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Die Wiederkehr der Soziologie (Ringvorlesung)



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Der Umstand, dass neuerdings gelegentlich Soziologen sogar zu Universitätspräsidenten gewählt werden - auch an altehrwürdigen Universitäten - wird nicht im Zentrum meiner Vorlesung stehen. Er erscheint freilich durchaus symptomatisch für die Situation, in der sich mein Fach - die Soziologie - heute befindet, und insoweit besitzt er einen gewissen Illustrationswert für das Argument, das ich im Folgenden entfalten werde.

Mein Argument entwickelt sich in drei Schritten. Erstens werde ich darstellen, dass die Soziologie heute in einer paradoxen Situation steckt. Während das Fach als akademische Disziplin kaum brilliert und in den großen öffentlichen Diskussionen der letzen zwei Jahrzehnte wenig Profil gezeigt hat - verglichen mit der Aufmerksamkeit, die die Soziologie in den 1970er Jahren erlangt hatte, ein bemerkenswerter Rückzug in die Bescheidenheit -, erscheinen soziologische Erkenntnisse und Verfahren mittlerweile viel besser fundiert als früher. Letzteres hat die Wertschätzung, die man soziologischem Wissen entgegenbringt, in einigen gesellschaftlichen Praxisbereichen sogar wachsen lassen. Dieser Wertzuwachs ist so stark und nachhaltig, dass man geradezu von einer Wiederkehr der Soziologie sprechen könnte. Sie vollzieht sich allerdings auf subkutane Weise in der Alltagspraxis der Politik- und Unternehmensberatung, der Leitungsgremien und Stäbe großer Organisationen - meinetwegen auch der Universitäten. So hat diese Wiederkehr der Soziologie denn auch wenig Aufmerksamkeit auf sich gezogen, sodass ein soziologischer Insider wie Ian Christie geradezu von einer "Soziologie ohne (akademische) Soziologen" sprechen konnte. [1999,34]

In einem zweiten Schritt werde ich sodann die Formel von der "Wiederkehr der Soziologie" variieren, indem ich eine Antwort auf die Frage gebe, was für eine Soziologie es denn wohl sei, die so still und heimlich in diesen gesellschaftlichen Alltagspraxen zum Zuge kommen konnte. Die Antwort lautet, dass in diesen soziologischen Aktivitäten im Rahmen der Beratung und Gestaltung von Organisationen oft Ansätze und Argumentationsmuster aufscheinen, die dem Kenner der Theorietradition der Soziologie wie Versatzstücke einer bestimmten soziologischen Theorie vorkommen: Nämlich als solche des soziologischen Funktionalismus. Dieses déjà-vu spitze ich dann in der These zu, dass mit der Wiederkehr der Soziologie als praktischem Organisationswissen mehr oder weniger unreflektiert funktionalistische Denkströmungen zurückkehren. Dies geschieht nota bene ohne Sinn für die bereits geleistete Kritik am Funktionalismus und fällt deshalb hinter den theoretischen Denkhorizont zurück, den die Soziologie in ihrer Auseinandersetzung mit Talcott Parsons und Robert Merton bereits erreicht hatte.

Als dritter Schritt schließt sich ein kurzer Blick auf die Zukunft der Soziologie an.


1. Die paradoxe Lage der Soziologie heute

Um die relative Bescheidenheit der akademischen Soziologie heute zu erkennen, muss man nur an die Stellung des Fachs 1965 bis 1975 zurückdenken. Damals konnte die Soziologie zu einer Art Leitdisziplin avancieren. In wesentlichen Teilen der politischen und intellektuellen Eliten der westlichen Industrieländer hatte sich ein Unbehagen mit dem Entwicklungsstand der Gesellschaft breitgemacht; ein Empfinden, welches sich in die Einsicht umsetzte, tiefgreifende soziale Reformen seien nötig - und in die Absicht, diese Reformen auch zu betreiben. Die Soziologie debattierte über die fundamentalen Ursachen dieser empfundenen oder erkannten Defizite ("Industriegesellschaft oder Spätkapitalismus?" 1969). Sie schärfte zugleich ihre Methodologie ("Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie" 1969), erweiterte den Zugriffshorizont ihrer Empirie und erreichte es schließlich - wenigstens in ihren besten Varianten -, diese ihre konkrete empirische Untersuchungsarbeit in umfassendere ideengeschichtliche und wissenschaftstheoretische Zusammenhänge einzubringen. Aus all diesen Aktivitäten gewann die Soziologie in dieser Periode die Aura einer akademischen Disziplin, die neue gesellschaftliche Problemlagen so prononciert und zutreffend ins Bewusstsein heben kann, dass die Menschen diese Probleme nicht nur verstehen, sondern auch Ansatzpunkte für die Lösung der Probleme erkennen. So war dies denn eine Zeit der Soziologie - Soziologie im Sinn einer breit anerkannten Interpretations- und Reform-/Aktionswissenschaft. Die Ausstrahlung - oder, um einen Begriff der Zeit zu benutzen, die Penetrationsfähigkeit - der Soziologie war seinerzeit so groß, dass sich auch andere Disziplinen zu "soziologisieren" begannen: die Literaturwissenschaften, die Linguistik, die Geschichte, die Kriminologie, die Psychiatrie usw. (so manche Disziplin beklagt dieses "Fremdgehen" heute). Ein Förderungsboom ungeheuren Ausmaßes erfasste die Soziologie. Wo das Fach noch nicht voll als akademische Disziplin etabliert war, wurde dies nun nachgeholt. Zugleich erhöhten sich die Forschungsmittel allein der Industriesoziologie in Westdeutschland von einem Jahrzehnt auf das andere um das 6- bis 7-fache. [Kern 1982, S. 242] In diesem Boom konnte sich auch die sozialwissenschaftliche Frauenforschung durchsetzen; auch sie gab den Prototyp für ähnliche Unternehmungen in den Geistes- und Kulturwissenschaften.

