„Wir sind Verbraucher!“

Vergänglichkeit und Pfeifenrauch im unveröffentlichten Gedicht „Siegfried Lenz gewidmet“


von Max Rauser

Dass das Rauchen in Günter Grass’ Gesamtwerk durchgängig eine wichtige Rolle spielt, haben Svenja Brand und Lisa Kunze im letzten an dieser Stelle veröffentlichten ‚Fundstück‘-Text Rauchen als Existenzbeweis vorgeführt. Da ein Fundstück die Augen für das nächste schärft, werden dieser Untersuchung hier noch drei Gedichte nachgeliefert, die gleichzeitig Anlass bieten, Grass’ letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichtband Eintagsfliegen. Gelegentliche Gedichte (Steidl Verlag 2012) vorzustellen.
Die Gedichte in Eintagsfliegen entstanden während der Arbeit an neuen Radierungen für die Ausgabe zum 50. Jubiläum der Hundejahre1. Grass druckte neben allen Gedichten in diesem Band Zeichnungen der titelgebenden Eintagsfliegen ab. Als Symbole der Vergänglichkeit umschwirren sie die Texte, bilden in ihrer lockeren Dynamik einen Gegenpol zu den mitunter schweren Themen des Bandes – und rücken doch gleichzeitig diejenigen Gedichte, in denen es nicht von vornherein um Alter und den Tod von engen Vertrauten geht, in den Bereich der Vergänglichkeit. Der Name ‚Eintagsfliegen‘ kleidet eben „eher die Menschen […], / gemessen an ihrer Frist.“ 2
In dem Gedicht „Siegfried Lenz gewidmet“, das zwar mit den anderen Gedichten entstanden ist, dann allerdings nicht veröffentlicht wurde, spürt auch das lyrische Ich die Bedrohung der eigenen Existenz durch das Alter nur allzu deutlich:

lenz gewidmet
Abb. 1: Das Gedicht „Siegfried Lenz gewidmet“. Cod. Ms. Grass-Archiv Ef A 3.
© Steidl Verlag und Günter und Ute Grass-Stiftung


Siegfried Lenz gewidmet

Mein Streichholzverschleiß nimmt zu.
Immer häufiger geht die Pfeife aus,
liegt kalt in der Hand,
und zwingt mir Gedanken auf.
Schon glaube ich, den Sinn des Lebens
In Kurzfassung erkannt zu haben:
Wir sind Verbraucher!

Schnell – und um nicht ins Leere zu kippen –
gebe ich mir Feuer, bestätige mich mit Rauchsignalen,
bin sozusagen erkennbar da
und empfinde mich heiter,
weil jenseits aller Vernunft.



Grass’ Schriftstellerkollegen Siegfried Lenz ist das Gedicht wohl vor allem deshalb gewidmet, weil er die zwei darin kombinierten Motive – hohes Alter wie notorisches Pfeifenrauchen – mit Grass teilte. Lenz verstarb 2014, zwei Jahre nach Veröffentlichung der Eintagsfliegen, Grass selbst 2015. Beide Nachkriegsschriftsteller waren vor allem im Alter kaum noch ohne Pfeife in der Hand denkbar.
Die Zeichnung, die dem Gedicht im Band hätte beigefügt werden sollen, zeigt eine Pfeife, der anstelle von Qualm ein Schwall Eintagsfliegen entweicht. Die Pfeife als Symbol der sich ver(b)rauchenden Lebenskraft und die Eintagsfliegen, die im Buch für die Endlichkeit des Lebens stehen, werden so im Bild zusammengeführt.

Pfeife als Symbolk
Abb. 2: Die Zeichnung, neben der „Siegfried Lenz gewidmet“ in Eintagsfliegen veröffentlicht worden wäre. Cod. Ms. Grass-Archiv Ef B 5.
© Steidl Verlag und Günter und Ute Grass-Stiftung


Diese Pfeife am Brennen zu halten, wird für das lyrische Ich zunehmend anstrengender. Sie erlischt „[i]mmer häufiger“ und erinnert es damit – memento mori – an das Ende des Lebens. Dieser Eindruck beschließt die erste Versgruppe: „Wir sind Verbraucher!“ Verbraucher von Streichhölzern und Tabak sowie von der eigenen Lebenskraft.
Doch das lyrische Ich in Grass’ Gedicht ist noch nicht ganz so weit: In der zweiten Versgruppe entfacht es mit dem Pfeifen- auch das Lebensfeuer noch einmal, vergewissert sich „mit Rauchsignalen“ seiner eigenen Existenz und rettet sich so vor der „Leere“ der Todeserwartung.
Dass „Siegfried Lenz gewidmet“ nicht in Eintagsfliegen veröffentlicht wurde, ist gleich doppelt schade, da den Lesenden so unmöglich wurde, den interessanten Vergleich mit dem dort an zweiter Stelle stehenden Gedicht „Nachgewiesene Existenz“ (Eintagsfliegen, S. 8) anzustellen.

nachgewiesene Existenzk
Abb. 3: Eintagsfliegen, S. 8. „Nachgewiesene Existenz“.
© Steidl Verlag und Günter und Ute Grass-Stiftung


Nachgewiesene Existenz

Ich bin.
Dafür soll es Beweise geben,
unverkennbare, wie man sagt: Er raucht!

Dann wiederum bin ich nicht,
was gleichfalls zu beweisen ist:
Er hinterläßt Lücken,
für die sich kein Büßer fand.

