fakultät als eine Erweiterung ihres Allgemeinwissens ansehen, welche ihnen auch im weiteren Leben als Ehe- und Hausfrau nützen würde, anders als bei Studiengängen anderer Fakultäten (Huerkamp 1988, S. 210). Ein weiterer Grund für das Studium an der Philosophischen Fakultät war, dass es durch den Abschluss des Höheren Lehrerinnenseminars und zwei Jahren praktischer Unterrichtserfahrung an einer höheren Mädchenschule möglich war, sich ohne Abitur zu immatrikulieren. Für viele Frauen stellte dies eine Lösung für das Problem der nicht zugänglichen, aber erforderlichen Vorbildung für das Studium dar (Tollmien 1999, S. 379).
Die soziale Herkunft der weiblichen Studierenden
Adlige Studentinnen an der Universität Göttingen
Seit ihrer Gründung im Jahre 1734 hatte die Göttinger Universität den Anspruch, eine Universität des Adels zu sein (Geyken 2019, S. 15–17). In Folge der Öffnung des Studiums für Frauen immatrikulierten sich nun auch weibliche Adlige. Diese zweifelsfrei zu identifizieren ist jedoch kaum möglich, sodass hilfsweise aus dem Nameszusatz „von“ hierauf geschlossen wird. Anhand der Familiennamen kann mit genealogischen Hilfsmitteln wie dem Gothaischen Handkalender oder Genealogischen Handbuch des Adels die Zuordnung zu Geschlechtern sowie die Abstammung beispielsweise aus Adelsfamilien der Calenberg-Grubenhagenschen Landschaft vorgenommen werden. Obwohl die Universität Göttingen innerhalb der Calenberg-Grubenhagenschen Landschaft liegt, ist überraschend, dass aus nur einer der dort ansässigen Adelsfamilien eine Frau und nur acht Männer in Göttingen studierten.
Zwischen dem Wintersemester 1908/09 und dem Sommersemester 1914 studierten 24 Studentinnen adliger Herkunft in Göttingen, was 3,5 % der Studentinnen entspricht (Abb. 4). Die männlichen Adligen, die in diesem Zeitraum die Universität besuchten, machten annäherungsweise einen Anteil von 2,3 % der gesamten männlichen Studentenschaft aus (Abb. 5), wobei die Datengrundlage unsicher ist. Vermutlich war der tatsächliche Adelsanteil der Studentinnen dem der Studenten vergleichbar.
Adlige Studentinnen belegten im Wesentlichen sieben Fächer, nämlich Geschichte, Neuere Sprachen, Deutsche Philologie, Mathematik, Chemie, Medizin und Naturwissenschaften, wobei die meisten Frauen Geschichte und Deutsche Philologie studierten (Abb. 6). Soweit statistische Aussagen möglich sind, wird ein Unterschied zu den adligen Kommilitonen erkennbar (Abb. 7): Männer studierten mit Abstand am häufigsten Recht, gefolgt von Landwirtschaft und Chemie (Abb. 8). Entsprechende Fächer spiegelten ihre gesellschaftliche Position und die Verwaltung ihres Besitzes. Auch hatten Adlige häufig leitende Positionen im Staat wie in der Armee inne (Carsten 1990, S. 114). Gleichzeitig waren ihre Besitzungen mit Ländereien verbunden, die es effizient zu verwalten und bewirtschaften galt. Adlige Frauen hingegen sollten zwar gebildet sein, aber nur in solchen Dingen, „die sie für Männer attraktiv machten“ (Craig 1981, S. 291).
Abbildung 4: Anteil der adligen und nichtadligen Frauen an der Studentinnenschaft zwischen 1908 und 1914.
Abbildung 5: Anteil der adligen und nichtadligen Männer an der Studentenschaft zwischen 1908 und 1914.
Abbildung 6: Studienfächer der adligen Studentinnen in absoluten Zahlen (da eine Frau ihr Studienfach gewechselt hat, kommt es zu Mehrfachnennung) zwischen 1908 und 1914.
Abbildung 7: Studienfächer der adligen Studenten zwischen 1908 und 1914.
