In publica commoda

Über die Kunst, eine Universität zu steuern

Rede anlässlich der akademischen Feier zur Übergabe des Präsidentenamtes am 10. Januar 2005

Mein Vorgänger verglich in seiner Abschiedsrede die Universität mit einem großen Tanker. Mir kommt eher das Bild eines Segelboots in den Sinn. Jedenfalls erscheint mir dieses Bild plausibler, wenn ich mich von den Eindrücken leiten lasse, die sich mir oft aufdrängten, als ich auf unserem Jollenkreuzer am Chiemsee gerade die Universität zu vergessen suchte. Offenbar gibt es gewisse Formübereinstimmungen. Der Steuermann steckt einen Kurs ab, hat eine Strategie, aber die Mannschaft - auf dem Boot meist meine Frau - erweist sich als widerspenstig. Man plant mit Blick auf die Umgebung, Landschaft und Wetterlage. Doch überraschend und unvorhersehbar verändern sich die Bedingungen. Ein Wärmegewitter baut sich auf und entlädt sich mit großer Gewalt; das lokale Wetter überlagert das allgemeine. Schnell muss die Strategie auf die neuen Verhältnisse eingestellt werden; Segel wechseln oder reffen, Kurs anpassen, abwettern. Das Können von Steuermann und Mannschaft, ihr Wissen und ihre Erfahrungen, ihr Reaktionsvermögen, ihre Improvisationskunst, ihre Kooperationsfähigkeit werden aufs Höchste gefordert. Denn nur dadurch kann das Boot doch noch ins Ziel, vielleicht auch nur in einen sicheren Hafen gebracht werden. Sperrige Mannschaft, plötzlich umschlagende Anforderungen, widrige Rahmenbedingungen, Reaktionsdruck - sind das nicht alles auch Faktoren, die die Steuerarbeit in der heutigen Universität charakterisieren?

Man darf eine Metapher nicht überziehen. Deshalb folgt sogleich eine theoretische Fassung des Problems - unter Rückgriff auf Erklärungsangebote der Sozialwissenschaften. In der Typologie unterschiedlicher Organisationsformen steht die Universität für einen ganz bestimmten Typus der Organisation: den Typus der lose verkoppelten komplexen Organisation. Cohen und March haben schon vor Jahren diese Organisationsform genauer analysiert - und zwar eben am Beispiel der Universität. Sie bezeichnen die Universität mit einem provozierenden, aber doch zutreffenden Begriff als "organisierte Anarchie". In einer solchen „anarchischen“ Organisation sind die Ziele, die verfolgt werden, unbestimmt, die Organisationsabläufe sind unklar, und die Mitgliederpartizipation ist schwankend. Diese Offenheit und Ungerichtetheit anarchischer Organisationen führen zu Ambiguitäten im Sinne von inkompatiblen Rollenerwartungen. Die Standardprozeduren der Steuerung – insbesondere die der Kontrolle und der Bürokratie – können nicht greifen, setzen diese doch voraus, was organisierte Anarchien bzw. anarchische Organisationen gerade nicht besitzen: Eindeutigkeit, also keine Ambiguitäten, und Berechenbarkeit. Organisierte Anarchie - das klingt nach schlechter Organisation – ist aber keineswegs immer schlecht. Es kommt ganz auf die Funktionen an, die eine Organisation letztendlich erfüllen soll. Bei bestimmten Leistungen – insbesondere bei solchen des Entdeckens und Entwickelns neuer Problemlösungen, das sind originär universitäre Leistungen – ist das Anarchische in der Organisation geradezu funktionsnotwendig – unersetzbar. Die Aufgabe, die es hier zu lösen gilt, ist nicht die der Überwindung oder Abschaffung der organisierten Anarchie an sich. Die Aufgabe besteht vielmehr darin, die Methode der Steuerung „durch die Ambiguitäten hindurch“ zu finden. Cohen/March verwenden in diesem Zusammenhang ebenfalls das Bild des umsichtigen Skippers und schlagen eine Reihe taktischer Regeln vor, auf die ich noch zu sprechen kommen werde.

Die Überlegung, daß Rollenambiguitäten das spezifische Steuerungsproblem von Universitäten darstellten, gewinnt an Überzeugungskraft dann, wenn man den Ursachen dieser Ambiguitäten systematischer nachgeht, als Cohen/March es tun. Man muß dafür nur die Rolle des Steuermanns in ein komplexes Mehrebenensystem einbetten. Im Fall der Universität, einem Mehrebenensystem par excellence, bestehen diese verschiedenen Ebenen

  • a) intern aus den Arbeits- und den Leitungsebenen der Universität selbst, dann
  • b) extern aus den Ebenen des Trägerstaats, des Bundesstaats, der suprastaatlichen EU, der Wissenschaftsförderorganisationen und der Partner in der private-public partnership.