Doch angenommen: Ich bin und bin nicht.
Warum dann dieser Aufwand mit Wörtern,
Rauchzeichen und datierten Tatsachen,
für die jemand, der ich sein soll,
haftbar zu machen ist,
weil sie benennbar sind,
ihren Geruch vor sich hertragen
und nachweislich Schatten werfen?

Zum Beispiel als Ding,
an dem sich mein Knie wundstößt,
so daß ich Schmerz spüre,
vermutlich eigenen, der längst verjährt ist.



Auch hier befindet sich das lyrische Ich zwischen Sein und Nicht-mehr-Sein. Beide Zustände werden ihm von außen zugesprochen („man sagt: Er raucht!“), sodass sich im Gedicht nicht nur Existenz und Nicht-Existenz gegenüberstehen, sondern auch das Sprechen vom lyrischen Ich in der ersten und der dritten Person Singular. Als Beleg für die Existenz werden dabei erneut „Rauchzeichen“ angeführt die – im selben Atemzug wie das literarische Schaffen, der „Aufwand mit Wörtern“, genannt – dem Leben Ausdruck verleihen und es damit bestätigen. Allerdings wird auch die Gegenposition erläutert: „Dann wiederum bin ich nicht, / was gleichfalls zu beweisen ist: / Er hinterläßt Lücken, / für die sich kein Büßer fand.“
Während das lyrische Ich in „Siegfried Lenz gewidmet“ das Gedicht „heiter, / weil jenseits aller Vernunft“ beendet, ist dasjenige in „Nachgewiesene Existenz“ tiefergehend verunsichert: Kategoriale Grenzziehungen wie zwischen emotionalem und körperlichem Schmerz lassen sich am Ende nicht mehr aufrechterhalten und das Subjekt verliert die Fähigkeit, die eigenen Erfahrungen sinnvoll mit sich zu verbinden.
Anders verhält es sich noch in dem 1984 veröffentlichten Gedicht „Sargnägel“3. Dieses liest sich wie eine frühere Version von „Siegfried Lenz gewidmet“: Auch hier fungieren „Rauchzeichen“ als Existenzbeweise („Seht!“) und dem Lamento „Wir sind Verbraucher!“ steht im früheren Gedicht eine zuversichtlichere Formulierung entgegen: Im Rauch erkennt das lyrische Ich den Willen des Lebendigen, sich zu „verbrauchen“.


Sargnägelk
Abb. 4: Günter Grass: Radierungen und Texte 1972 – 1982. Zeichnen und Schreiben II. Hg. von Anselm Dreher, Luchterhand Verlag 1984, S. 81. „Sargnägel“.
© Steidl Verlag und Günter und Ute Grass-Stiftung


Sargnägel
Woran ich mich halte,
wovon ich nicht lasse,
was an der Lippe mir hängt,
weshalb ich mit Rauchzeichen
mich beweise: Seht!

Noch lebt es, kringelt sich,
speichert Rückstände,
hält seinen Traum wach
und will sich verbrauchen,
wie da geschrieben steht
und aus Asche zu lesen ist:
Worte am Kreuz.

Seine Sargnägel (sieben)
aus anderer Zeitweil,
handgeschmiedet und kürzlich wiedergefunden,
als der Friedhof nahbei, weil außer Betrieb
(und neuzugewinnender Parkplätze wegen),
gründlich planiert wurde.

Deshalb rauche ich
gegen jede Vernunft.



Die Sargnägel, von denen das Gedicht seinen Titel hernimmt, kommen allein in der dritten Versgruppe des Gedichtes vor. Mit ihnen konfrontiert Grass den lebensbezeugenden Rauch. Sie erinnern in einer Welt, in der „der Friedhof nahbei, weil außer Betrieb / (und neuzugewinnender Parkplätze wegen), / gründlich planiert wurde“, an die Vergänglichkeit des Lebens. Gegen diese Aufklärung der ökonomischen Effizienz öffnen sie – gemeinsam mit den unmittelbar zuvor genannten „Worte[n] am Kreuz“ – den Bezugsraum des Gedichts in eine spirituelle und metaphysische Dimension.
Beide Gedichte, „Siegfried Lenz gewidmet“ und „Sargnägel“, enden mit der Behauptung, mit dem Rauchen verorte das Ich sich „jenseits aller Vernunft“ oder ginge sogar „gegen jede Vernunft“ an. Das Rauchen wird als eine irrationale Tätigkeit dargestellt: Es beweist die Existenz des Rauchenden und verkürzt sie gleichzeitig. Das rauchende Ich hält trotz des Wissens um die eigene Vergänglichkeit, ‚unvernünftig‘ am Leben fest. „Siegfried Lenz gewidmet“ stellt damit ein ausnehmend schönes Beispiel dafür dar, wie Grass bereits sehr viel früher verwendete Motive und Formulierungen neu zusammenstellt, um die antizipierte Endlichkeits-Erfahrung des bevorstehenden Todes in Worte fassen zu können. Warum das Gedicht am Ende nicht in Eintagsfliegen veröffentlicht wurde, bleibt eine offene Frage.


1 Vgl. Günter Grass: Sechs Jahrzehnte. Ein Werkstattbericht. Hg. von G. Fritz Margull und Hilke Ohsoling. Steidl Verlag 2014, S. 598. Siehe auch das Fundstück Mit der Hand auf den Hund kommen von Katrin Wellnitz.
2 Eintagsfliegen, S. 11.
3 In Günter Grass: Radierungen und Texte 1972 – 1982. Zeichnen und Schreiben II. Hg. von Anselm Dreher, Luchterhand Verlag 1984, S. 81.