Sind NGOs Hüterinnen der Menschenrechte und/oder Reproduzentinnen neokolonialer Machtstrukturen? Eine Untersuchung der Arbeit von ROSA e.V.
von Charlotte Waßer
Abstract
Während einer Flucht befinden sich Menschen in einer vulnerablen Notsituation, in der sie auf Versorgung und Unterstützung angewiesen sind. Bei der Unterstützung von Geflüchteten muss allerdings fortwährend hinterfragt werden, ob das Projekt tatsächlich die Situation von den Menschen auf der Flucht verbessert oder ob hauptsächlich eine Möglichkeit für Menschen der westlichen Welt geschaffen wird, sich zu engagieren. Weiter sollte evaluiert werden, ob fluchtbedingter Unterdrückung entgegengewirkt und diese nicht auf veränderte Weise fortgesetzt wird. Deshalb ist es notwendig, sich kritisch mit der Rolle und der Verantwortung von NGOs und Freiwilligen auseinanderzusetzen.Die Bachelorarbeit behandelt - am Beispiel der Organisation ROSA - die Arbeit von internationalen NGOs, die Geflüchtete unterstützen. ROSA stellt für Frauen auf der Flucht einen Safer Space an drei Geflüchtetencamps in der Nähe von Athen bereit. Es soll herausgefunden werden, ob die Arbeit von ROSA die Situation von Frauen auf der Flucht verbessert und ob dabei neokoloniale Strukturen reproduziert werden. Das Ziel der Arbeit ist eine Untersuchung der Frage, ob es weiterhin ehrenamtlich organisierte NGO- Arbeit durch die westliche Zivilbevölkerung zur Unterstützung von Menschen auf der Flucht geben sollte, und wie eine hierarchiearme, antirassistische NGO-Arbeit ohne oder zumindest mit möglichst wenigen neokolonialen Strukturen aussehen könnte. Dazu wird eine(Mit)Verantwortung der Menschen des globalen Nordens für die bestehenden (neo)kolonialen Strukturen erörtert, und ob diese zu einer historisch- moralischen Verpflichtung von Europäer*innen zum Engagement nur in der Bekämpfung der Fluchtursachen führt, oder auch in der Flüchtlingspolitik und vielleicht sogar in der direkten Unterstützung von Geflüchteten.
Es sollen die historisch entstandenen Strukturen, Denkweisen und Ideologien, die in der Arbeit mit Menschen auf der Flucht herrschen, aufgedeckt und nach Strategien gesucht werden, wie Geflüchtete unter der Wahrung ihrer gleichen Würde, Wertigkeit und Selbstbestimmtheit unterstützt werden können. Dafür wird zunächst die gesellschaftliche und politische Rolle von NGOs in der internationalen Gemeinschaft und die konkrete Rolle von ROSA in der Gesellschaftbeschrieben. neokolonialenStrukturen Fluchtgründen Anschließend skizziert dargestellt. Die wird und die der sich Entstehungvon Zusammenhangmit daraus ergebende Verantwortungsverteilung für die Fluchtgründe bildet eine wichtige Grundlage für die Diskussion der moralischen Verpflichtung zur Unterstützung Geflüchteter. Im zweiten Teil der Arbeit werden neokoloniale Strukturen in der Arbeit von ROSA herausgearbeitet. Dabei wird insbesondere auf die Macht kolonialer Denkweisen, des Geldes und der Bilder eingegangen. Untersucht wird auch die Motivation für NGO-Arbeit. Der letzte Teil beschäftigt sich mit Vorschlägen, wie die Arbeit von NGOs zur Unterstützung von Geflüchteten aussehen könnte, wenn die Reproduktion neokolonialer Strukturen möglichst vermieden wird. Dazu wird erörtert, ob die (Mit)Verantwortung der Menschen des globalen Nordens für die bestehenden (neo)kolonialen Strukturen zu einer historisch-moralischen Verpflichtung von Europäer*innen zum Engagement nur in der Bekämpfung der Fluchtursachen führt, oder auch in der Flüchtlingspolitik und vielleicht sogar in der direkten Unterstützung von Geflüchteten.