Tempi passati. Gewiss: die Soziologie hat ihre vor 30 Jahren erworbene institutionelle Position in der Zwischenzeit nicht verloren. Auch geht die Forschung natürlich weiter und erzeugt kontinuierlich einen Strom neuen soziologischen Wissens, aus dem sich die Gesellschaft mit Nutzen bedient. Vor allem erbringt der akademische Betrieb eine beachtliche Ausbildungsleistung, indem er beständig Soziologinnen und Soziologen produziert. Diese werden vom Arbeitsmarkt viel besser absorbiert, als ein gängiges Vorurteil immer noch annimmt, und sie sorgen in den Berufsrollen, die sie erobert haben, für die weitere Ausbreitung soziologischer Expertise über viele Handlungsfelder. Was die Soziologie jedoch nicht mehr besitzt, und dies schon seit 20 Jahren nicht mehr, ist der Charakter einer Leitdisziplin. In diesem Sinne ist es still um das Fach geworden.

Vergegenwärtigen wir uns nur einige der großen Probleme, denen unsere sich rasch wandelnden Gesellschaften in den letzten beiden Jahrzehnten ausgesetzt waren. Welche akademischen Disziplinen standen oder stehen für diese Probleme?

Da wäre zunächst das Problem der Wiederentdeckung des Marktes. Mit der Verschärfung des internationalen Wettbewerbs in den 1980er Jahren schob sich die Frage in den Vordergrund, warum bestimmte Standorte ihren Firmen mehr komparative Vorteile böten als andere und wieso speziell Firmen, die an traditionell starken Standorten - in klassischen Industrienationen wie England oder klassischen Industrieregionen wie dem Frostbelt der USA - operierten, offenbar unerwartete Wettbewerbsnachteile hinnehmen müssten. Eine Antwort, die sich anbot, war die, dass der von Normen und Traditionen befreite ökonomische Akteur, der allein seinen individuellen Kalkülen und Dispositionen verpflichtet ist, besonders stark und durchsetzungsfähig sei. Dieser Akteur könne aber nur in einem institutionell entleerten Raum, in einem sozialen Vakuum, gedeihen. Umgekehrt böten die durch Staat und Verbandsmacht durchregulierten Standorte, wie eben die klassischen Industriestandorte, weniger Chancen. Diese Position wurde bekanntlich geschichtsmächtig in der Form der Reagonomics und des Thatcherismus: beides Politiken, die die Wettbewerbsfähigkeit durch radikale Deregulierung zu steigern suchten. Nieder mit den Institutionen! "back to the market"!

Der Umstand, dass diese Politiken der Entinstitutionalisierung und Vermarktlichung durch eine wirtschaftswissenschaftliche Denkrichtung ihre Rechtfertigung und Ausformung erfuhren - durch die neoklassische ökonomische Theorie, die immer im Markt den besten Mechanismus einer effizienten Ressourcenallokation gesehen hatte - wird kaum überraschen. Der Verweis auf Milton Friedman (1962) und andere mag hier genügen. Es überrascht dann aber doch, dass die wichtigsten Kritiken dieser Politiken wiederum aus den Wirtschaftswissenschaften stammten - sei es aus dem ökonomischen Institutionalismus, sei es aus der politischen Ökonomie. Wenn wir uns aus gegenwärtiger Sicht den ökonomischen Akteur dennoch nicht als den bindungslosen Individualisten vorstellen können, der ohne jede soziale Verankerung seine wasserklaren rationalen Kalküle verfolgt; den Akteur vielmehr immer auch in seiner sozialen Einbettung sehen; wenn wir diese Einbettung im Prinzip auch als Chance, nicht bloß als Schranke interpretieren; wenn es, wie jetzt doch vielfach angenommen wird, weniger auf das Ob und mehr auf das Wie dieser Einbettung ankommt; wenn es statt um radikale Deregulierung um den effizienzfördernden Zuschnitt der Institutionen geht - so verdanken wir diese Einsichten primär Leuten wie Oliver Williamson, Douglass North oder Mancur Olson. Hier handelt es sich jeweils um Ökonomen, eben nicht um Soziologen.

Selbstverständlich haben Soziologen die genannten Kritikpositionen nicht gänzlich unbeachtet gelassen. Wie hätten sie auch können? Im Kern ging es immerhin um ein eminent soziologisches Thema: um das Gebundensein des Individuums an die "faits sociaux", wie Emile Durkheim gesagt hätte. So haben auch Soziologen die vom ökonomischen Institutionalismus oder von der politischen Ökonomie gelieferten Kritiken in konkretisierenden Forschungen aufgenommen, weitergeführt und ausdifferenziert (hier lag übrigens auch ein Feld für meine jüngeren Arbeiten). Die Debatte um die Möglichkeiten und Grenzen marktlicher Steuerung war trotzdem, soweit sie wissenschaftlich geführt wurde, eine wirtschaftswissenschaftliche. Die Ökonomie hatte und hat den Status einer Leitdisziplin, nicht die Soziologie.

