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Presseinformation: Vom Erfolgskrimi bis zur wilden Lektüre

Nr. 21/2010 - 01.02.2010

Wissenschaftler und Verleger diskutieren über die Vermittlung von Literatur

(pug) Wie wird Literatur verbreitet, bewertet und zum lesenswerten Allgemeingut erklärt? Diese Frage diskutieren Literaturwissenschaftler auf der internationalen Tagung „Wertung, Kanon und die Vermittlung von Literatur in der Wissensgesellschaft“. Anlass der öffentlichen Veranstaltung ist der erfolgreiche Abschluss der ersten Förderphase des Promotionskollegs „Wertung und Kanon“ der Universität Göttingen. Die Tagung findet vom 5. bis 7. Februar 2010 im Roten Saal des Lichtenberg-Kollegs in der Historischen Sternwarte der Universität Göttingen an der Geismar Landstraße 11 statt.

Ein literarischer Kanon ist eine Gruppe von Texten, die als verbindlich gilt: An Klassikerreihen, Lektüreempfehlungen für Studierende oder Schullehrplänen lässt sich beispielsweise ablesen, was eine Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt für bewahrenswert hält. Es sind komplexe Gründe, nicht zeitlose literarische Qualitäten, die laut Dr. Matthias Beilein, dem Koordinator des Promotionskollegs, zur Bildung dieser tonangebenden Literaturgruppen führen: Lehrer, Verlagsstrategien oder Medienberichte spielen ebenso eine Rolle wie politische Machtinteressen und ökonomische Faktoren. Anhand der Literatur des 20. Jahrhunderts untersuchen am Freitag Germanisten, Slawisten und Romanisten, warum sich die Literaturvorgaben immer wieder durchsetzen – trotz der seit den 1980er Jahren an ihnen geübten Kritik. Möglicherweise, so Dr. Leonhard Herrmann aus Leipzig, verfügt ein literarischer Kanon über einen jeweils eigenen, von textuellen wie sozialen Bedürfnissen getragenen Code. Wer diesen entschlüsselt, besitzt die Chance, sich ihm auch anschließen zu können. Dass eine „Bestsellerliste“ das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft prägen und zugleich politische Verhältnisse spiegeln kann, zeigt der Oldenburger Hochschuldozent Prof. Dr. Rainer Grübel.

Um Institutionen wie Literaturhäuser, Editionen oder Verlage geht es am Sonnabend. Die Promovendin Anja Heumann aus Hamburg veranschaulicht, dass der literarische Kanon im öffentlichen Leben und vor allem in auflagenstarken Zeitungen präsent und wirkungsmächtig ist – und dies nicht nur im Feuilleton. Häufig ist es das Zusammenspiel von Autor und Verlag, das den Erfolg von Literatur beeinflusst: So im Fall der Reihe um den Privatdetektiv Pepe Carvalho. Eine positive Wertung auf dem literarischen Markt sicherte den Kriminalgeschichten von Manuel Vázquez Montalbán hohe Auflagen. Welche Funktionen in diesen Prozessen die Literaturhäuser einnehmen, erfragt Dr. Anja Johannsen. Stellen sie Refugien bildungsbürgerlicher Werte dar oder sind sie Teil verlegerischer Marketing-Strategien? An welchen Texten orientieren sich die – häufig unter ökonomischem Druck stehenden – Institutionen? Und verändern sie literarische Wertmaßstäbe? Diese Frage ist vor allem mit Blick auf neue Formen der Buchproduktion wie Books on Demand relevant.

Am Sonntag stehen die modernen Verhältnisse des Literaturmarkts im Mittelpunkt. Um gehört und vor allem gelesen zu werden, müssen Bücher einen „Kultwert“ besitzen und im multimedialen Raum konkurrenzfähig sein. „Für alle meine Freundinnen“ – so Prof. Dr. Steffen Martus aus Kiel – sei dafür ein Beispiel. Hinter diesem Titel verbirgt sich eine Literatur für Frauen, die multimedial ausgerichtet und offensiv auf ökonomischen Erfolg zugeschnitten ist. Neue Lesemilieus und Literaturformen entstehen durch das Internet. In diesem Medium ist der Text laut dem Germanisten Prof. Dr. Stephan Porombka aus Hildesheim nicht mehr heilig; das Weiterschreiben, das Umschalten von der kritisch-reflexiven zur produktiven, wilden Lektüre in Foren wie Facebook oder Twitter ist gefragt. Dies gilt auch für die Literaturkritik, die unter den Bedingungen des Web 2.0 neue Kriterien für die Wertung von Literatur festschreibt. Entscheiden „pageranks“ und digitale Netzwerke über die Zukunft des Buches?

Das Promotionskolleg „Wertung und Kanon“ beendet mit dieser Tagung seine dreieinhalbjährige Graduiertenförderung. Die in diesem Kolleg entstandenen Promotionen stehen kurz vor ihrem Abschluss. Sie wurden von der VolkswagenStiftung mit insgesamt 949.000 Euro finanziert.

Hinweis an die Redaktionen:
Journalisten sind zur Tagung herzlich eingeladen. Die entsprechende Pressemitteilung der VolkswagenStiftung finden Sie im Internet unter www.volkswagenstiftung.de/service/presse.html.

Kontaktadresse:
Dr. Matthias Beilein
Georg-August-Universität Göttingen
Philosophische Fakultät
Promotionskolleg „Wertung und Kanon“
Käte-Hamburger-Weg 3, 37073 Göttingen
Telefon (0551) 39-10346, Fax (0551) 39-19556
E-Mail: matthias.beilein@phil.uni-goettingen.de
Internet: www.uni-goettingen.de/de/131670.html