Martina King: Pilger und Prophet. Heilige Autorschaft bei Rainer Maria Rilke (= Palaestra Bd. 330). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. 413 S.



Selbstermächtigung und Selbstverkleinerung, Inspirationsvokabular und Neomystizismus, visionäres Sehertum und mönchische Askese: breit ist das Spektrum von Rainer Maria Rilkes Selbstentwürfen als »heiliger Autor«. Damit zählt er, ähnlich wie Stefan George, zu jenen Dichtern der klassischen Moderne, die in der nachmetaphysischen Krisenstimmung um 1900 sakrale Autorschaftskonzeptionen entwickeln. Solche Konzepte liefern nicht nur überzeugende Sinnangebote für eine an Entfremdung und Religionsverlust leidende Gesellschaft, sondern sichern ihren Trägern gleichermaßen feste Positionen in einem pluralisierten Buchmarkt. Im Unterschied zu den feierlichen Dichtungs-»Liturgien« Georges setzt Rilke allerdings bevorzugt auf das Briefmedium: in zahlreichen Korrespondenzen entwirft und vermittelt er ein facettenreiches Selbstbild ästhetischer Prophetie, das zum einen auf vielfältigen religiösen Traditionen ruht, zum anderen immer wieder auf sein eigenes poetisches Werk verweist.

Von entscheidender Bedeutung für dieses langfristig erfolgreiche Konzept der Selbstsakralisierung ist Rilkes Briefgemeinde; jene Vielzahl an Mäzenen und Mentorinnen, Verlegern, Intellektuellen, Künstlerfreundinnen und Literaten, mit denen der öffentlichkeitsscheue und rastlos umherreisende Dichter langjährige, intensive Briefwechsel unterhält. All diese Freunde und Briefpartner unterstützen Rilke faktisch und ideell, tragen seine eigentümliche und für die Moderne doch so charakteristische Lebensform mit und teilen mit ihm säkular-religiöse Redeweisen, die keinen gemeinsamen christlichen Bezugspunkt mehr aufweisen. Damit werfen Rilkes Korrespondenzen aber auch die Erinnerungsbücher aus der Gemeinde grundsätzliche Fragen nach Soziologie und Semantik heiliger Autorschaft auf und machen sie gleichermaßen beantwortbar.