Abbildung 8: Vergleich der Anteile der durch weibliche und männliche Adlige besuchten Fächer zwischen 1908 und 1914.
Abbildung 9: Wohnorte weiblicher Adliger in Göttingen zwischen 1908 und 1914.
Wohnorte der ersten studierenden Frauen 1908–1914
Die Wohnungssuche zu Beginn des Studiums stellte für alle Studierenden einen wichtigen Schritt dar:
Von den 721 Studentinnen, die vom Wintersemester 1908/09 bis zum Sommersemester 1914 an der Universität Göttingen immatrikuliert waren, sind insgesamt 1536 Adressen bekannt, denn in aller Regel wohnten Männer wie Frauen in jedem Semester in einer anderen Wohnung. Marie Lewitzki, um ein Beispiel herauszugreifen, die Physik studierte, zog vom Wintersemester 1911/12 bis zum Sommersemester 1914 vier Mal um: in ihrem ersten Semester wohnte sie in der Lotzestraße 32, im Semester danach im Walkemühlenweg 10, ab dem Wintersemester 1912/13 in der Marienstraße 1 für zwei Semester und ab 1913/14 in der Geismar Landstraße 25b. Lewitzki ist dabei keine Ausnahme: viele wechselten ihren Wohnort.
Eine interaktive Karte zu den Wohnorten der Studierenden zwischen 1908 und 1914 ist hier zu finden.
Von den Adressen lassen sich 525 der Innenstadt zuordnen, 416 der Nordstadt, 311 der Oststadt, 282 der Südstadt und jeweils eine in Weende und eine in der Weststadt.
Abbildung 10: Stadtviertelverteilung der Studentinnen zwischen 1908 und 1914.
Die Studentinnen wohnten also am häufigsten in der Innenstadt, auch wenn insgesamt die Mehrheit außerhalb des alten Stadtwalls lebte. Der Vergleich der Wohnorte der Studentinnen im Wintersemester 1908/09 mit dem Sommersemester 1914 lässt die Tendenz erkennen, dass immer mehr Frauen außerhalb des Stadtwalls wohnten. War 1908 die Verteilung noch relativ ausgeglichen, wohnten 1914 immer mehr Studentinnen im Osten und Norden der Stadt.
Die Wohnlage repräsentierte aber nicht den sozialen Status, sondern lediglich die finanziellen Möglichkeiten der Studentinnen. Vermutlich gilt auch für Göttingen, dass Frauen aus wohlhabenderen Familien und weniger finanzielle Unterstützung als die männlichen Studenten erhielten (Roß 1999, S. 3). Einen Zusammenhang zwischen der Studienwahl der Studentinnen und ihrer Adresse in Göttingen lassen die Daten kaum erkennen.
Abbildung 11: Wohnorte aller Studentinnen nach Studienfächern zwischen 1908 und 1914.
Internationale Studentinnen
Vor dem Hintergrund der sich ändernden internationalen Lage um den Ersten Weltkrieg werden im Folgenden die Daten der Studentinnen bis zum Wintersemester 1915/1916 sowie ergänzend aus dem Wintersemester 1920 herangezogen, um den Wandel untersuchen zu können.
Im Rahmen der Immatrikulation an der Universität musste die Staatsangehörigkeit angeben werden. Studierende aus dem Deutschen Reich nannten folglich ihre Herkunftsländer resp. -provinzen wie Hannover, Westfalen oder Hessen-Nassau. Ausländische Studierende nannten ihre Nationalität. Von den 1142 untersuchten Studentinnen stammten insgesamt 79 (ca. 7%) aus dem Ausland, wobei sich hier auf die damaligen Grenzen und Bezeichnungen bezogen wird.
Abbildung 12: Entwicklung der Studentinnenzahlen insgesamt, darunter Entwicklung der Zahlen ausländischer Studentinnen zwischen 1908 und 1920.