Über mich
Da ich selbst Gründungsmitglied bei dem eingetragenen Verein ROSA (e.V.) bin, handelt es sich bei der Bachelorarbeit um eine Autoenthnographie, in der ich die Doppelrolle als aktives Vorstandsmitglied von ROSA und als forschende Beobachterin einnehme. Diese Position ermöglicht eineInnenwahrnehmung und ein komplexes Verständnis der Prozesse und der Arbeitsweise von ROSA. Ich möchte meine persönlichen Erfahrungen mit der Arbeit von ROSA kritisch untersuchen. Andererseits wirkt sich diese Rolle selbstverständlich auf die Objektivität der Beobachtung aus. Der Anspruch liegt folglich nicht in einer objektiven und wertfreien Darstellung der neokolonialen Strukturen in der Arbeit von ROSA. Vielmehr soll das sich aus meiner Mitgliedschaft bei ROSA ergebende Potential genutzt werden. Ich habe seit der Gründung des Vereins jeden Schritt der Projektverwirklichung miterlebt und stehe durch die eigene Arbeit als Teil der Crew auch im engen Kontakt mit einigen geflüchteten Frauen. Dies ermöglicht eine umfassende und tiefgründige Analyse der durch ROSA geschaffenen Strukturen. Schließlich ist mein besonderes persönliches Interesse an der Entwicklung einer Vision für eine sensiblere, empowernde NGO-Arbeit mit Geflüchteten auch auf meine Projektbeteiligung zurückzuführen.Zusammenfassung der Ergebnisse
Die Arbeit zeigt, dass der globale Norden eine Mitverantwortung für viele Fluchtursachen trägt, die im Zusammenhang mit den globalen kapitalistischen und neokolonialen Entwicklungen stehen. Deshalb besteht eine moralische Verpflichtung der Menschen des globalen Nordens, diesen Fluchtursachen entgegenzuwirken und Geflüchtete zu unterstützen. Die europäischen Staaten haben sich selbst verpflichtet, eine Grundversorgung für Geflüchtete während des Asylprozesses und nach dem Erhalt eines Aufenthaltsstatus zu gewähren. Da eine staatliche Unterstützung aber nicht hinreichend geleistet wird, ist es notwendig, dass NGOs sich für eine verbesserte Situation von Geflüchteten und eine Verringerung von Fluchtursachen engagieren.Auf politischer Ebene ist meines Erachtens ein Einsatz für eine deutlich humanere Flüchtlingspolitik auf nationaler und europäischer Ebene sinnvoll. Die europäischen Staaten müssen für Geflüchtete Bedingungen schaffen, unter denen zumindest die Menschenrechte voll gewährleistet bleiben. Darüber hinaus sollten NGOs dazu beitragen die Fluchtursachen möglichst zu eliminieren, indem sie sich für eine vollständige Dekolonialisierung sowie eine gerechte Ressourcenverteilung einsetzen.
Bis dahin sind die flüchtenden Menschen auf Unterstützung und Solidarität angewiesen. Wo der Staat diese nicht bereitstellt, sollte die Zivilgesellschaft organisiert in NGOs dafür sorgen, dass die Menschenrechte der Geflüchteten durch eine Grundversorgung gewahrt bleiben. Bei der Unterstützung von Geflüchteten muss jedoch kritisch hinterfragt werden, ob die NGOs die Situation der Geflüchteten tatsächlich verbessern und ob sie dabei neokoloniale Machtstrukturen reproduzieren. Insbesondere sollten Geflüchtete die ihrer Unterstützung dienenden Projektkonzepte maßgeblich mitgestalten.
Am Beispiel der Arbeit von ROSA wird gezeigt, dass sich bei Projekten, die aus dem globalen Norden finanziert und organisiert werden, die Reproduktion von neokolonialen Strukturen oft nicht vermeiden lässt. Folglich wäre es am besten, Geflüchtetenselbstorganisationen finanziell zu unterstützen. Gerade in den Camps gibt es aber meistens keine langfristigen Selbstorganisationen, weil die Menschen oft traumatisiert, mit der Planung ihrer weiteren Flucht, der Stellung von Asylanträgen oder der Suche nach Familienmitgliedern beschäftigt sind und deshalb keine zusätzliche Energie für den Aufbau und die Organisation von Selbsthilfeprojekten haben. Die meisten Geflüchteten hoffen, das Camp schnellstmöglich verlassen zu können, und wollen aufgrund der eigenen Erlebnisse auch nicht im Rahmen von Unterstützungsarbeit in diese zurückkehren.
Um die Reproduktion neokolonialer Strukturen durch westliche NGOs zu verringern, ist eine gute Kommunikation der Organisation mit den Geflüchteten notwendig, auf deren Grundlage ihre Ansichten, Wünsche und Bedürfnisse Eingang in die Arbeit finden. Ihnen muss ermöglicht werden, an der Projektorganisation teilzunehmen und gleichberechtigt mitbestimmen zu können. Gleichzeitig sollten die Freiwilligen in Vorbereitungskursen die eigene Rolle als privilegierte*r Freiwillige*r reflektieren und für das Thema Neokolonialismus durch NGO-Arbeit sensibilisiert werden. Die überlegene Handlungsmacht, die die europäischen Freiwilligen innehaben, sollte nicht geleugnet, sondern zum Wohle der Geflüchteten eingesetzt werden.
Bisher ist die direkte Unterstützung von Geflüchteten durch NGOs nicht frei von Neokolonialismus, weil ein Über- Unterordnungsverhältnis besteht. Ein empowernder Safer Space ist ein gutes Konzept für ein hierarchiearmes Projekt auf Augenhöhe. Der Raum kann von geflüchteten Frauen eingenommen und gestaltet werden und bietet einen geschützten Rahmen zum gegenseitigen Austausch und voneinander Lernen. Durch die Begegnung von Frauen aus verschiedenen Kulturen mit verschiedenen Lebensgeschichten kann ein stärkendes Gefühl der Gemeinsamkeit entstehen, das zu Empowerment sowie zur Vermeidung von Retraumatisierung im Camp beiträgt. Langfristig kann dies auch die Integration im Ankunftsland vereinfachen.
Insgesamt handeln die NGOs bei der dringend notwendigen Unterstützung von Geflüchteten als Hüterinnen der Menschenrechte. Allerdings reproduzieren westliche NGOs gleichzeitig immer auch neokoloniale Strukturen. Diese können zwar reduziert werden (s.o.), eine vollständig entkolonialisierte NGO-Arbeit ist jedoch (noch) nicht möglich.