Mein zweiter Fall ist das Problem der veränderten Konfliktformen und Kriege. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als geopolitischem Gegenpart zum kapitalistischen Westen nahmen die kriegerischen Auseinadersetzungen nicht nur stark zu, sondern sie kehrten auch nach Europa zurück - in ein Territorium, das nach der Überwindung der schrecklichen Erfahrung zweier Weltkriege am ehesten gegen diese gefeit schien. Mit dem Rückgriff auf die alten ideologischen Fronten lassen sich diese neuen Konflikte nicht erklären. Auch nicht erklären lassen sie sich mit einem Ansatz, der aus dem Argemunationsrepertoire der klassischen Soziologie stammt: der Modernisierungstheorie. Danach dürften in der modernen Welt keine archaischen Auseinandersetzungen mehr vorkommen. So ist dann nach neuen Interpretationen gesucht worden. Als besonders erhellend wurde von vielen der Versuch angesehen, die gegenwärtigen Konflikte durch kulturelle Gegensätze - vielfach verstanden als religiöse Differenzen - zu erklären. Samuel Huntington fand für diesen Ansatz die griffige Formel vom "Clash of Civilizations" [ zunächst in Foreign Affairs1993, Buch dt. 1996] und konnte mit ihr die allgemeine Sicht des Problems strukturieren. Die blutigen Kämpfe sind für Huntington und ähnlich argumentierende Autoren Beispiele einer über Jahrhunderte gewachsenen religiös motivierten Feindseligkeit zwischen verschiedenen Kulturen oder Zivilisationen. In dieser kulturalistischen Perspektive stehen die Konflikte für eine neue Weltordnung, in der der wesentliche Konfliktstoff aus religiös bedingtem kulturellen Anderssein resultiert. So geht Huntington von acht zivilisatorischen Räumen aus, die sich kulturell fundamental voneinander unterscheiden sollen und an deren Schnittstellen, wird gesagt, die schärfsten Konflikte neu aufbrächen. Leitwissenschaft dieser Debatte war zunächst die Politikwissenschaft, hinzukamen dann die Kulturgeschichte und die cultural studies (Kulturanthropologie, Ethnologie). Die Soziologie figurierte eher nur als Abgrenzungsfolie und lieferte sonst ein paar vielleicht ganz interessante, nicht aber diskussionsbestimmende Beiträge.

Um nicht missverstanden zu werden: Ich sage nicht, dass die akademische Soziologie überhaupt nichts zur Aufhellung der genannten Probleme geleistet hat. Was ich behaupte, ist nur dieses: Die genannten Probleme waren die großen Themen anderer Disziplinen - der Ökonomie, der Politikwissenschaft, der Cultural Studies -, und dies war so trotz der enormen soziologischen Relevanz dieser Probleme. Wer Anregungen zu soziologisch relevanten drängenden Fragen der Gegenwart suchte, stöberte im Buchladen in den Regalen anderer Disziplinen, wendete den Schritt schnurstracks zur Ökonomie, Philosophie, ja selbst zur (Verhaltens)Biologie. Entsprechend geschrumpft ist das Angebot an theoriegeleiteter soziologischer Literatur heute.

Warum? Warum ist die Soziologie eher zur Zuschauerin, weniger zur Agentin geworden? Drei Faktoren scheinen hier relevant zu sein:

a) Die akademische Soziologie ist Opfer ihres eigenen Erfolgs.

1965 bis 1975 war die Soziologie weder inhaltlich, noch methodisch, noch personell so erfahren und gefestigt, dass sie gut vorbereitet in die stürmische Expansion, die sie erfasste, hätte hineingehen können. Zwar entsprachen keineswegs alle, die in dieser Zeit auf Lehrstühle kamen, dem Bild, welches Malcom Bradbury in seiner Satire "The History Man" in der Figur des Zeitgeist-Soziologen Howard Kirk entwarf: einem Zapatisten-bärtigem Schürzenjäger mit einer Vorliebe für linken Jargon und übertriebenem Eifer in der Entlarvung des "Establishment". Viele waren wie ich und du: recht ernsthafte Forscher, die ihre Untersuchungen als Beitrag zur Klärung drängender Reformfragen verstanden, und die sich zugleich der großen Aufgabe gesamtgesellschaftlicher Analyse verpflichtet sahen. Aber die Ansprüche, zu denen man sich durch die damalige Reform- und Wissenschaftszuversicht teils verleiten ließ, in die man teils aber auch, durch Omnipotenzphantasien beflügelt, freudig hineinging, waren weit überzogen. Die Einlösungsdefizite, die dann nicht ausbleiben konnten, führten zu Enttäuschungen und Rückschlägen. Auch im Fach selbst wich der Optimismus bald der Ernüchterung und Skepsis. Verschärft wurden diese Schwierigkeiten durch die Tatsache, dass infolge der rapiden Expansion gelegentlich auch unterqualifiziertes Personal rekrutiert wurde. Ein Fach, das innerhalb von 10 Jahren sein Personal verdreifacht, zahlt immer den Preis einer gewissen Mittelmäßigkeit - so auch die Soziologie.

b) Viele Soziologen verarbeiteten das aufkommende Unbehagen am eigenen Fach auf eine Weise, die gegenüber neuen großen Fragen immunisierte.

In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre keimte bereits das Unbehagen an der Soziologie - auch in der Soziologie selbst. Ein Korrekturversuch lag in mehr Empirie - in der immer genaueren und detaillierteren Aufnahme sozialer Tatbestände. Doch dieser Empirismus trieb den Teufel mit dem Beelzebub aus. Manches wusste man nun ganz genau. Doch das Verständnis der ermittelten Fakten ging in der Detaillierung erst recht verloren. Hans Paul Bahrdt, der bis 1983 in Göttingen Soziologie lehrte, ironisierte diesen neuen Mangel der Soziologie mit den Worten: "Zu viele Fliegenbeine wurden gezählt, und dazu auch noch die falschen." [Bahrdt 1980, S. 265]

