Anna-Vandenhoeck-Gastdozentur für Literaturkritik

René Aguigah übernimmt die Gastdozentur im Wintersemester 2024/25.

Der Schriftsteller James Baldwin (1924-1987) pflegte ein schillerndes Verhältnis zu Personalpronomen. Das Ich, von dem seine Essays so oft erzählen, bezeichnet zunächst ihn selbst: jenen Jimmy, der in Harlem geboren wurde, dort seine Kindheit und Jugend in ärmlichen Verhältnissen verbrachte, der mit Mitte 20 nach Paris zog, um dem Rassismus und der Schwulenfeindlichkeit der US-amerikanischen Gesellschaft zu entkommen – und dort an seinem ersten Roman zu arbeiten. Immer wieder ist das Ich seiner Essays aber auch 400 Jahre alt: „Ich pflückte die Baumwolle, ich trug sie zum Markt, ich baute die Eisenbahnschienen unter der Peitsche eines anderen, für nichts.“ Mit dem Wir in Baldwins Essayistik verhält es sich nicht eindeutiger. Mal bezieht es sich auf die Millionen von Afroamerikaner*innen, als deren Sprachrohr Baldwin seit der Bürgerrechtsbewegung der 50er, 60er Jahre wahrgenommen wird. Dann wieder besteht das Wir aus „uns allen“ – oder zumindest aus der US-amerikanischen Gesellschaft jener Zeit, die die Schwarzen doch ausschließt. In welchem Verhältnis steht das eine zum anderen: das Gruppen-Wir zum gesamtgesellschaftlichen Wir? Diese Frage richtet der Vortrag an Baldwins Werk. Sie kommt aus einer Gegenwart, die über Gruppenidentitäten streitet, die Identitätspolitik betreibt oder verwirft, die eine (vermeintliche oder reale) Spaltung der Gesellschaft zu kitten versucht, sei es in den USA, sei es in der Bundesrepublik. Lässt sich Inspiration für diese Lage bei Baldwin finden, dessen Bücher seit einigen Jahren neu ins Deutsche übersetzt werden (auch in diesem Jahr seines 100. Geburtstags)? Wenn ja – eher in seinen Essays oder eher seinen Romanen? Und wie ließen sich Fragen wie diese behandeln, wenn nicht mit den Mitteln der Literaturkritik?

Die Gastdozentur umfasst neben dem Vortrag auch ein Seminar, für das sich die Studierenden der Georg-August-Universität anmelden können.


Der Antrittsvortrag mit dem Titel „James Baldwins 'Wir'“ findet am 28. Oktober 2024 um 18:00 Uhr im Adam-von-Trott-Saal am Wilhelmsplatz statt.


René Aguigah in Kürze

René Aguigah, geboren 1974 in Würzburg, leitet das Ressort Literatur von Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur. Zuvor war er für den Sender als Redakteur und als Abteilungsleiter tätig („Hintergrund Kultur und Politik“). Bei der Zeitschrift „Literaturen“ arbeitete er als Sachbuch-Redakteur (2005-2010), bei WDR 3 als Kulturredakteur (2002-2005). Studium von Geschichte, Philosophie und Journalistik in Bochum und Dortmund. 2013-2015 war er Mitglied der Jury für den Preis der Leipziger Buchmesse. 2023 Fellow am Thomas Mann House Los Angeles. 2024 erscheint „James Baldwin. Der Zeuge. Ein Porträt“ bei C. H. Beck. Er lebt in Berlin.

Zur Anna-Vandenhoeck-Gastdozentur für Literaturkritik

Die durch die Abteilung Komparatistik und die Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht ins Leben gerufene Dozentur ist als Fortsetzung der von Heinz Ludwig Arnold etablierten Gastprofessur für Literaturkritik konzipiert. Sie wurde 1997-2011 erfolgreich durchgeführt und gehörte neben dem Literarischen Zentrum und der Lichtenberg-Poetikdozentur zu den Institutionen, mit denen es Prof. Arnold gelungen war, eine Brücke zwischen Universität und literarischem Leben zu schlagen.

  • Elke Schmitter (Der SPIEGEL, Die Zeit, Die Süddeutsche, taz-Panter-Stiftung)
  • Dr. Jan Wiele (Frankfurter Allgemeinen Zeitung)
  • Andreas Platthaus (Frankfurter Allgemeinen Zeitung)
  • Susanne Burkhardt (Deutschlandfunk Kultur) und Elena Philipp (nachtkritik.de)
  • Dr. Lothar Müller (Süddeutsche Zeitung)
  • Dr. Gustav Seibt (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Berliner Zeitung, Süddeutsche Zeitung)
  • Dr. Hubert Winkels (Fernsehen und Rundfunk, Deutschlandfunk)
  • Dr. Iris Radisch (Die Zeit)
  • Dr. Sigrid Löffler (Literaturen)
  • Prof. Dr. Peter Iden (Feuilletonchef und Theaterkritiker der Frankfurter Rundschau)
  • Hubert Spiegel (Literaturchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung)
  • Denis Scheck (Literaturredakteur des Deutschlandradios und Deutschlandfunks und Moderator der Literatursendung „Druckfrisch“ im Fernsehen der ARD)
  • Ulrich Greiner (Die Zeit)
  • Dr. Frauke Meyer-Gosau (Literaturen)
  • Dr. Ina Hartwig (Frankfurter Rundschau)
  • Ijoma Mangold (Literaturredakteur der Süddeutschen Zeitung)
  • Dr. Helmut Böttiger (DeutschlandRadio, Süddeutsche Zeitung, Die Zeit)
  • Dr. Tillmann Lahme (Frankfurter Allgemeine Zeitung)