Ost. West. - Gleichgestellt?

Das Projekt stellt sich vor

Wie gleich sind wir uns eigentlich – „Ost“ und „West“ – im dreißigsten Jahr der deutschen Einheit an der Philosophischen Fakultät? Wenngleich in den neuen Bundesländern 17 Prozent der Bevölkerung beheimatet sind, finden sich doch in den höchsten Positionen von Universitäten – in den Professuren und leitenden Verwaltungspositionen – gerade mal fünf Prozent Personen mit einem ostdeutschsozialisierten Hintergrund. Die Philosophische Fakultät der Universität Göttingen ist keine Ausnahme. Warum ist das so? Was sagen die wenigen, die aus den neuen Bundesländern kommen und in Führungspositionen an der Fakultät sind? Lasst uns reden – wir haben nachgefragt. In vier Videointerviews trifft Victoria Hegner, Gleichstellungsbeauftragte der Philosophischen Fakultät, auf Menschen und ihre Ost-West-Geschichten.

Endlich frei sein
Jacqueline Schubert, M.A., Geschäftsführerin der Philosophischen Fakultät

Frau Schubert hatte 1987 in der DDR einen Ausreiseantrag gestellt und wurde von der Leipziger Universität, wo sie Russisch und Englisch auf Lehramt studierte, sofort exmatrikuliert. 1989 durfte sie Ostdeutschland endlich verlassen und kam nach Göttingen: „Mit 25 an eine Universität in der Bundesrepublik zu kommen, hat mich befreit“, wie sie sagt. Was sie dabei auch an westdeutschen Kontexten befremdet und warum sie für eine „Ostdeutschen-Quote“ an Universitäten ist, das legt sie biografisch bewegt in diesem Interview dar.

Ein organischer Übergang
Prof. Dr. Uwe Junghanns, Professur für slavistische Sprachwissenschaft

In den Herbstmonaten 1989 hatte Uwe Junghanns gerade seine Dissertationsstudien angefangen. Als die Mauer fiel, so merkt er an: „war das für mich fast ein organischer Übergang in eine neue Zeit, weil ich gerade selbst etwas Neues angefangen hatte“. Wie genau sich dieser organische Übergang gestaltete, welche Rolle sein Aufenthalt in Saint Andrews dabei spielt und was es mit der ostdeutschen Slawistik auf sich hat, die weit vor der „Wende“ – und anders als in Westdeutschland – die neuere formale US-amerikanische Linguistik rezipierte – all das erfahren wir im Interview.

Ein glücklicher Zufall
Prof. Dr. Sebastian Günther, Professur Arabistik und Islamische Studien

Dass Sebastian Günther Arabist wurde, war eigentlich gar nicht geplant. In einem Land, wo die Zukunft aller Staatsbürger*innen genau durchgetaktet und gewiss nicht dem Zufall überlassen wurde, spielte in seinem Falle ein glücklicher Umstand eine Hauptrolle. Davon und von vielen weiteren zufälligen und auch geplanten Stationen seines akademischen Lebens im nun vereinten Deutschland und warum dabei sein ostdeutscher Hintergrund wichtig und dann wieder nicht so wichtig ist, berichtet Sebastian Günther eindrücklich.

Wiedervereinte Wissenschaft
Jun.-Prof. Dr. Jens Elze, Junior-Professor of British Literature and Culture

Jens Elze war erst 9 Jahre als die Mauer fiel. Ist es für ihn noch relevant, dass er in in der ehemaligen DDR geboren wurde? Bedeutet das etwas für ihn: Ja, und dann auch wieder entschieden nein, sagt er. Wie sich hier Grenzziehungen zwischen Ost und West immer stärker aufweichen beschreibt Jens Elze anschaulich. Doch so verflüssigt er die Identifikationen findet, so sehr hält er die Anerkennung ostdeutscher Biografien in Berufungs- und Einstellungsverfahren doch für erwägenswert: Warum und wie er die wiedervereinte Wissenschaft und das eigene Fach wahrnimmt, wo dann vielleicht doch Ost/West-Unterschiede eine Rolle spielen, davon berichtet das Interview.

