Soziale Initiativen und ihre transformativen Kräfte im Maschviertel, Göttingens nördlicher Innenstadt

Greta Viktoria Simon


Abstract

In der nördlichen Innenstadt Göttingens, dem sogenannten Maschviertel, sind eine Reihe von sozialen Initiativen angesiedelt, welche auf das Netzwerk und die Räumlichkeiten der ehemals besetzten und nun gekauften OM10 (Akronym für Obere-Maschstr. 10) zurückgreifen. In meiner dreimonatigen Feldforschung (Nov. 2023- Jan. 2024), führten mich Ver- und Entknüpfungen (nach Haraways string figures (2016)) über die Initiative Soziales Zentrum zu der AG Nachbar:innen Café des Forum Waageplatz-Viertels. Letzteres ist ein Zusammenschluss von und für Nachbar:innen des Maschviertels rund um den Waageplatz. Die AG Nachbar:innen Café richtet einmal im Monat ein Café explizit für FLINTA*s (Akronym für Frauen, Lesben, Inter, Non-Binary und agender* Personen) des Maschviertels aus, um einen geschützten Raum für Austausch, Unterstützung und Verbindung zu schaffen.
Durch Gespräche mit Menschen aus den verschiedenen sozialen Initiativen und dem Verlauf der Feldforschung entwickelte sich schließlich die Forschungsfrage, inwiefern soziale Initiativen durch ihre ehrenamtliche Arbeit das Maschviertel transformieren. Die Transformation äußert sich einerseits durch den Abbau von patriarchalen und kapitalistischen Machtstrukturen, andererseits durch den Aufbau alternativer Lebensweisen. Ziel dieser Arbeit ist es zu zeigen, wie das Gefühl von Gemeinschaftlichkeit dazu beiträgt und wie sie entsteht.

Projektbeschreibung

Über meinen eigenen Aktivismus in der Initiative Soziales Zentrum (SZ) führten mich, nach einer initialen Phase der explorativen teilnehmenden Beobachtung bei Kundgebungen oder Theaterstücken des Netzwerks der OM10, die verschiedenen Verbindungen der Feldforschung zu der AG Nachbar:innen Café des Forum Waageplatz-Viertels (FWV).
Durch meine Positionierung nahe der advocacy anthropology und dekolonialen Ansätzen war es mir wichtig miteinander zu forschen oder zumindest in Form von Beiträgen (seien es Rechercheaufträge oder Ähnliches) in den AGs etwas zurückzugeben.

In der AG Maschkurier des FWV, einer Zeitung aus und für das Maschviertel, schrieb ich einen Artikel für das SZ, welcher sich im Laufe der Redaktionssitzungen zu einem Artikel über „Was bewegt Frauen? Was bewegen Frauen?“ und deren Kämpfe (im Maschviertel) wandelte. Dieser Artikel, für den ich auch Frauen aus den verschiedenen Initiativen des Maschviertels um ein Interview anfragte, erwies sich als hilfreich, um die initiale Hürde der Zusage eines Interviews nur für die Bachelorarbeit zu bewältigen. Durch den Sinn und die Reichweite des Maschkuriers sowie der Multiplizierung von starken Frauen, gab es hier eine tiefere Sinnhaftigkeit der Zusammenarbeit, die auch mir wichtig war.

Des Weiteren schlug ich eine Zusammenarbeit mit der AG Nachbar:innen Café vor (im Sinne der Participatory Action Research nach Cornish et al., 2023), nachdem sich diese mit dem SZ aufgrund von zu geringen Kapazitäten nicht ergab. Für Einblicke in die AG, wie z.B. die Ursachen der Gründung, dem Entstehen sowie Kreieren von Gemeinschaftlichkeit und Bekämpfung interner wie externer patriarchaler Strukturen, arbeitete ich mich in die Thematik einer weiteren AG mit ihnen ein, die das Verhindern von partnerschaftlicher Gewalt im Viertel durch Prävention erarbeitet.

Durch die verschiedenen Gesprächspartner:innen und der Kristallisation der Forschungsfrage ergab sich von der ersten bis zur letzten interviewten Person ein Wandel von dem initialen Fokus zu „Wem gehört die Stadt“ und kapitalistischen Machtstrukturen zu der Erzeugung und Bedeutsamkeit von Gemeinschaft und wie diese den systemischen Machtstrukturen durch gelebte Alternativen entgegensetzt. Des Weiteren rückten interne Äußerungen patriarchaler Strukturen in den Vordergrund, aufgrund der engen Zusammenarbeit mit dem Nachbar:innen Café.