Im ersten Semester mit weiblichen Studierenden, dem Wintersemester 1908/1909, nahmen lediglich drei Frauen aus dem Ausland ihr Studium auf: Hannah Heaton, Brooke Langer und Ruth Woob, allesamt aus den USA. Parallel zur steigenden Anzahl von Studentinnen stieg in den folgenden Semestern auch die Zahl internationaler Studentinnen: Im Sommersemester 1909 waren es bereits sechs, erstmals auch aus Holland und Großbritannien. Das darauffolgende Wintersemester verzeichnete bereits 15. Die größte Anzahl internationaler Studentinnen wiesen das Wintersemester 1911/1912 und das Sommersemester 1912 mit jeweils 19 Studentinnen aus insgesamt sechs Nationen auf. Danach sank die Anzahl der Studentinnen allerdings wieder, was möglicherweise auch auf die sich verschlechternde internationale Lage zurückzuführen ist. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs sank die Anzahl internationaler Studentinnen schlagartig von zwölf im Sommersemester 1914 auf drei im Wintersemester 1914/1915. Die Anzahl erholte sich auch nach Ende des Kriegs nicht wieder. Allerdings verschwanden die internationalen Studentinnen nie vollkommen, doch verringerte sich die Zahl der Herkunftsländer. Nach dem Sommersemester 1915 waren keine aus den USA stammenden Studentinnen mehr in Göttingen eingeschrieben, welche zuvor jedes Semester vertreten und neben Russland das am häufigsten vertretene Herkunftsland ausgemacht hatten. Von den drei verbleibenden Studentinnen im Sommersemester stammten jeweils eine aus Österreich-Ungarn, eine aus der Schweiz und eine aus Finnland. Finnland, damals zwar mit großer Autonomie versehen, aber bis 1917 dennoch unter Kontrolle Russlands, entwickelte zu diesem Zeitpunkt engere Beziehungen zu Deutschland, welche während des finnischen Bürgerkriegs 1918 noch größer werden sollten (Turpeinen 2008, S. 268-270). Sämtliche der verbliebenen, aus dem Ausland stammenden Studentinnen kamen also aus Ländern, die trotz der internationalen Lage noch relativ eng mit Deutschland verbunden waren.
Die Relationen verschoben sich noch einmal nach Kriegsende. Zwar stieg die Anzahl der internationalen Studentinnen auf vier, doch stammten diese nun aus Ländern, die vorher nur selten oder gar keine Rolle spielten. Sigrid-Jutta Lutz stammte aus Norwegen, Berta und Elsbet Dannenberg sowie Margret Behrens aus Britisch-Indien. Diese Studentinnen fallen hierbei aber nicht nur durch ihre deutschen Namen, sondern auch durch ihre Heimatstädte Wolfenbüttel (Zimmermann und Wirstorf), Halle an der Saale (Behrens) und Seesen (Dannenberg) auf.
Abbildung 13: Entwicklung der Studentinnenzahlen aufgeteilt nach Herkunftsländern zwischen 1908 und 1920.
Wie bereits erwähnt bildeten die 29 US-Amerikanerinnen die größte Gruppe. In der Anzahl folgten 18 Russinnen und 18 Studentinnen aus Großbritannien (jeweils drei England, eine Schottland), sechs Studentinnen aus Finnland, fünf aus Britisch-Indien, vier aus Österreich-Ungarn, drei aus der Schweiz, zwei aus Dänemark und jeweils eine aus Holland, Norwegen, Schweden und Frankreich. Im Vergleich zu den Studenten fehlen Länder wie Japan oder Ungarn. Abschließend sei Paule Collet aus Grenoble in Frankreich hervorgehoben, die im Wintersemester 1911/1912 und Sommersemester 1912 immatrikuliert war. Die Tochter des Dekans der Universität in Grenoble stellt die einzige Französin dar.
Abbildung 14: Herkunft der ausländischen Studentinnen als Anteile an der Gesamtzahl zwischen 1908 und 1920.