Prof. Dr. Winfried Rudolf, Professor for Medieval English Language and Literature

Für Winfried Rudolf kam der Mauerfall genau richtig: Er war 15 und die Tore zur Welt wurden aufgestoßen. Er konnte Abitur machen und studieren: etwas, das ihm aufgrund der politischen Einstellung seiner Familie in der DDR versagt geblieben wäre. Wie er – getragen vom spirit of the 90s – begann sich auszuprobieren und ins Ausland ging und dann bei seiner Rückkehr an eine westdeutsche Traditionsuniversität wie Göttingen einen „Kulturschock“ erlebte, wird von ihm plastisch geschildert. Rückblickend gibt Winfried Rudolf zu Bedenken: „Der Beitritt zur Bundesrepublik, den die DDR zwar selbst politisch so beschloss, hat, auch wenn das aus westdeutscher Sicht hart klingen mag, dennoch zu einer Situation im Osten geführt, die in Einzelaspekten einer kolonialen vergleichbar ist.“ Seine Auseinandersetzungen mit der jüngsten deutschen Vergangenheit – getaucht in biografische Erfahrung – sind bewegend und kontrovers zugleich.

Schriftliches Interview hier

Lieber Herr Rudolf, Sie sind in Arnstadt, Thüringen geboren und aufgewachsen. Als Sie 15 Jahre alt waren, fiel die Mauer. Sie haben Ihr Abitur abgeschlossen und in Jena angefangen Anglistik zu studieren. Wie war das für Sie? Ihnen standen die „Tore zur Welt offen“, was so niemand in der DDR erahnen konnte – Wie haben Sie also via Studium den vielbeschworenen „spirit der 1990er“ erlebt?

Es war für mich persönlich ein Glücksfall, Anfang der 90er Abitur machen zu dürfen. Die Zulassung zu Abitur und Studium wäre aufgrund der politischen Einstellung meiner Familie unter den DDR-Verhältnissen der späten 80er Jahre sicher nicht möglich gewesen. Die Wende kam für mich also genau zur rechten Zeit. Die Wahl meines Studienhauptfachs „Anglistik/Amerikanistik“ war für mich schnell klar. Die Nebenfächer „Deutsch als Fremdsprache“ und „Interkulturelle Wirtschaftskommunikation“ waren große Unbekannte für mich, die sich für mich damals irgendwie pragmatisch anhörten und mir tatsächlich in meiner heutigen Tätigkeit beim Lehrstuhlmanagement, bei den internationalen Kooperationen und der Betreuung internationaler Studierender durchaus von Nutzen sind.

Der „Spirit“ im Studium in Jena war eine Mischung aus Unsicherheit, großer Neugier auf die Welt und Freiheitsdrang, weitaus weniger geprägt durch verschulte Curricula oder ein Sicherheitsdenken, das heute bisweilen und auch verständlicherweise bei einigen Studierenden anzutreffen ist. Nach den ersten zwei Jahren Studium nach Oxford zu kommen, war schon eine prägende Erfahrung, denn mein Aufenthalt fiel mit der Neuausrichtung des Königreiches hin zu mehr Europa und mit ‚Cool Britannia’ zusammen. Auch einzelne Aspekte des alltäglichen britischen Liberalismus hatten für mich etwas sehr Erfrischendes im Vergleich zu der in der Wendezeit ja unhinterfragt gebliebenen bundesdeutschen Rechtsordnung. Jedenfalls gab es reichlich Raum für allerlei persönliche Entdeckungen, und von da an war für mich auch klar, Deutschland irgendwann mal für mehrere Jahre verlassen zu wollen.

Aufgrund meiner Kindheitserfahrungen in der DDR war es mir aber gleichermaßen wichtig, während des Studiums Zeit in Osteuropa zu verbringen, und diese Erfahrung war nicht minder prägend. Es war sehr aufschlussreich, in Ungarn aus der Nähe zu sehen, wie Menschen in Osteuropa mit ihren bis heute anhaltenden Identitätskrisen mehr oder weniger gut zurechtkommen, wie ihre Ausrichtung auf den Westen, im Gegensatz zu der Ostdeutschlands, oftmals noch langsamer voran ging, ihre Identität sich aber in einigen Aspekten leichter neu justieren ließ als jene der Menschen der ehemaligen DDR.