Ein andersartiger, freilich ebenfalls nicht unproblematischer Versuch der Bewältigung des Unbehagens an der Soziologie schob sich in den 1980er Jahren immer stärker in den Vordergrund: die Tendenz zur Differenzierung und Dynamisierung der Sozialstrukturanalyse. In diesem Trend bündelte sich die Gegenbewegung zu dem linken Projekt, das die Soziologie in ihrer überzogenen Phase stark beeinflusst hatte. Die linken Hoffnungen, dass sich ein Klassensubjekt herausbilden könnte, welches die spätkapitalistische Gesellschaft in einen demokratischen Sozialismus transformieren würde, waren ein weiteres Mal zerplatzt. Enttäuscht machten sich die Linken auf die Suche nach den Gründen ihrer Irrtümer. Sie studierten die Arbeitssituation der Industriearbeiter, um die möglicherweise integrativen Wirkungen qualifizierter Arbeit zu klären [Kern/Schumann 1970, 1984], und sie analysierten den Wohlfahrtsstaat als mögliche Ursache für die Befriedung des Klassenkonflikts [Bergmann u. a. 1969]. All dies lief schon auf eine Ausdifferenzierung der Lohnabhängigen hinaus - entweder entsprechend unterschiedlicher Arbeitserfahrungen oder nach sozialpolitisch modifizierten Ungleichheiten. Oberwasser bekamen aber vor allem diejenigen, die in der Entgegensetzung von Kapital und Arbeit immer schon eine falsche Frontstellung vermutet hatten [siehe Luhmann 1986]. Unter dem Slogan "Jenseits von Stand und Klasse" (Beck 1986) werden seitdem die Gesellschaftsmitglieder als optionsoptimierende Individuen entworfen, die ihre Lebenswelten situationsspezifisch an- und auch wieder abwählen. Die Lebensstilforschung bekam Konjunktur in der Soziologie - eine Forschungsrichtung, die die Individuen nicht mehr einem bestimmten Milieu verhaftet sieht, sondern ihnen jetzt durch unterschiedliche Stufen ihres Lebenslaufs folgt. Eine Soziologie, die auf solche Differenzierungen und Dynamiken fixiert ist, mag zu hübschen soziologischen Miniaturen kommen. Aber die Makrostrukturen und Gesamttendenzen der Gesellschaft geraten ihr notwendig aus dem Blick.

Auch hier überzeichne ich im Dienste meines Arguments. Ich rechne mit dem Einwand, wo denn in meinem Soziologiebild jene zahlreichen Zeitdiagnosen blieben, die aus der Soziologie heraus in den letzten Jahren formuliert worden seien. In der Tat: Am zeitdiagnostischen Genre herrscht heute kein Mangel mehr: "Risikogesellschaft" (Beck 1986), "Wissensgesellschaft (Stehr 1994), "Weltgesellschaft" (Münch 1998), "Erlebnisgesellschaft" (Schulze 1992), "Informationsgesellschaft" (Sassen 1991). Sind dies nicht respektable Versuche, die Miniaturisierung der Problemzugriffe zu überwinden und die Soziologie auf die großen Fragen zurückzuführen? Sie könnten es sein, wenn in den Zeitdiagnosen ernsthaft der Versuch unternommen würde, die Fülle der empirischen Einzelbefunde der heutigen Soziologie aufzunehmen und die Gesamttendenz dieser Befunde in theoretischen Leitformeln zum Ausdruck zu bringen. Mehr der anekdotischen Evidenz verpflichtet, geschieht gerade dies aber nicht. Die "Diagnosen unserer Zeit" sind durchweg mehr oder weniger anregende Stichworte oder Entwürfe zu unserer Zeit, die selektive, oft ans eigene Milieu gebundene Erfahrungen aufgreifen.

Ein Beispiel: So erweist sich beim näheren Hinsehen, dass der vieldiskutierte Wandel von Ehe und Familie - von den meinungsführenden Soziologen als "Pluralisierung der Lebensformen" einerseits, Patchworkbiographien andererseits bezeichnet und verallgemeinert - vor allem vom akademischen Milieu, das sich sozusagen selbst beforscht, getragen wird. Gleichwohl finden solche partikularen Diagnosen Eingang in politische Entscheidungen - schließlich wird Politik heute von dem akademischen Milieu verhafteten Berufspolitikern gestaltet, die sich in solchen Diagnosen wiedererkennen.

Jedenfalls vergrößern die "Zeitdiagnosen" die Beliebigkeit und Flüchtigkeit soziologischer Aussagen statt sie zu konterkarieren.

c) Die akademische Soziologie tut sich schwer, sich über Standards soziologischer Argumentation und einen Kanon gesicherten soziologischen Wissens zu verständigen.

Dieser Faktor, mehr eine Konsequenz von a) und b), ist experimentell leicht nachzuweisen. Man sperre 10 beliebige Soziologinnen und Soziologen in einen Seminarraum und lasse sie ein verbindliches Curriculum erarbeiten. Das Rauchzeichen "habemus solutionem" wird nie kommen. Ich erwähne diese Erfahrung, die ich sicher mit meinen Fachgenossinnen und -genossen teile, hier nur deshalb gesondert, weil sie aus einem weiteren Blickwinkel beleuchtet, warum die Soziologie als Fach in den großen Diskussionen der letzten Jahrzehnte so wenig Profil zeigen konnte.

Die Geschichte, die ich bisher über die Soziologie erzählt habe, könnte als eine Geschichte des Scheiterns verstanden werden. Aber es ist nur die halbe Geschichte. Richten wir unsere Aufmerksamkeit jedoch auch auf die Leistungen der Soziologie als praktische Organisationswissenschaft, so zeigt sich ein positiveres Bild. Dem Verlust an Ausstrahlung, den die Soziologie als akademische Disziplin hinnehmen musste, steht ein Bedeutungsgewinn der Soziologen in vielen Praxisfeldern gegenüber. Dies war auch ein Grund dafür, dass ich im Titel meiner Vorlesung von der "Wiederkehr der Soziologie" sprach.

Welche Rollen spielen die Soziologen in diesen Feldern? Ich unterscheide drei Rollen:

a) Soziologen als Experten für Passung ("fitter"):

Es folgt aus der Natur der Probleme, die sich Firmen und öffentlichen Einrichtungen heutzutage stellen, dass die Lösungen mit einem Schuss soziologischer Expertise besser gelingen können als ohne. Von der Soziologie profitieren können z. B. Unternehmen, die darangehen, sich neue wirtschaftliche Vorteile zu erschließen, indem sie alle herkömmlichen Grenzen überschreiten, sich "globalisieren". Sobald diese global agierenden Unternehmen Teile ihres Geschäfts an ausländische Standorte verlagern, werden sie sensibel dafür, dass die Praktiken (technischen Verfahren, organisatorischen Maßnahmen), die sie zu Hause als effizient angesehen haben, im Ausland gar nicht greifen, wie umgekehrt in fremden Ländern bewährte Praktiken nicht mehr gut funktionieren, sobald man sie auch zu Hause einführt. Das ist das Problem des "regime shoppings" einerseits, des "institutional fit" andererseits [Berger 1996]: Dass nämlich spezifische Prozeduren nur dann rationell durchgeführt werden können, wenn sie passgenau auf den konkreten sozialen Kontext (die konkreten Attitüden, Normen, Traditionen) eingestellt werden, innerhalb dessen man sie anwendet. Die weltweit "beste Praxis", von der man meint, man könne sie in jedem beliebigen Kontext weltweit mit immergleichem Erfolg einsetzen, gibt es viel seltener, als uns weisgemacht wird. Mit der Globalisierung wächst notwendigerweise der Komplexitätsgrad der Unternehmen - sie operieren jetzt in unterschiedlichen Kontexten mit unterschiedlichen Methoden. Soziologen werden hier gebraucht als Experten für die passgenaue Lösung.