Über mich

Nach meinem ersten Studium der Geowissenschaften wechselte ich wegen mangelnder Zufriedenheit zur Ethnologie, welche mich aufgrund der vielschichtigen Ausprägungen begeisterte. Ich schließe nun mein Studium mit Schwerpunkten in interdisziplinärer Stadtanthropologie, dekolonialen Ansätzen, einer sozialwissenschaftlichen Perspektive der Klimakrise und methodischen Fähigkeiten zur Umsetzung und Reflexion einer Feldforschung mit Spaß ab. Besonders die Bachelorarbeit und die einhergehende Feldforschung in einem Feld, in dem ich selbst ehrenamtlich aktiv bin, war eine lehrreiche Erfahrung. Das Navigieren und Einschätzen von Unsicherheiten und Stärken bringt nicht nur auf akademischer, sondern auch auf persönlicher Ebene viele Bereicherungen mit sich.
Die Stadt ist ein Feld, welches verschiedenste Disziplinen zusammenbringt und verwirbelt – ich freue mich in späteren Forschungen die unterschiedlichsten Vernetzungen weiter zu verfolgen.

Zusammenfassung der Ergebnisse

Im Prozess der Ausarbeitung der Feldforschung sowie den Interviews lassen sich bereits einige Ergebnisse festhalten.
Die sozialen Initiativen Soziales Zentrum (SZ), Forum Waageplatz-Viertel (FWV) und die OM10 tragen allesamt zu der Transformation des Maschviertel bei. Besonders ausgeprägt sind diese bei den kapitalistischen Strukturen zu sehen: Wo das SZ noch gegen die Privatisierung der ehemaligen Justizvollzugsanstalt hin arbeitet und für den Aufbau eines sozialen Zentrums mit niedrigschwelliger Gesundheitsversorgung und Begegnungsraum kämpft, trägt das FWV mit seinen Mittwochsessen bereits dazu bei, dass Menschen aus dem Viertel, unabhängig ihres Geldbeutels, eine warme Mahlzeit bekommen. Die OM10 bietet mit ihren Räumlichkeiten, welche durch das Mietshäusersyndikat dem Spekulationsmarkt entzogen wurde, Raum für die Treffen solcher Initiativen und des Weiteren bezahlbaren oder durch Mietpatenschaften finanzierten Wohnraum – explizit auch für Menschen auf der Flucht.

Die veräußerlichten systemischen, patriarchalen Strukturen (wie übergriffiges Verhalten oder partnerschaftliche Gewalt) werden seit Januar 2024 thematisiert, ausgehend von der AG Viertel ohne Partnerschaftsgewalt (Name ist noch nicht festgelegt) des FWV, und Wege zur alternativen Lebensrealitäten geschaffen. Zudem bietet das FWV Mitarbeit und Verbindung in verschiedenen AGs oder Veranstaltungen (wie dem Mittwochsessen), welche Antworten auf die Vereinsamung und Individualisierung der Gesellschaft gibt.

Auch als Antwort auf interne Machtstrukturen bildete sich die AG Nachbar:innen Café, welche sich einmal im Monat zum Austausch, Unterstützen und Verbinden trifft. Ein sicherer Raum für FLINTA*s, der Raum zum Erholen, gegenseitigem Stärken und dem Spüren von Gemeinschaft möglich macht, auch um in all gender Räumen gestärkt aufzutreten. „Verständnis. Stärkung. Und Herausforderung“ sind Qualitäten, die das Nachbar:innen Café für eine meine Gesprächspartnerinnen ausmacht.

Was alle drei Initiativen prägt, ist das Ermöglichen und Ausleben von Verbindungen zu Mensch und Ort, dem Kreieren und Erleben von Gemeinschaft sowie einer alternativen, realen Lebensweise. Dieser Zusammenschluss und Rückhalt aus der Gemeinschaft verleiht dem für etwas Kämpfen Kraft und Ausdauer, die letztendlich patriarchale und kapitalistische Machtstrukturen Stück für Stück abbauen.