An der Uni Jena war der Konflikt zwischen ostdeutschem Mittelbau und vielen neu ernannten westdeutschen ProfessorInnen (von denen zumindest einige im Westen sicher nur zweite oder dritte Wahl gewesen wären) durchaus spürbar. Ich hatte großes Glück, dass mein persönlich wichtigster Lehrer und Mentor in Jena, Prof. Stephen N. Tranter, ein Brite war, dem die hierarchienverhafteten deutschen Universitätsstrukturen zutiefst zuwider waren und der versuchte, mit viel Humor und Charisma auf das West-Ost Gefälle im Jenaer Institut ausgleichend einzuwirken. Er hat schon sehr dafür gesorgt, dass ich mich als ostdeutscher Studierender umfassend bilden und entfalten konnte, und mich bestärkt, von Anfang an kritisch auf das deutsche, aber auch das britische, Bildungssystem zu blicken. Positiv erwähnen möchte ich hier ausdrücklich auch die westdeutschen Professor*Innen Gerlinde Huber-Rebenich, Hildegard L.C. Tristram und Wolfgang G. Müller (ursprünglich aus Greiz in Thüringen), sowie die ostdeutschen Mittelbauler Dr. Eva Blaha und Dr. Ewald Festag, die auf ihre eigene Art fachlich herausragend waren und dabei menschlich über den deutsch-deutschen Problemen standen, jedoch ohne Blindheit für die offensichtlichen und nicht ganz so offensichtlichen Konflikte. Ungeachtet dieser Probleme war ich einfach froh, studieren zu können, denn diese Chance war für mich, wie bereits erwähnt, keine Selbstverständlichkeit.

Es ist auffällig an Ihrem Lebenslauf, dass Sie nach der Promotion lange ins Ausland gegangen sind. Aus Ihren Erfahrungen abroad heraus haben Sie in unserem Vorgespräch von einer Art Ideologie „Eins sein zu müssen“ in Deutschland gesprochen, wodurch gerade auch das, was die ostdeutsche Sozialisation an Erfahrung und Wissensbeständen mit sich bringt, keine Anerkennung erfuhr – auch in der Wissenschaft – wie meinen Sie das?

Die acht Jahre, die ich insgesamt im Ausland als Student und Wissenschaftler in dortigen Bildungssystemen verbracht habe, haben meinen Blick auf Gesamtdeutschland durchaus geschärft. So wie viele junge Ostdeutsche, die in dieser Zeit außerhalb der deutschen Koordinaten auf Identitätssuche waren, hatte ich nicht damit gerechnet, 2011 überhaupt wieder nach Deutschland zurückzukehren. Ich verdanke diese Möglichkeit, soweit ich dies einschätzen kann, fast ausnahmslos westdeutschen Kolleg*Innen. Dennoch war die Rückkehr an eine westdeutsche Traditionsuniversität wie Göttingen in vielerlei Hinsicht ein Kulturschock für mich. Überverwaltung und steile Hierarchien sind nach wie vor ein großes Problem des deutschen akademischen Systems und behindern viel kreatives Potenzial sowie die menschliche und akademische Emanzipation junger Wissenschaftler*Innen. Von Vielem in Göttingen war ich aber auch durchaus positiv überrascht, besonders von der großzügigen Hilfs- und Kooperationsbereitschaft einzelner Kolleg*Innen.

Zur Einheit und deren Vollzug: Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik hat, auch wenn das aus westdeutscher Sicht hart klingen mag, zu einer Situation im Osten geführt, die zumindest in Einzelaspekten einer kolonialen vergleichbar ist. Hiermit möchte ich keineswegs eine Opferrolle für den Osten reklamieren oder perpetuieren, es geht mir allein darum, sich diese historische Tatsache wirklich klar zu verdeutlichen. Das westdeutsche Rechts-, Bildungs- und Gesundheitssystem und noch so einige andere Systeme mussten quasi über Nacht übernommen werden, ohne dass es für die Menschen auf beiden (!) Seiten Möglichkeiten für eine ergebnisoffene Diskussion und Entwicklung echter Synthesen und Synergien gegeben hätte. So folgte im Osten auf den kurzen Moment der Mündigkeit 1989/90 sehr schnell das Gefühl der erneuten Bevormundung, oft verbunden mit psychologischen Traumata durch Jobverlust und damit wiederum verbundene Entwertung beruflicher Qualifikation und Lebensleistung, anhaltende Existenzangst, Verlust familiärer Bindungen oder gar der Ehe und Familie durch Arbeitsmigration u.a. Diese biografischen Traumata sind bis heute nicht bewältigt und werden in bestimmten Teilen der ostdeutschen Bevölkerung psychologisch weitervererbt. Sie werden heute verstärkt durch den demografischen Wandel, den anhaltenden brain-drain und das Stadt-Land Gefälle. Sie sind weder in ihren Ursachen und ihrem ganzen Ausmaß wirklich erfasst, noch durch den Westen in aller Tiefe und Empathie verstanden, denn sie sind wissenschaftlich nicht wirklich holistisch und eingehend untersucht worden – besonders von den Ostdeutschen selber. Als Anglist bin ich heute zu Recht mit der These konfrontiert, dass der Weiße Westen sich die Erklärung kolonialer oder postkolonialer Befindlichkeiten nicht mehr anmaßen darf, sondern diese von Forscher*Innen aus den kolonialisierten Kulturen des ehemaligen britischen Empires selbst heraus aufgearbeitet werden sollte. Einen ganz ähnlichen Ansatz sollte man für Ostdeutschland wählen und ermöglichen.