Oder nehmen wir das Beispiel öffentlicher Einrichtungen, etwa staatlicher Universitäten, die angesichts dürftiger öffentlicher Kassen unter Rationalisierungsdruck oder Innovationsstress geraten sind. Bekanntlich ist man hier auf die Idee gekommen, Universitäten stünden besser da, kopierten sie Modelle, die sich in Firmen als erfolgreich erwiesen hätten. Wieder ein Problem des regime shopping. Wieder müsste in Rechnung gestellt werden, dass Organisation nicht gleich Organisation ist und unterschiedliche Organisationstypen mit je spezifischen Rationalisierungs-/Innovationsproblemen unterschieden werden müssen. So bilden Universitäten eine Organisation sui generis. Sie gehören dem Organisationstyp loosely coupled systems" [Weick 1976]) an und weisen eine Merkmalsausprägung auf - flache Hierarchien, starke Dezentralität, vielfältige Subeinheiten -, die bei (Groß-)Firmen selten vorkommt. Somit stellt sich der Ausgangspunkt einer Organisationsveränderung bei Universitäten anders dar als bei Unternehmen, und deshalb muss man dann auch äußerst vorsichtig sein mit der Übertragung von Reformkonzepten von Firmen auf Universitäten. Jede Organisation muss ihrer spezifischen Organisationslogik gemäß weiterentwickelt werden - ein Prinzip, das zurückverweist auf den Soziologen, der das Problem der richtigen Passung lösen muss.

Es waren solche Lehren, welche die Entscheider in Firmen, Behörden, Universitäten lernen mussten. Folglich ist der Beitrag soziologischen Wissens für die Organisationsentwicklung stark gewachsen. Heute stoßen wir in Beratungsfirmen, Unternehmensstäben, Leitungspositionen auf soziologisch geschulte Experten. Ein neues Berufsfeld für viele unserer Absolventen - Soziologen als Experten für institutionelle Passung.

b) Soziologen als Akzeptanzbesorger:

Ein Beispiel: Angesichts von rapiden wissenschaftlich-technischen Entwicklungen mit ungewissen Folgen und der mit dieser Ungewissheit einhergehenden Verunsicherung der Menschen ist die EU dazu übergegangen, die Finanzierung naturwissenschaftlich-technischer Projekte daran zu koppeln, dass soziologische Expertise eingeholt wird. Die Aufgabe dieser Soziologen besteht darin, die Naturwissenschaftler und Techniker dafür zu sensibilisieren, dass die Forschung beim Publikum mit Angst besetzt ist. Ferner sollen Hinweise auf die "richtige" Präsentation gegeben werden. Man nennt das auch "active framing". Die Aufgabe, an der Soziologen hier arbeiten, ist die der akzeptanzsichernden Aufbereitung des Problems. Ein anderes Beispiel sind die von Soziologen organisierten und moderierten "runden Tische" ebenfalls zu brisanten Themen des wissenschaftlichen Wandels. Ganz konkret wäre hier an Van der Daeles [2001] runden Tisch zur Biotechnologie zu denken.

c) Soziologen als Konsenshersteller:

Die Politik folgt heute nicht mehr den klassischen Programmatiken von Rechts und Links, sondern wirbt um Mehrheiten mit wechselnden Themen und Botschaften jenseits der alten dogmatischen Positionen - in der Mitte. "Konsenssuche" heißt auch dieses Projekt. Aber außer dem Namen hat dieses Projekt nichts mehr mit der korporatistischen Kompromissfindung gemein. Es geht jetzt mehr um die Indentifizierung von Politiken, die die Glaubwürdigkeit des politischen Akteurs als Problemlöser in der Öffentlichkeit sicherstellen, die aber zugleich die sozialen Kosten für dieses Projekt so klein halten oder so verteilen, dass möglichst viele Wähler das Projekt akzeptieren können. Die raffinierteste Variante solcher Politiken sind Huckepacklösungen, in denen die Kosten zusammen mit Wohltaten präsentiert werden. Frank Steinmeier (2001) spricht das ziemlich offen aus, wenn er diese Konsenssuche "einen dynamischen Prozess" nennt, "in dessen Verlauf man traditionelle Blockaden überwindet und dafür sorgt, dass sich in komplexen Entscheidungsprozessen die Waagschale im richtigen Moment zugunsten der Erneuerung senkt" [Steinmeier 2001]. Angedacht wurde dieser Politikansatz von einem Soziologen, Anthony Giddens, nachzulesen in "The Third Way: The Renewal of Social Democracy" [1998]. Praktisch durchgespielt und perfektioniert wurde er zuerst von New Labour.

Auch dabei spielte und spielt soziologische Expertise eine enorme Rolle. Soziologen identifizieren, um nicht zu sagen: generieren Themen, die einen breiten Konsens tragen können, und bereiten sie auf. In Großbritannien ist für die Aufgabe ein ganzes Netz von think-tanks, Meinungsforschungs-Büros, Beratungseinrichtungen und spin-doctors entstanden, in denen zahlreiche soziologische Experten arbeiten. Die meisten bleiben anonym, einige aber kennt man beim Namen: z. B. Andrew Adonis. Auch in Deutschland haben wir jetzt viele neue Konsensrunden - nicht zuletzt das "Bündnis für Arbeit", das "nach neuen Wegen der Beschäftigungspolitik" sucht [Steinmeier 2001]. Diesem arbeitet als wissenschaftlicher Stab eine sog. Benchmarking-Gruppe zu, und deren einflussreichste Figuren sind - Soziologen: Wolfgang Streeck und Rolf Heinze.