Die verheirateten Studentinnen
Die gesellschaftlichen Diskurse im Kontext der Öffnung der Universitäten für weibliche Studierende führen zu der Frage, in welchem Umfang weibliche Studierende verheiratet waren. Da die Universität Göttingen allerdings den Personenstand nicht erhob, bleiben als Grundlage einer Untersuchung die von den Schreibern der Zeugnisurkunden vorgenommenen sprachlichen Differenzierungen zwischen „Fräulein“ (unverheiratet) und „Frau“ (verheiratet) sowie Differenzen zwischen den Namen bei der Immatrikulation und in den weiteren Verzeichnissen. Wenn Namensgleichheiten als Indiz für die Ledigkeit angesehen werden, waren die meisten Studentinnen auch bei ihrer Exmatrikulation unverheiratet. Zur Erhöhung der Aussagekraft statistisch greifbarer Entwicklungen wurde der Untersuchungszeitraum bis 1916 und um das Wintersemester 1919 erweitert. Dies hat allerdings den Nachteil, dass in Folge der entstehenden zeitlichen Lücken die Studiendauer verheirateter Frauen nicht exakt analysierbar ist.
Von den insgesamt 1144 Studentinnen waren 20 bereits bei der Immatrikulation verheiratet. Weitere acht Frauen heirateten während ihres Studiums. Insgesamt waren damit ca. 2% der erfassten Studentinnen verheiratet. Vergleicht man den jeweiligen Anteil der Studienfächer bei den Frauen, so ähneln sich die Werte. Studierten 28,5% der verheirateten Frauen Medizin, so waren es bei den Studentinnen insgesamt 21%. Mathematik und Neuere Sprachen sind mit 17% (verheiratet) und 18% (unverheiratet) etwa gleichauf. Ähnlich war es bei Jura (3,5 % der Verheirateten, 2,6 % der Unverheirateten). Bei den Philologien studierten anteilig zu allen Studentinnen 13,6%, von den Verheirateten 11,5%. Philosophie studierten von allen Studentinnen 13,7 %, bei den Verheirateten 10,7 %. In Kameralistik sind es in gleicher Reihenfolge 6% zu lediglich 3,5%.
25,7% aller Frauen stammten aus der Provinz Hannover, was in etwa der Herkunft auch der verheirateten Studentinnen entspricht (22,2%). Aus Hamburg kamen 18,5% der verheirateten Frauen (jedoch nur 6,5% aller Frauen), 14,8% aus dem Rheinland (6,9% aller Frauen). Hinzu traten sodann Sachsen sowie diverse Kleinstaaten des Reichs wie Sachsen-Weimar Eisenach, Hessen-Nassau, Brandenburg, Schleswig-Holstein und Westfalen.
Abbildung 15: Herkunftsprovinzen aller studierenden Frauen zwischen 1908 und 1920.
Abbildung 16: Herkunftsprovinzen der verheirateten Frauen zwischen 1908 und 1920.
Alle Frauen, ledig und verheiratet, verbrachten im Durchschnitt im Zeitraum WiSe 1908/9-1916 und WiSe 1919/20 1,2 Semester an der Universität Göttingen, während verheiratete Frauen geringfügig länger, nämlich 1,6 Semester, studierten.
Abbildung 17: Semester zwischen 1909 und 1920, in denen Frauen studierten. Hellblau eingefärbt die verheirateten Studentinnen, dunkelblau eingefärbt die ledigen Studentinnen.
Die Untersuchung der verheirateten Studentinnen an der Universität Göttingen zeigt, dass nur ein kleiner Teil der Studentinnen während ihres Studiums verheiratet war. Zwischen 1908 und 1916 sowie im Wintersemester 1919/20 waren es lediglich 28 von 1144 Studentinnen, also etwa 2%. Diese geringe Zahl lässt sich teilweise auch durch eine unvollständige Erfassung erklären. Verheiratete Frauen wählten etwas häufiger das Medizinstudium im Vergleich zu den unverheirateten Kommilitoninnen. In anderen Fächern wie Mathematik, Neuere Sprachen, Deutscher Philologie, Philosophie und Rechtswissenschaften zeigten sich keine großen Unterschiede. Fächer wie beispielsweise Geschichte und Naturwissenschaften wurden ausschließlich von unverheirateten Frauen studiert. Frauen aus Hamburg und dem Rheinland waren überdurchschnittlich häufig verheiratet. Verheiratete Frauen verbrachten im Durchschnitt mehr Zeit an der Universität Göttingen.