Steuern in Mehrebenensystemen ist, das wissen wir aus der politikwissenschaftlichen Regierungslehre (Scharpf, Kohler-Koch, Jachtenfuß etc.), generell ein Abenteuer. Denn keineswegs ist sicher, dass von den verschiedenen Systemebenen eindeutige, beständige und vor allem kompatible Erwartungen und Vorgaben an die Steuerungsebene adressiert werden. Oft ist das Gegenteil der Fall – und dies begründet dann jene Rollenambiguitäten bzw. -inkompatibilitäten, von denen Cohen und March sprechen. Solche Ambiguitäten sind keineswegs leicht aufzulösen. Daher scheint das theoretische Konzept des Mehrebenen-systems einen Steuerungspessimismus nahezulegen: das heißt, man schreibt den Mehrebenensystemen generell eine mangelhafte Problemlösungskapazität zu. Auf die Universitäten bezogen, hieße dies dann (wie ja oft auch behauptet wird), dass sich diese letztlich überhaupt nicht steuern ließen und deshalb, von Entscheidungsblockaden gehemmt, ihre Probleme gar nicht lösen könnten. Diese Sicht der Dinge ist allerdings, folgt man der neueren Forschung (deren Hauptgegenstand freilich in der Mehrebenenpolitik in Europa und nicht in den Universitäten liegt) viel zu einfach. Ob es tatsächlich zu Steuerungspathologien kommt, hängt vom jeweils konkreten Aufgabenfeld ab. In manchen Feldern eröffnet die Mehrebenenbindung des Steuerungshandelns nachweislich sogar die Chance zu originellen und neuen Problemlösungen: schließlich stiften inkompatible Rollenerwartungen nicht zwangsläufig Verwirrungen und Blockaden, sondern manchmal auch Spielräume für eigene Interpretationen.

Rollenambiguitäten / inkompatible Rollenerwartungen in Mehrebenensystemen als Schwierigkeit und als Chance --- diesen Gedanken will ich nun am Beispiel des Steuerns einer Universität genauer durchspielen.

Die wichtigste externe Ebene, mit der die Universität bzw. ihre Leitung verbunden sind, ist die des Staates in der Form des Trägerlandes. Das Land Niedersachsen finanziert – das ist zwar seine Aufgabe, wir sind ihm dafür dennoch dankbar – den größten Teil unserer laufenden Kosten und viele unserer Investitionen. Das Land wirkt darüber hinaus durch seine Gesetzgebung und durch die konkretisierende Staatsaufsicht vielfach gestaltend auf die Universität ein.

Die "Finanzhilfe" des Landes für unsere Universität ist bekanntlich in den letzten zehn Jahren immer wieder vermindert worden - insgesamt um 20 Millionen Euro (ohne Medizin), das sind 12% des Ausgangsbetrags. Diese Kürzungen erfolgten schubweise: mit dem "Hochschulstrukturkonzept" 1995, der "Innovationsoffensive I" 1999, dem "Innovationspakt II" 2001, schließlich mit dem "Hochschuloptimierungskonzept" 2004. Alle Eingriffe waren mit der Ankündigung bzw. mit dem Versprechen einer Planungssicherheit für die darauf folgenden Jahre verknüpft – doch blieb, wie wir immer wieder erfahren mussten, das reale Handeln nicht beim Wort. Was die gestaltenden Eingriffe des Landes in die Universität anbelangt, so erlebten wir im selben Zeitraum zwei verschiedene niedersächsische Hochschulgesetze in insgesamt sechszehn Fassungen. Die Gesetzesinhalte wiesen mal eine Tendenz zu mehr Detailsteuerung auf, mal wurde entfrachtet, um dann wieder auf mehr Detailsteuerung zurückzugehen. Die Legitimität und übergeordnete Weisheit dieser staatlichen Vorgaben will ich nicht in Zweifel ziehen. Aber eines darf doch ohne jede Bewertung festgehalten werden: Bei aller Benevolenz der Universität gegenüber erwies sich das Land für uns auch als ein ambivalenter Partner, weil es uns neben der Zuwendung auch immer wieder schwer verarbeitbare Anpassungsschocks brachte.