Nimmt man all dies zusammen, so lässt sich als Zwischenbilanz festhalten, dass zwar die Soziologie als akademische Disziplin ein Problem hat; die Soziologie als Handlungswissen hat jedoch offenbar keins. Letzteres rechtfertigt die These von der Wiederkehr der Soziologie. Besser gesagt: die Soziologen sind wiedergekehrt - als Berater, Organisatoren, think-tankers etc. Manchmal auch als Grenzgänger. Das sind in der akademischen Welt etablierte Soziologen, die den eher tristen Soziologenkongressen ausweichen, indem sie sich immer mal wieder auf aufregendere praktische Fragen einlassen. In Göttingen haben wir dafür auch ein paar Beispiele.


2. Die Wiederkehr des Funktionalismus im praktischen Organisationswissen

Die Beiträge, die die Soziologen in diesen Rollen der Experten für Passung, der Akzeptanzbeschaffer und der Konsenshersteller zum alltäglichen Handeln von Organisationen liefern, folgen keinem stringenten theoretischen Konzept. Sie sind kleinteilig und vielgestaltig, oft ad hoc ohne theoretische Reflexion formuliert. Bei näherem Hinsehen lässt sich trotzdem ein gemeinsamer Nenner ausmachen. Dieser Nenner besteht aus zwei Elementen - einem Problemlösungsbias sowie einer Konsensfiktion. Indem ich dies sage, greife ich einen Gedanken auf, den Renate Mayntz neulich in einem bemerkenswerten Aufsatz unter dem Titel "Zur Selektivität der steuerungstheoretischen Perspektive" veröffentlicht hat, allerdings nur in bezug auf die Politikberatung.

Der "Problemlösungsbias":

Man denke an die Beispiele zurück, die ich gegeben habe: Immer waren es praktische Probleme, um die die Beiträge der Soziologen kreisten. Soziologische Expertise erschien als eine Kompetenz, deren Einsatz die Konzipierung und Implementierung von Lösungen verbessert, mit denen das Problem angegangen wird. Vorausgesetzt wird damit eine zweifache Funktionsbeziehung: Zunächst die, dass soziologische Expertise für die Problemlösung überhaupt funktional sein könnte, dann vor allem aber auch, dass der Adressat der soziologischen Beratung immer auch ernsthaft eine besonders gute Problemlösung anstrebt. Was aber, wenn der Adressat gern über die beste Problemlösung schwadroniert, dem Wort aber gar keine Tat folgen lassen will? Weiter wäre zu fragen: Ist der Akteur tatsächlich auf die Lösung des beredeten Problems aus oder gar auf die Lösung eines verdeckten anderen Problems? Und geht es überhaupt um eine Problemlösung im strikten Sinn?

Was in solchen Fragen aufscheint, ist die Erfahrung, dass immer damit gerechnet werden muss, dass die Akteure eine "hidden agenda", ein Programm hinter dem Programm, verfolgen. So könnten sie z. B. Luftnummern drehen, d. h. überhaupt nichts inhaltlich Bestimmtes bewirken, sondern nur ihre abstrakte Handlungsfähigkeit demonstrieren wollen. Michel Crozier hat zusammen mit Erhard Friedberg nachgewiesen, dass solche Phänomene sogar in Unternehmen vorkommen - also in, ihrem Anspruch nach, höchst funktionalen Systemen [L'Acteur et le Système, 1977]. Erst recht gibt es solche verdeckten Programme aber in der Politik - ganz besonders in unserem Zeitalter der "nachideologischen" Positionen, in der die einzige auf der Hand liegende Programmatik die der Machtsicherung durch Wählerakzeptanz zu sein scheint.

Soziologen stellen sich in ihrer organisationspraktischen Arbeit freilich selten solche akteurskritischen Fragen. Sie würden sich damit möglicherweise selbst das Wasser abgraben. Stattdessen nehmen sie die Anlässe, für die sie herangezogen werden, für bare Münze. Damit verfallen sie indes einem naiven Funktionalismus, der soziologisch eigentlich inakzeptabel sein sollte.

Die "Konsensfiktion":

Die soziologischen Politikberatung ist, wie gezeigt wurde, der Identifizierung von konsensuellen Projekten besonders verpflichtet. Hier kommt wieder funktionalistisches Denken ins Spiel, und zwar der Aspekt der Systemstabilisierung. Denn diese Beratung basiert auf der Unterstellung, dass die Hereinnahme von vielen unterschiedlichen Akteuren in die Konsensprojekte gerade solche Lösungen wahrscheinlich werden lasse, die im Interesse aller lägen, insoweit also rational/optimal seien und infolgedessen bedenkenlos implementiert werden könnten. Steinmeier sagt dasselbe mit anderen Worten: Mit dem "gesellschaftlichen Dialog" entziehe man die Entscheidungsprozesse dem "Arkanum des Regierungsapparats", sorge für "Transparanz", schaffe den "schwächeren Partnern und Minderheiten das notwendige Gehör" und gewährleiste "gemeinsame Verantwortung für das Gemeinwesen". Wer dieser bedeutenden Arbeit seinen Sachverstand leiht, könnte insoweit für sich in Anspruch nehmen, dem Ganzen zu dienen: Statt Parteinahme für Sonderinteressen also Integration von möglichst vielen, dadurch die denkbar besten Lösungen - und dadurch wiederum bindende, stabile Verhältnisse. Dies ist zwar ein Kurzschluss, freilich ein für funktionalistisches Denken recht typischer.