Zur Frage nach dem Einheitsideal: Der Beitritt zur westdeutschen Verfassung, die juristische Einheit, musste quasi automatisch eine feste Vorstellung von kultureller Einheit unter einer einseitig westlichen Prägung nach sich ziehen, die die Deutschen noch heute in ihrem Unterbewusstsein tragen. Die Realität zeigt, dass man diese Einheitlichkeit oder einen prozesshaften Vollzug einer solchen Einheit zwar proklamieren, sie aber in den Köpfen der Menschen selbstverständlich nicht erzwingen kann. Die Frage muss dann logischerweise sein, ob diese Idee überhaupt so notwendig oder haltbar ist. Das Deutschland von heute müsste sich meiner Meinung nach dahingehend gar nicht so sehr unter Druck setzen, aber so lange Menschen und Politik sich nicht gegenüber dem Ideal einer bestimmten Form nationalstaatlicher Einheitlichkeit entspannen können, wird dieser Druck bleiben.

Dissenz auszuhalten, gleichzeitig Ambiguitätstoleranz zu üben und dadurch möglichst viele Menschen in ihren Biografien zu respektieren, ist meiner Ansicht nach viel wichtiger als dem Ideal einer „Nation“ oder anderweitigen Gruppenidentitäten nachzujagen. Das gilt für das Ideal einer gesamtdeutschen Identität genauso wie für föderalen Regionalismus oder auch die Proklamation einer positiveren eigenen ostdeutschen Identität, wie sie z.B. durch „Aufbruch Ost“ vertreten wird – all diese Modelle sind aus meiner Sicht problematisch. Die Identitäten sehr vieler in Deutschland lebenden Menschen sind aufgrund der innerdeutschen und internationalen Migration inzwischen wesentlich komplexer, der Terminus „ostdeutsch“ deswegen heute entsprechend vage. Für das praktische Zusammenleben größerer Gruppen von Menschen sind gemeinsame Werte viel wichtiger als gemeinsame Herkunft, aber wir wissen aus der Weltgeschichte, wie schwierig es ist, Menschen durch entsprechende Bildung davon zu überzeugen. Der Drang hin zur „Stammeszugehörigkeit“ anhand anderer Identitätskriterien ist leider oft stärker. Die bundesdeutsche Verfassung liefert eigentlich eine sehr gute Grundlage für diese Überzeugungsarbeit, nur leider durften die Ostdeutschen dazu nicht viel beitragen. Hätten sie es gedurft, würde es manchen von ihnen heute sicher leichter fallen, sich in ihr wiederzuerkennen und mit ihr zu identifizieren. Ähnliches gilt für die Wissenschaft und ihre Ergebnisse. Je mehr Partizipation aller, desto mehr Identifikation aller.