Die wichtigste Ebene im Innern der Universität ist natürlich die des wissenschaftlichen Handelns: das heißt die Ebene der Lehrstühle, Institute, Seminare. Wissenschaft ist, wie schon Derek de Solla Price in seiner berühmten Studie "Little Science, Big Science" aufzeigte, über lange Perioden hinweg eine Wachstumsindustrie gewesen. Diese Expansionserfahrungen haben die Vorstellung geprägt, neue Probleme könnten jeweils durch ein Mehr an Mitteln gelöst werden. Sie, diese Vorstellung, kennzeichnet immer noch das durchschnittliche Wissenschaftlerbewusstsein – und zwar so sehr, dass die extreme Ressourcenknappheit, der wir uns mittlerweile gegenübersehen (John Ziman spricht hier schon von einer „steady state-Wissenschaft“ – einer Wissenschaft unter dem Vorzeichen von finanziellem „Auf-der-Stelle-Treten“), geradezu das ganze Ethos vieler Kollegen durcheinanderbringt. Doch sind es nicht solche mentalen Residuen allein, die die Wissenschaftler in Opposition zu den Sparaktionen des Staats bringen. Max Plancks Satz, jede zusätzliche Einheit neuen Wissens koste mehr als die vorherige, mag zwar kein ehernes Gesetz der Wissensökonomie sein. Konsequentere Bemühungen um Schwerpunktsetzungen, um Synergiebildung, aber auch um Kostenbewusstsein und -verantwortung können dem Kostenauftrieb durchaus entgegenwirken – und tun dies mittlerweile auch. Nichtsdestotrotz erfordert moderne Wissenschaft, soll sie weitere kognitive Erträge bringen, enorme Aufwendungen für hochqualifiziertes Personal, für verfeinerte Instrumentierung und für die Infrastruktur. Entsprechend groß ist der Anstieg unserer Berufungskosten in den vergangen 25 Jahren gewesen; Neurobiologie +125%, quantitative Sozialwissenschaften +417% etc. – Hier dürfte sich in der Zukunft ein Hase-Igel-Rennen mit den deutschen Südländern abzeichnen ...

Teils in der opportunistischen Absicht, den Erwartungen der Kollegenschaft zu entsprechen, überwiegend aber auch aus dem Rollenzwang heraus, für die eigene Universität auskömmliche Arbeitsbedingungen zu sichern, wird die Leitungsebene der Universität wiederum versuchen, ein möglichst großes Stück des nun kleineren Staatskuchens an sich zu ziehen. Damit begibt sich die Universitätsleitung in die Position des Lobbyisten in Sachen Universitätsfinanzierung, wenn nicht gar in die eines Kämpfers, der um mehr staatliche Zuwendungen streitet. Getrieben durch diese Kräfte, verwandelt sich die Universität nolens volens in eine Interessengruppe neben anderen ( in: "just another interest group like Big Oil", so der Stanford Präsident Donald Kennedy). Kein Wunder, dass die Universität dann auch oft von der Politik als bloße Interessengruppe behandelt wird. Statt der Vorstellung nachzuhängen, als Träger einer übergeordneten (universalen) Wissenschaftskultur sakrosankt zu sein, sieht sich die Universität nun gezwungen, den Elfenbeinturm zu verlassen und sich ins Getümmel der Interessenkämpfe zu stürzen. Ist sie aber erst einmal zum vermeintlich partikularen Interessenverband "abgewertet" , kann der Staat/die Politik der Universität genau mit jener instrumentellen Gleichgültigkeit, ja demonstrativen Herablassung begegnen, mit der er/sie auch andere Interessenverbände behandelt. Der Umstand, dass die Universität, nach außen vertreten durch ihren Präsidenten, um ihre Interessen stärker kämpfen muss als früher, macht sie unbeliebt - und dies wiederum macht die Universität politisch verletzbar. Die staatlichen Restriktionen schaffen sich dann gleichsam ihre eigene Rechtfertigung. Es ist ein schwacher Trost, dass wir diese Erfahrung mit unseren Kollegen im Ausland teilen – auch mit den Kollegen in den vielgelobten USA. (Jeffrey Selingo 2003: „What we’re seeing is a systematic, careless withdrawal of concern and support for advanced education in this country at exactly the wrong time.”)