Auch die Organisationsberatung durch Soziologen kennzeichnet ein Zug zu einem heimlichen Funktionalismus. Nur steht hier an der Stelle des öffentlichen Gemeinwohls das Wohl einer konkreten Organisation. Die soziologische Intervention folgt wiederum dem Imperativ der Stabilisierung qua Konsens. Denn die Intervention ist dazu da, Interessen und Gesichtspunkte zu artikulieren, die früher in heftigen, "irrationale" Störaktionen durchgebrochen waren - weil sie sich anders nicht hatten äußern können.

Man übersehe nun nicht den kryptonormativen Zirkel, der in diesem Funktionlismus steckt. Unterstellt wird einfach Folgendes: Konsenslösungen seien ein sicherer Weg zum Gemeinwohl. Wie das Gemeinwohl selbst verdienten die Konsenslösungen nachhaltige Unterstützung.

Wiederum stellen sich allerdings Fragen: Geht es in den Prozessen, in die man die soziologischen Experten jetzt einschaltet, zuerst und vor allem um das Gemeinwohl? Sind z. B. die "Konsensrunden", die die Politik veranstaltet, tatsächlich dazu da, gemeinverträgliche Lösungen zu finden und zu operationalisieren? Handelt es sich nicht vorrangig um besonders geschickte Versuche, sich Mehrheiten zu beschaffen, um dann Machtpositionen zu besetzen und absichern zu können? Und wenn es schon um Macht geht: cui bono?

Dass politische Parteien und Politiker Macht nur wollen, um dem Gemeinsinn zu seinem Recht zu verhelfen, glaubt niemand mehr. Was die Soziologie anlangt, so wissen wir seit Max Weber sehr genau, dass Politik zunächst und vor allem Machterwerb und Machterhalt für sehr partikulare Zwecke bedeutet: um die eigene Klientel zu entschädigen, den Patron zu spielen, Pfründe zu erwerben, das eigene Ego zu kitzeln. Aus der Perspektive von Problemlösungen, die an der Sache orientiert sind, ist dieses eigeninteressierte Handeln der politischen Akteure tendenziell dysfunktional - eine Einsicht, für die, wer funktionalistisch denkt, blind ist.

Um auch an diesem Punkt kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Wenn ich gegenüber der praktischen Soziologie den Einwand des Funktionalismus mache, meine ich nicht, dass dieses Feld gleichsam mit Agenten der strukturell-funktionalen soziologischen Theorie durchsetzt sei. Worum es sich handelt, sind Formübereinstimmungen. Diese allerdings sind frappierend. Nicht intentional, aber faktisch war in die Wende, die ich die Wiederkehr der Soziologie genannt hatte, eine Wiederkehr des Funktionalismus eingebunden. In Bezug auf die "third-wayers" wird dies detalliert aufgezeigt von Simon Prideaux (2001)

Nachdem dies gesagt ist, ist zugleich klar, dass die kritischen Argumente, die gegenüber Parsons und anderen theoretischen Funktionalisten in früheren Jahren vorgebracht worden waren, cum grano salis auch die praktische Soziologie heute treffen.

Zur Erläuterung für diejenigen, denen die Theoriegeschichte der Soziologie nicht vertraut ist, ein kleiner Ausflug in die 1950er/60er-Jahre. Talcott Parsons (1951) hatte einen sehr abstrakten und komplexen Bezugsrahmen vorgelegt, der dazu dienen sollte, ein Grundproblem der Soziologie zu analysieren: Wie nämlich angesichts des Chaos individueller Handlungen soziale Gleichgewichtszustände entstehen können. Welche Faktoren stellen sicher, dass sich die Handlungen der vielen Einzelpersonen zu einer stabilen und dauerhaften Einheit - eben jenem "sozialen System" - einer Gruppe, Organisation, Gesellschaft - zusammenfügen können? Wie gewinnen diese Faktoren die "Funktion" der Systemstabilisierung? Lässt man die Facetten des Parsonschen Bezugsrahmen beiseite, so bestand das grobe Gerüst seiner Antwort in folgender Aussage: Zwei Mittel sichern das soziale Gleichgewicht: A) Sozialisation - das sind die Methoden, durch die ein neugeborener Mensch zu einer sozialen Persönlichkeit geformt wird. Ein wichtiger Teil der Sozialisation besteht in der Vermittlung von Motiven für systemverträgliches Handeln. B) Soziale Kontrolle - das sind die Methoden, die einsetzen, wenn Menschen "aus dem Ruder laufen", also nicht tun, was das System von ihnen erwartet. Diese Grundantwort war nicht sensationell. Die große Leistung von Parsons und seiner Schule bestand darin, die Antwort aufs raffinierteste auszudifferenzieren und durchzuspielen. Auf diese Weise entstand ein kategoriales Raster für funktionale Analysen, das eine Vielzahl von Arbeiten mit zum Teil verblüffenden Befunden anregte und fundierte. Darauf kommt es hier allerdings weniger an als auf den blinden Fleck des Strukturfunktionalismus, der sich schon in der Grundantwort deutlich abzeichnete. Durch seine Präokkupation durch die sozialen Gleichgewichtszustände und durch die Methoden der Herstellung von Gleichgewicht ließ der Ansatz kaum Platz für die Phänomene des abweichenden Verhaltens und des sozialen Konflikts. Das Erkenntnisinteresse Parsons' zog den soziologischen Blick geradezu von diesen Phänomenen ab. Da Abweichung, Anomie, Konflikt jedoch aus dem wirklichen Leben von Gesellschaften nicht wegzudenken sind, markierte diese Lücke exakt den Punkt, in den die Kritik hineinstieß.