Geschwister in Göttingen
Anfang des 20. Jahrhunderts gab es keine Gleichstellung der Frau, was auch dazu führte, dass manche Familien zwar bereit waren, Töchtern ein Studium zu ermöglichen, zugleich aber deren Eigenständigkeit zumindest noch zu kontrollieren. Dies hatte zur Folge, dass sich eine nennenswerte Anzahl von Geschwistern an der Universität immatrikulierte. Als Geschwister gelten im Folgenden alle Studierenden, die sowohl in Familiennamen als auch Herkunftsort dieselben Angaben gemacht haben, wobei der Fokus freilich auf den Studentinnen liegt und gemeinsam studierende Brüder hier nicht berücksichtigt werden. Da es sich um mehr als zwei Personen handeln kann, wird im Folgenden die Bezeichnung Geschwistergruppen verwendet.
Abbildung 18: Immatrikulation der Geschwister Pfaff im Matrikelbuch, UniA GOE,Matr., 22, S. 21.
Zwischen 1908 und 1914 lassen sich 64 Geschwistergruppen feststellen, die sich aus 79 Frauen und 60 Männern zusammensetzten. 50 Geschwistergruppen bestanden aus Brüdern und Schwestern, 14 Gruppen ausschließlich aus Frauen.
Zwei der Geschwistergruppen stammten aus dem Ausland: Hans und Olga Leffler kamen aus Veendam in den Niederlanden, während Berta, Georg P. und Georg W. Luckey aus Lincoln in den USA stammten. Von den deutschen Geschwistergruppen kamen zwei aus Bayern, elf aus den östlichen Gebieten des Reichs (Sachsen, Brandenburg, Berlin, Schlesien), neun aus dem Norden des Reichs (insb. Schleswig-Holstein und Bremen). Hingegen gaben 28 Geschwistergruppen Herkunftsorte wie Göttingen, Hannover, Kassel und Braunschweig an, sie kamen also aus dem näheren Einzugsbereich der Universität. Mit 13 Gruppen stammte davon fast die Hälfte direkt aus Göttingen, vier von ihnen hatten einen an der Georg August Universität tätigen Vater. Hierzu gehörten beispielsweise Nerina und Iris Runge, die mit ihren Eltern in der Wilhelm-Weber-Straße 21 lebten – ihr Vater Carl Runge war ordentlicher Professor für angewandte Mathematik. 40 der 64 Geschwistergruppen gaben mindestens für die Dauer eines Semesters eine gemeinsame Adresse in Göttingen an. Hiervon setzten sich 13 Gruppen ausschließlich aus Schwestern zusammen; 27 Gruppen aus Brüdern und Schwestern.
Abbildung 19: Herkunft der Geschwistergruppen zwischen 1908 und 1914.
Die Anzahl der Geschwistergruppen schwankte: Zwischen dem WS 1908-09 und dem Sommersemester 1910 gab es 25 Geschwistergruppen, vom Wintersemester 1910/11 bis Sommersemester 1912 15 Gruppen, vom Wintersemester 1912/13 bis Sommersemester 1914 gab es 24 Gruppen. Da im selben Zeitraum die Anzahl der immatrikulierten Studentinnen stark zunahm, ging die Anzahl der gemeinsam wohnenden Geschwister anteilig zurück.
Dreizehn weibliche Geschwistergruppen begannen ihr Studium zeitgleich in Göttingen. In 11 Fällen starteten die Frauen ihr Studium in Göttingen mindestens ein Semester vor ihren Brüdern. Umgekehrt immatrikulierten sich 19 Studenten mindestens ein Semester vor ihrer Schwester.
Bezogen auf die gemischten Geschwistergruppen studierten 24 Schwestern länger in Göttingen als ihre Brüder – andersherum verbrachten 18 Brüder mehr Zeit in Göttingen als ihre Schwestern.
