Ringvorlesung 'Scientia poetica - Literatur und Naturwissenschaft'
Ob man sich nun der erstmals 1959 in dem Essay The two cultures vorgetragenen These Charles Percy Snows von der Koexistenz zweier Kulturen, einer literarisch-belletristischen und einer naturwissenschaftlich-szientifischen, anschließt, die in wechselseitiger Unkenntnis nebeneinander existierten - hier die Naturwissenschaftler und Techniker, die den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik verstehen, dort die Vertreter der Artistenfakultät, denen dieser Gegenstand ein Buch mit sieben Siegeln ist -, ob man mit Arthur Koestler den Umstand beklagt, Geisteswissenschaftler als bornierte 'urban barbarians' hätten zwar Schwierigkeiten zuzugeben, daß sie ein literarisches oder künstlerisches Werk nicht verstünden, sie fänden aber nichts weiter dabei, wenn sie die Funktionsweise ihres Radios oder ihres Heizungssystems nicht erklären könnten, oder ob man umgekehrt dazu neigt, diese Beschreibung einer akademischen und kulturellen Kluft für eine übertriebene Dramatisierung oder auch für eine übermäßige Vereinfachung zu halten und die angebliche Dichotomie für einen 'Zwei-Kulturen-Wahn' (Hubert Markl) bzw. für den 'Snow von gestern' (Harald Weinrich) zu erklären - in jedem Falle wird man einräumen, daß Literatur und Naturwissenschaften zwar seit Jahrhunderten in vielfältigen Wechselwirkungen und Austauschbeziehungen miteinander gestanden haben, daß aber die Verständigung zwischen den Repräsentanten dieser verschiedenen Weisen der Welterkenntnis und der Welterzeugung bis heute vieles zu wünschen übrig läßt, und dies nicht zuletzt auch im akademischen Bereich und im Bildungswesen. Die gemeinsam vom Zentrum für komparatistische Studien der Georg-August-Universität und von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen veranstaltete Ringvorlesung möchte zu dieser Verständigung beitragen: Sie behandelt in einem weitgefächerten interdisziplinären Themenspektrum und in der exemplarischen Erörterung markanter historischer Stationen das für die Geschichte der westlichen Kultur seit mehr als zwei Jahrtausenden prägende wechselseitige Inspirations-, aber auch Spannungsverhältnis von Poesie und Naturerkenntnis. An Beispielen von weltliterarischer Bedeutung und von symptomatischem Gewicht kommen dabei Übergangs- und Wechselverhältnisse zwischen Dichtung einerseits, Disziplinen wie Mathematik, Physik, Biologie, Chemie, Hirnforschung oder Evolutionstheorie andererseits zur Sprache. Die Vortragenden der Reihe sind zu gleichen Teilen Geistes- und Naturwissenschaftler aus verschiedenen Fakultäten der Georgia Augusta, aber auch von renommierten auswärtigen Universitäten und Forschungsinstituten. Der Vorlesungszyklus richtet sich an Hörer aller Fakultäten wie zugleich an ein breiteres Publikum, das am Gespräch über den (vermeintlichen) ‚Graben' der akademischen Kulturen hinweg interessiert ist.