Tweets aus der Baumkrone - eine ethnographische Untersuchung zum Verhältnis zwischen Mensch und Natur im deutschen Klimaaktivismus. (M.A.)

by Julian Imort


Abstract

Natur war schon immer ein dehnbarer und ambivalenter Begriff, der vor allem dann seine Kraft entfalten konnte, wenn er der menschlichen Kultur entgegengestellt wird. Im Anthropozän funktioniert diese Trennung nicht mehr und auch deutsche Klimaaktivist:innen bedienen sich daher lieber Begriffen und Ideen indigener Gruppen, um eine epistemologische Dekolonialisierung im Zusammenspiel mit einem verkörperten Aktivismus voranzutreiben. Durch vollen Körpereinsatz und schmerzhaften, aber auch euphorischen Momenten und Gefühlen werden neue Philosophien und Utopien entworfen, die den Mensch und sein Bewusstsein nicht mehr in den Mittelpunkt der Welt stellen. Jenseits von eurozentrischen Philosophien und akademischem Hochmut fangen die Bäume und Vögel an, für sich selbst zu sprechen. Durch Tweets aus der Baumkrone konnten die Waldbesetzer:innen diese Stimmen in verschiedenen Formen amplifizieren: in den aus Baumkronen verschickten Posts auf der Internetplattform Twitter, durch Menschen, die echte Vögel nachahmten und die mithilfe von Vogelstimmen bewusst kommunizierten.

Aufbauend auf verschiedene Theorien zu Embodiment, indigenen Ontologien und Latours Idee des “Terrestrischen” untersucht diese Arbeit nicht-(nur)menschliche Handlungsmacht in einem deutschen Mischwald und beantwortet die Forschungsfrage: Wie verändert sich das Verhältnis zwischen Menschen und Natur durch die verkörperte Erfahrung von Klimaaktivismus bei Extinction Rebellion und im Dannenröder Wald?

Project Description

Durch meine persönliche Bindung zur Natur entschloss ich mich Anfang 2020, pünktlich zum Start der Covid-19-Pandemie, Klimaaktivist zu werden. In Gesprächen fiel mir auf, dass es trotz des Fokus auf rationalistische, empirische Wissenschaften oft Bezüge zu holistischen Mythologien und Ontologien gab, welche die Trennung zwischen persönlichen Dasein und abstraktem Wissen, sowie Rationalität und Emotionalität überwanden. Im Dannenröder Wald, der aufgrund des Neubaus der A49 abgeholzt werden sollte und daraufhin von über 200 Aktivist:innen mit Baumhäusern besetzt wurde, gab es zudem Banner mit der Aufschrift “We are not defending nature, we are nature, defending itself.” Unterzeichnet wurde es von “pachamama”, also der Quechua Gottheit, die sich mit “Mutter Erde” übersetzen lässt. Dies erweckte viele Fragen in mir: In welchem Verhältnis steht hier das menschliche Handlungsvermögen zur Natur? Was bedeutet es, sich innerhalb der dualistischen Trennung vom Menschen und Natur mit letzterer zu identifizieren? Wie müsste Natur konzipiert werden, um ihr die Handlungsmacht zuschreiben zu können, ein Banner zu bemalen? Was bedeutet es für Menschen, nicht von der Natur getrennt zu sein? Und ist hier von der gleichen objektiv fassbaren Natur die Rede, mit der sich auch (Natur- )Wissenschaftler:innen auseinandersetzen? Solche und ähnliche Fragen veranlassten mich dazu, im Anschluss an meine ethnographische Forschung bei insgesamt zehn Protesten der Umweltschutzbewegung „Extinction Rebellion“ zwei Wochen im Dannenröder Wald zu wohnen und sie dort in Hinblick auf die materielle Lebensrealität der Aktivist:innen und ihre körperlichen Erfahrungen fortzuführen. Hierbei habe ich neben meiner dichten Teilnahme auch semi-strukturierte Interviews im Wald geführt.

About Me

Ich habe in Göttingen und Heidelberg Philosophie und Ethnologie studiert. Mich haben schon immer tiefliegende Weltanschauungen inspiriert, die den status quo in einem auf endlosem Wirtschaftswachstum basierenden System hinterfragen und Alternativen aufzeigen. Dafür habe ich in Ghana zu postkolonialer Kunst geforscht, in Spanien zur bolivianischen Diaspora und jetzt, wo das Eigene fremd geworden ist, erforsche ich alternative transkulturell inspirierte Lebenskonzepte in Deutschland. Nachdem ich danach in der Berliner Start-Up Szene tätig war, arbeite ich nun als Autor und freue mich darauf, irgendwann wieder ein Vollzeit-Ethnologe zu werden.

Summary of Findings

Die Auswertung der Ergebnisse unterteilt sich in zwei Schritte:

  • Die Auflösung des Körper-Geist Dualismus durch verkörperten Aktivismus gestaltet sich in einem dreistufigen Prozess:

    • Überwältigung: Der vom westlichen Lebensstil ermüdete Körper kommt wieder in Bewegung und wird zuerst oft negativ gespürt (Kälte, Schlafmangel, Koffeinentzug, Mangel an Komfort). Mit der Zeit entwickelt sich eine verbesserte Verknüpfung von Körper und Geist, die in der herkömmlichen Zivilisation nicht vorkommt.
    • Transzendenz: “Natur” wird als Teil des Selbst mit allen Sinnen erlebt und holistisch verstanden. Der vorangegangene Schmerz wird als wichtiges psychosomatisches Signal geschätzt und aktiv verändert. Man beginnt, mehr und mehr im Moment zu leben. Andere Tiere und Pflanzen werden als eigenständiges Subjekt statt Objekt wahrgenommen, die einen direkten Einfluss auf Körper und Geist haben.
    • Rekonfiguration: Menschen legten ihre Zweifel am eigenen Körper, physisches und psychisches Leiden und ihre Markenkleidung ab. Die kapitalistischen Körper wurden im Wald ent-sorgt. Anstatt rein in der sog. “Natur” leben zu wollen, wurde der Müll des Kapitalismus (sowohl physisch als auch psychisch) kreativ recycelt und funktional in Baumhäuser eingebaut.

  • Es werden darauf basierend neue Utopien und Lebensphilosophien entwickelt.

    • Natur 2.0 statt Back to the roots: Die Rückkehr zur Natur wird als Schritt in die Zukunft statt als Schritt zurück betrachtet. Statt Natur abzugrenzen oder zu glorifizieren, wird sie in technologische Entwicklungen einbezogen. Das Internet sei auch eine Art Wald, in der alles vernetzt ist, der Mensch habe es erschaffen, da er sich eigentlich nach dem Wald sehne, so ein Informant.
    • Natürliche Kultur statt Kultur vs. Natur: Viele Informant:innen sahen den Begriff der “Kultur” als ebenso kritisch und irreführend an wie seinen scheinbaren Gegenpart. Vor allem “unsere Kultur” wird untrennbar mit planetarer und menschlicher Ausbeutung in Verbindung gebracht, weswegen es einen häufigen Austausch über alternative, meist indigene Lebensweisen gab.
    • Religionskritische Ent-Säkularisierung: Spiritualität und Fiktion sind enorm wichtig, um ganzheitlich zu leben, komplexe physikalische Prozesse auch auf einem zugänglichen Meta-Level nachvollziehen zu können und langlebige Storys zu entwerfen, die nicht nur die Kreativität anregen, sondern auch eine neue Art, zu leben aufzeigen.