Bei 396 Angaben von Studentinnen in den Matrikelbüchern zwischen 1908/09 und 1914 lassen sich gesichert Rückschlüsse auf den Beruf des Vaters ziehen. Mindestens 168 Väter hatten studiert, vornehmlich in vier Berufsgruppen: medizinische, lehrende, geistliche und rechtliche Berufe. Zweifelsfrei bestimmen lassen sich 70 Lehrer, 39 Pfarrer, 21 Ärzte und 14 Anwälte. Damit wird zugleich erkennbar, dass ein Großteil der Väter Berufe innehatte, für die kein Studium Voraussetzung war. 42 Studentinnen gaben als Beruf ihres Vaters „Kaufmann“ an, 11 nannten handwerkliche Berufe wie zum Beispiel Schuhmacher, Schneider oder Maler. Eine weitere wichtige soziale Gruppe bildeten Militärs (19 Nennungen) darunter Offiziere mit Rängen wie Oberstleutnant oder Major. Stationiert waren sie hauptsächlich in den Provinzen Sachsen, Brandenburg oder Hannover. Nennenswert waren auch Landwirte (13 Nennungen). 6 weibliche Studierende gaben an, einen ‚Rentner‘ als Vater zu haben, was mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlich bedeutete, dass die jeweiligen Familien von den Einnahmen aus verpachteten Ländereien lebten.
Abbildung 3: Berufe der Väter studierender Frauen zwischen 1908 und 1914.
Überraschenderweise waren 73 weibliche Studierende Halbwaisen, wobei stets der Vater bereits verstorben war – bei einer Studentin waren gar beide Eltern verstorben. 13 Studentinnen machten keine Angaben zu ihrem verstorbenen Vater, doch 9 der verstorbenen Väter waren Lehrer, 8 waren Kaufmänner, 7 waren Ärzte, 7 Pfarrer und 4 Offiziere. Die Studienfächerwahl der Halbwaisen unterschied sich nicht grundlegend von der der übrigen weiblichen Studierenden: 16 weibliche Halbwaisen belegten den Studiengang Mathematik, 14 Studentinnen belegten Neuere Sprachen, 11 studierten Deutsch, 10 Geschichte, 9 Naturwissenschaften und 5 Philologie.
Anders als bei den männlichen Studierenden gab es vergleichsweise selten einen direkten Bezug zum Beruf des Vaters. Immerhin haben doch 5 von 20 Töchtern von Medizinern ebenfalls ein Medizinstudium aufgenommen. Bei den Vätern, die den Lehrerberuf ausgeübt haben, studierten 13 von 65 Neuere Sprachen, 15 Deutsch und 6 Mathematik. 3 der 11 Studentinnen mit einem Vater im Handwerk studierten Medizin, 2 Deutsch. Die restlichen 6 Studentinnen studierten jeweils ein anderes Fach.
Nach Schmoller lassen sich die sozialen Strukturen Anfang des 20. Jahrhunderts in Form einer Pyramide darstellen: Zuoberst die aristokratische und vermögende Gruppe der Großgrundbesitzer und Großunternehmer, sowie hohe Beamten und Ärzte, Anwälte und Rentiers. Zweitens der obere Mittelstand, dem Unternehmer und mittlere Grundbesitzer, die Mehrzahl der Freiberufler und die höheren Beamte zugehörig waren. Drittens der untere Mittelstand, der sich aus Handwerkern, Kleinhändlern, mittleren Beamten, Werkmeistern, Facharbeitern und Kleinbauern zusammensetzte. Und viertens die untere Klasse, die von Lohnarbeitern, armen Handwerkern und Kleinstbauern dominiert wurde (Wehler 1987, S. 701). In den Matrikelbüchern macht der handwerkliche Beruf hingegen den kleinsten Anteil aus, wohingegen akademische Berufe, wie Arzt, Jurist oder Lehrer, einen relativ großen Anteil haben. Ein Großteil der Väter gehörte also zur aristokratischen und vermögenden Gruppe oder zur Gruppe des oberen Mittelstands. Die Familien mussten also zumindest über ausreichende finanzielle Möglichkeiten verfügen, um ihren Töchtern einen Universitätsbesuch an der Georg August Universität zu ermöglichen. Die Lebenssituation der Studentinnen, deren Väter verstorben waren, unterschied sich von den Studentinnen, die keine (Halb) – Waisen waren, denn ein Großteil der Halbwaisen studierte Neuere Sprachen, Deutsch, Geschichte oder Naturwissenschaften. Es liegt nahe, dass diese Studentinnen eine finanziell und sozial sichere Karriere anstrebten, wie den Lehrerinnenberuf.