Was ich hier in einem ersten Zugriff beschreibe, ist eine vereinfachende Version des Mehrebenen-Systems "Universität". Bereits in dieser Vereinfachung sieht man, dass die organisatorische Einbettung und Ausgestaltung der Universität außerordentlich unberechenbar und widersprüchlich (geworden) ist. Die externen Kräfte, die von der staatlichen Ebene ausgehen, und die internen Druckfaktoren, die der Wissenschaft eigen sind, passen nicht richtig zusammen. Ihr unkoordiniertes Aufeinandertreffen löst Turbulenzen aus, die in einen circulus vitiosus einmünden könnten. Koordination ist gefragt - doch wer könnte sie sicherstellen? Gar die Universitätsleitung, bei der sich diese Mängel als inkompatible Rollenerwartungen oder, um Cohen und March aufzugreifen, als Rollenambigiutäten äußern?

Bevor ich hierauf Antworten zu geben versuche, ist das Modell des Mehrebenensystems "Universität" noch weiter auszufächern - dies in zwei Richtungen: Erstens in vertikaler Hinsicht: Über dem Trägerland liegt die Ebene des Bundesstaates, über dieser die supranationale Ebene Europa. Zweitens in horizontaler Hinsicht: Die Universität sucht sich neue Partner jenseits des Staates: Wissenschaftsfördereinrichtungen, Wirtschaft, andere gesellschaftliche Gruppen usw.

Was den Bund anlangt, so erscheint es für eine Hochschule unter den gegebenen Umständen, angesichts der Enge der Landeshaushalte, prinzipiell als Vorteil, wenn sie für ihre Finanzierung auch Bundesquellen in Anspruch nehmen kann: wenn also die Finanzlasten auf mehrere staatliche Schultern verteilt werden können – nicht allein auf den Trägerstaat, sondern (natürlich zu notwendig wesentlich kleineren Teilen) auch auf den Bund im Rahmen der Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgaben, der Ressortforschung der Bundesressorts wie auch der Sonderprogramme des Bundes. Als Chance zur Erweiterung der Hochschulfinanzierung haben denn auch viele von uns die Initiative des Bundes zur Förderung sog. Eliteuniversitäten ebenso begrüßt, wie sie es bedauern, dass diese Idee im Hin und Her der Föderalismusreform bisher keine Chance hatte.

Allerdings ist der Bund für die Universitäten ebenfalls ein ambivalenter Partner. Denn nur wo die Beteiligung des Bundes quasi zweckfrei, im Rahmen der „allgemeinen Hochschulförderung“, erfolgt, erweitert sie eindeutig – das heißt: ohne Koppelgeschäft – die Dispositionschancen der Universitäten bzw. der Selbstverwaltungsorganisationen, denen diese angehören. (Ein positives Beispiel: Programm „DFG-Forschungszentren“ aus UMTS-Mitteln!) Oft sind die Vergabeentscheidungen aber in das Bemühen des Bundes eingebunden, die Entwicklungslinien in der Hochschulpolitik durch eine Kombination von überzogener Rahmenregelung einerseits und von finanziellen Offerten andererseits vorzuzeichnen. (Das haben wir in letzter Zeit besonders deutlich erlebt – siehe „Dienstrechtsreform“ mit Anschubfinanzierung!) In solchen Fällen bringt die Bundesbeteiligung den Universitäten statt echter neuer Spielräume nicht nur ein Mehr an zentralstaatlichem Bürokratismus; sie verführt unter Umständen auch zum innovationsadversen Opportunismus.

Für die Universitäten ist der Bund im Vergleich zum Land also keinesfalls der „bessere“ Staat. Er mag helfen, Lücken zu schließen, die die Landesfinanzierung lässt – er tut dies jedoch nur nach engen eigenen Gesichtspunkten und unter der Voraussetzung, dass die Universität sein Spiel mitspielt. Nicht immer sind wir gut gefahren, wenn wir uns auf dieses Spiel eingelassen haben (siehe „Juniorprofessur“!). Das Wort von der instrumentellen Gleichgültigkeit gegenüber der Universität gilt somit im Prinzip für die beiden Ebenen des Staates bzw. für beide Lager der Politik. (Ausnahmen, Herr MP, könnten die Regel bestätigen!) Nur nimmt dieser Instrumentalismus je nach Akteur und Problemlage andere Formen an. Diesen Sachverhalt hatte wohl der Präsident der HRK vor Augen, als er mit Bezug auf das „Eliteprogramm“ davor warnte, die Politik würde die Universitäten in Geiselhaft für ihre jeweiligen speziellen Absichten nehmen: ein berechtigter und notwendiger Einwand, mit dem uns jedoch eine spieltheoretische Regel versöhnen könnte: dass zwei gegenläufige instrumentelle Kräfte immer auch damit rechnen müssen, vom Objekt ihres Zugriffs selbst unterlaufen zu werden – und zwar mittels einer Strategie, die diese Gegenläufigkeit für sich zu nutzen sucht. Damit wären wir wieder bei einem aktuellen Aspekt des Steuerns von Universitäten.