C. Wright Mills, einer der bedeutendsten Parsons-Kritiker schrieb denn auch in "The Sociological Imagination" [1959]: Um Parsons' Schema akzeptieren zu können, "müssten wir aus ihm etwas über die Tatbestände der Macht und alle institutionellen Strukturen, insbesondere die ökonomischen, politischen, militärischen erfahren. In seiner kuriosen "allgemeinen Theorie" haben solche Strukturen der Beherrschung keinen Platz. In den angebotenen Kategorien können wir unmöglich die empirische Frage stellen, in welchem Umfang und auf welche Weise die konkreten Institutionen legitimiert erscheinen. Die Idee einer normativen Ordnung verleitet uns zu der Annahme, dass praktisch alle Macht legitimiert sei ... Auf diese Weise kann aber das Phänomen des Konflikts nicht richtig angegangen werden. Angenommen wird, dass das System, sobald es etabliert sei, nicht nur stabil, sondern an sich harmonisch sei ... Die rätselhafte Beseitigung des Konflikts und die grandiosen Eigenschaften der Harmonie berauben diese ... Theorie der Möglichkeit, sich mit dem sozialen Wandel, der Geschichte, zu beschäftigen." [S. 42]

Ralf Dahrendorf, der mit seinen frühen Arbeiten "Gesellschaft und Freiheit" [1961] und "Die angewandte Aufklärung" [1963] in der deutschen Soziologie die prägnantesten Kommentare zur strukturell-funktionalen Theorie präsentiert hatte, führte speziell den Gedanken, dass der Konflikt eskamotiert sei, fort. Er betonte v. a., dass sozialen Konflikten auch eine "schöpferische Kraft" eigne - die Qualität, "den Wandel globaler Gesellschaften und ihrer Teile ... zu fördern". [Gesellschaft und Freiheit 124/5] Allein aus der Harmonie, dem Konsens heraus könne sich keine Gesellschaft erneuern.

Hier nun kann ich den Faden zur praktischen Soziologie heute zurückbinden. Dieser musste ich eine Reihe von Verkürzungen und Einseitigkeiten attestieren - Stichwort "Problemlösungsbias" und Stichwort "Konsensfiktion". In diesen Mängeln reflektiert sich, dass die praktische Soziologie als (kruder) Funktionalismus weit hinter den Horizont zurückfällt, der soziologisch möglich wäre. So kehrt die Soziologie in praktischem Gewande also doch nur in Versatzstücken zurück, nicht in ihrem ganzen möglichen Reichtum.

Doch halt: dies soll das letzte Wort nicht sein. Deshalb:


3. noch ein paar abschließende Sätze: Zur Zukunft der Soziologie

Die Prozesse, in deren Gestaltung die Soziologen als Experten für Passung, Akzeptanzbeschaffung, Konsensherstellung heute eingeschaltet sind, haben einen offenen Ausgang. Erneuerung von Wissenschaft und Wirtschaft, Internationalisierung und Globalisierung, Neuzuschnitt der Staatsfunktionen, Umbau des Wohlfahrtsstaats, Rollenwandel der Politik - wer vermag zu sagen, wohin die Reise letztlich führen wird? Soviel kann man aber doch vorhersagen: Die Chancen und Risiken werden umdefiniert und auf neue Weise auf die Gesellschaftsmitglieder verteilt, deren Zuordnung zu Gruppen ihrerseits eine neue Kontur erhält. Eine neue Klasse von Gewinnern könnte entstehen - vielleicht eine Weltklasse der Kosmopoliten, die sich durch exzellente Qualifikationen, hohe Beweglichkeit und gute Netzwerkbildung den Zugang zu Macht und Ansehen sichern. Die mögliche Stärke dieser neuen Klasse, die Art und Zahl ihrer Helfer und Helfershelfer, insbesondere aber auch die Form und die Größe ihrer Gegner kennt noch niemand genau. Klar erscheint nur, dass der Klasse der Gewinner eine Klasse der Verlierer gegenüberstehen wird: solche, für die vermutlich auf Dauer in der modernisierten Wirtschaft kein Platz sein wird und die, wenn schon nicht über Arbeit, auf neue, auch noch unklare Weise integriert, möglicherweise sogar in Schach gehalten werden müssen. Mit den veränderten Ungleichheitsstrukturen stellt sich auch die Frage von Konflikt und Kontrolle neu.

Es stünde der Soziologie gut an, wenn sie diese Entwicklungen weniger kursorisch und spekulativ abhandeln würde, wie ich dies gerade tue. Es mangelt hier nicht am Material für bessere Analysen. Denn die Soziologen gehen mit Wissen ins praktische Feld, und sie erweitern dort ihr Wissen. Jedoch nehmen sie dieses Wissen nicht aus ihrer Unmittelbarkeit heraus. Dieses unmittelbar auf der Hand liegende Wissen muss freilich nicht vordergründiger Ausgangspunkt und Ende bleiben. Es könnte auch als Rohstoff für Interpretationen herangezogen werden, die sich den großen Fragen unserer Zeit stellen.

Wie dies gelingen könnte oder wenigstens zu betreiben wäre, hat uns neulich erst ein mittlerweile alter Soziologe vorgemacht: Ralf Dahrendorf in einem Essay "Die globale Klasse und die neue Ungleichheit" über Globalisierung. Er nimmt die Globalisierung nicht als bloßen Anlass für rasche Anpassungen, sondern er versucht die gesellschaftliche Relevanz der Globalisierung aufzuspüren. Dahrendorf geht auf die große soziologische Theorie, innerhalb derer er sich in seinen frühen Arbeiten selbst bewegt hatte (1960er Jahre!), zurück und schreibt zu Beginn des Essays. "Im Einklang mit meinem langjährigen Ruf als Konflikttheoretiker werde ich über die neuen Spaltungen und Antagonismen reden, die die Globalisierung hervorgebracht hat (2000:1057). Das ist gut so und führt zu einer interessanten Bestimmung der gesellschaftlichen Konfliktkonstellation und des Potentials für Konfliktaustragungen.

Möge das Beispiel Nachahmung finden. Dann könnte ich die Formel von der Wiederkehr der Soziologie ein letztes Mal strapazieren - in Bezug auf eine Soziologie, die wieder Theorie der Gesellschaft wäre.


Veröffentlichung:
Die Wiederkehr der Soziologie, in: Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (ed.): Wissenschaften 2001. Diagnosen und Prognosen, Wallstein Verlag, Göttingen 2001, pp. 117-134.