In der Systematik meines Arguments müsste ich an dieser Stelle auf die suprastaatliche Ebene, auf die Ebene der Europäischen Union, zu sprechen kommen. Ich kann diesen Punkt hier heute allerdings knapp halten, weil Herr Dr. Krull bereits ausführlich beides betont hat: die Handlungschancen, die die EU den wissenschaftlichen Einrichtungen im Lande bietet, wie auch die Engführungen, die mit den Europäischen Programmen immer noch verbunden sind. Deshalb bekräftige ich hier nur, dass die europäische Ebene mittlerweile einen wesentlichen Teil des Verflechtungszusammenhangs, in dem wir stecken, darstellt. Dabei gilt: Auch wenn die EU ihre wissenschaftspolitischen Steckenpferde reitet, ist sie doch ein Verbündeter der Universitäten im Mehrebenensystem. Schließlich muß sie die Position Europas in der globalen Standortkonkurrenz – insbesondere gegenüber den USA – stärken und der in fast allen Mitgliedstaaten beobachtbaren Tendenz, den Stellenwert von Forschung und Entwicklung zu gering zu schätzen, entgegenwirken.

Nun will ich noch den letzten Punkt meiner Beschreibung des Mehrebenensystems „Universität“ streifen – und zwar deren horizontale Verflechtung.

Dieses System „Universität“ ist inzwischen auch deshalb so kompliziert geworden, weil die Universitäten aus den skizzierten Gründen unbedingt versuchen müssen, ihre vertikale Abhängigkeit zu vermindern: Aktivitäten und Kooperationen auf horizontaler Ebene werden wichtiger. Zu diesen horizontalen Aktivitäten gehört zunächst und vor allem die Inanspruchnahme der Programme der Wissenschaftsförderorganisationen, aus deren Bewilligungen eine starke Universität heute einen beträchtlichen Teil ihrer Aufwendungen bestreitet (wir - ohne Medizin - zu 10%, wobei nur DFG- und Stiftungsmittel gezählt wurden). Der Vorteil dieser Mittel liegt in ihrer Vergabe nach rein wissenschaftlichen, somit universitätsadäquaten Kriterien. Zuwendungen aus privaten Quellen und aus wirtschaftlichen Eigenaktivitäten haben ebenfalls an Bedeutung gewonnen. Deshalb bauen wir unsere Kontakte zu potentiellen Spendern, Sponsoren, Förderern und Ehemaligen professionell aus, stellen neue Kontakte her und mobilisieren private Quellen für die Weiterentwicklung der Universität . In diesem Zusammenhang ist die gemeinsam mit Partnern aus der Wirtschaft vollzogene Gründung der Beteiligungsgesellschaft InnoCap zu erwähnen, die auf „spin-offs“ aus der universitären Forschung abzielt. Jeder sachverständige Beobachter weiß freilich, dass aus den letztgenannten Aktivitäten zur Zeit allenfalls ein ganz kleiner Teil der laufenden Kosten einer deutschen Universität finanziert werden kann (bei uns 0,5%). Mittel- oder langfristig könnten wir indes eine Größenordnung von 5% erreichen – und dies wäre dann ein Betrag, der nicht nur vom Volumen her, sondern insbesondere auch wegen seiner relativ freien Verwendbarkeit für die Ausgestaltung der Universität von beträchtlicher Bedeutung wäre. Auch wenn diese horizontalen Aktivitäten inzwischen unverzichtbar geworden sind, dehnen sie doch das Aktionsfeld einer Universität enorm aus und machen es noch heterogener.

Damit wäre ich tatsächlich am Ende meiner Beschreibung. Sie sollte veranschaulichen, warum man sagen kann, die Universität selbst bilde ein Mehrebenensystem und sei in ein komplexes Geflecht vertikaler und horizontaler Verknüpfungen eingebunden. Diese Einbettung, auch dies hatte ich schon angedeutet, hat eine negative und eine positive Seite. Negativ ist, dass jede dieser Ebenen für die Universität unberechenbar ist, man sich insbesondere auf die übergeordneten Ebenen wenig verlassen kann, weil von ihnen unkoordinierte Impulse ausgehen, deren Bearbeitung wiederum zu unvorhersehbaren Dynamiken führen kann. Das gesamte Gefüge ist höchst volatil. Selbst wenn es schwierig ist, diese Offenheit im konkreten Organisationsalltag zu bewältigen: Ihr ist andererseits etwas Positives eigen, denn Offenheit bedeutet immer auch Gestaltbarkeit nach eigener Disposition. Um kompetent gestalten, den eigenen Kurs finden und halten zu können, muß man allerdings die Merkmale des Mehrebenensystems „Universität“ in der eigenen Organisation erkannt und verstanden haben.

Diese „Arbeit am Kurs“ - dieses „Steuern“ - ist die Aufgabe der Universitätsleitung, insbesondere des Präsidenten. Was muß er können, damit diese Aufgabe angesichts der Komplexität der Rahmenbedingungen gelingen kann? Welche Eigenschaften muß er haben? Für eine Antwort greife ich auf Cohen und Marchs Regeln der Steuerung anarchischer Organisationen zurück, die ich allerdings zuspitze und in eigene Worte fasse:

  • 1) Vermeide feste Machtkoalitionen, schließe Bündnisse je nach Projekten und Gegebenheiten. Auf diese Weise können die vielfältigen Ideen, die es in einer Universität gibt, zur Geltung kommen und kann die Herausbildung eigener Seilschaften und fester Oppositionsblöcke verhindert werden.
  • 2) Leite unaufdringlich, setze die Wirkung der Eingriffe über deren demonstrative Sichtbarkeit. Universitäten können nicht dorthin getrieben werden, wo man sie vielleicht haben möchte. Man bewegt sie am besten, wenn man ausgiebig von ihren „natürlichen“ organisatorischen Dynamiken Gebrauch macht.
  • 3) Halte Ablademöglichkeiten bereit („provide garbage cans“). In einer Universität gibt es immer einen Überschuß an mehr oder weniger interessanten, sich widersprechenden Ideen. Diese müssen sich äußern können, dürfen dann aber die Entscheidung nicht blockieren. Zur letztlich notwendigen Komplexitätsreduktion braucht man „garbage cans“, in die überschüssige Ideen gesichtswahrend versenkt werden können.
  • 4) Sei beharrlich – „persist“. In einer Universität lösen auch gute Ideen spontan oft Gegenargumente aus. Es ist jedoch ein Irrtum anzunehmen, dass man einen abgelehnten Vorschlag mit guten Argumenten in nachhaltiger Diskussion nicht doch noch durchsetzen könnte.



Meinem Nachfolger will ich zurufen, dass sich mit solchen Regeln eine Universität sehr wohl steuern lässt – wenn ich auch Clark Kerrs (eines guten Soziologen und erfahrenen Berkeley-Präsidenten) Kommentar zu Cohen/March nicht verschweigen möchte. Dieser lautet: „In the end, however, a president must continue to live with the fact that a wide assortment of factors can overwhelm the impact of any action he takes.”

Ich bin froh, dass ich mich gut sechs Jahre lang der Herausforderung der Steuerarbeit in unserer Universität stellen durfte. Wenn wichtige Manöver gelungen sein sollten, dann nur mit der Unterstützung, die ich bei vielen von Ihnen gefunden habe. Besonders hervorheben muß ich hier die Vizepräsidentinnen und Vizepräsidenten, die mit mir zusammen das Präsidium gebildet haben. Für diese Hilfe empfinde ich in dieser Stunde des Abschieds besonders große Dankbarkeit.

Indem ich an die sechs Jahre zurückdenke, beschleicht mich allerdings auch das Gefühl, dass ich unserer Universität manchmal zu viel zugemutet haben könnte. Um, jetzt in einer Formulierung Jon Elsters, noch einmal zur Bootsmetapher zurückzukehren: Wir haben die gute alte "Georgia Augusta" mehrfach bei voller Fahrt und auf hoher See umgebaut. Ich hoffe jetzt nur, das geschah, ohne den Rumpf zu beschädigen.

Veröffentlichung:
Über die Kunst, eine Universität zu steuern, in Göttinger Universitätsreden, (ed.) Akademische Feier zur Übergabe des Präsidentenamtes in der Aula am 10. Januar 2005, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005, pp. 35-48.