Was die Anerkennung der Wissensbestände angeht, so kann man noch immer ein Defizit an wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit den Werten der DDR aber besonders auch mit dem Ostdeutschland der letzten 30 Jahren ausmachen. Letzterer Zeitraum ist entscheidend für das Verständnis vieler der gegenwärtigen Probleme. Zahlreiche west- und ostdeutsche Filme, Dokumentationen oder auch Museen stellen DDR-Bürger*Innen vielfach immer noch wie eine ausgestorbene andersartige Spezies dar, obwohl es sich dabei millionenfach um noch lebende Personen handelt. Daraus spricht ein auf beiden Seiten existierender Wunsch nach einer feststellbaren vollständigen Andersartigkeit der DDR, nach einem historischen Schlussstrich, aber auch nach einer klaren mentalen Abgrenzung, die es hinsichtlich der DDR genauso wenig geben sollte und kann, wie hinsichtlich des Dritten Reiches. Es scheint immer noch eine unausgesprochene Weigerung auf beiden Seiten zu geben, die Geschichte des jeweils anderen Teils Deutschlands vorbehaltlos und interessiert in das eigene kollektive Gedächtnis zu integrieren. Wieviele Westdeutsche kennen Sie, die mit Acronymen wie GST, PGH oder DSF problemlos was anfangen können? Umgekehrte Beispiele ließen sich genauso finden.

Echtes Interesse ist die Voraussetzung für den differenzierten Blick. In Bezug auf die DDR vergisst man leicht, wie einzigartig idealistisch und dennoch utopisch dieses politische Experiment mit Blick auf die vorangegangene Weltgeschichte gewesen ist, aber auch, unter welchen, in mancherlei Hinsicht sehr ungünstigen, Faktoren dieses Experiment stattgefunden hat. Die DDR war als Teil des Warschauer Paktes in ihrem politischen Willen von Anfang an nie wirklich frei, sie hatte ökonomisch im Vergleich zum Westen beileibe nicht die gleichen Startbedingungen und sie hat sich von Anfang an erhebliche politische und gesellschaftliche Ideale auferlegt, die sie dann letzten Endes nur durch Selbsttäuschung “erreichen” konnte. Eine Ideologie rigide vorzugeben und an ihr festzuhalten, statt gemeinsam Werte organisch auszuhandeln und zu entwickeln, musste den anfänglichen politischen Idealismus besonders der jungen Generation zwangsläufig verraten. Die dystopische, menschenverachtende Erfahrung des Dritten Reiches war sicherlich zu traumatisierend und zu frisch, als dass ein politisches Gegenmodell wie die DDR sich hätte demgegenüber ideologisch entkrampfen können. Man kann die Hypothese vertreten, dass das Experiment der DDR ohne die Tatsache des Dritten Reiches möglicherweise nie realisierbar geworden wäre, ihre ideologische Rigidität und das daraus resultierende Unrecht aber gerade deshalb ihrem Vorgänger mehr ähnelte, als ihr lieb sein konnte. Auch dies ist ein Teil ihrer Selbsttäuschung und ihres Scheiterns. Diesen Zusammenhang müssen Ostdeutsche noch mehr beforschen.

Auf der anderen Seite gehen der öffentliche, aber auch teilweise der wissenschaftliche, Diskurs noch immer erschreckend oberflächlich und vereinheitlichend mit der DDR um. Sie war weder „kommunistisch“, denn das gesellschaftliche Ideal des Kommunismus, wie G. A. Cohen mir gegenüber mal treffend bemerkt hat, wurde dort zu keinem Zeitpunkt auch nur ansatzweise realisiert; noch kann man die 40 Jahre ihrer Existenz auf einen einheitlichen Gesellschaftszustand reduzieren, denn auch dieser Staat hat eine Entwicklung durchgemacht. Hier liegen Defizite in der Forschung, auf die viele Ostdeutsche wertvolle Antworten geben könnten, wertvoll gerade mit Blick auf die seit Jahren unverkennbare Reformbedürftigkeit der kapitalistischen Gesellschaftsordnungen. Eine Anerkennung dieses ostdeutschen Teils des kollektiven Gedächtnisses in Form von tiefem Interesse durch Forschung und dessen aktive Wertschätzung in Form von Umsetzung politischer Reformen ist leider bisher nur sehr spärlich erfolgt. Sie würde jenen Menschen, die sich selbst vornehmlich als Ostdeutsche begreifen, in ihrem Selbstverständnis, aber sicher auch dem Land insgesamt, sehr gut tun. Ich bin überzeugt, dass gerade in der historisch-politischen Ambiguität unseres Landes ein einzigartiger gesellschaftlicher Vorteil liegt, den wir nach wie vor viel zu wenig produktiv und der Zukunft zugewandt nutzen.

In den höchsten wissenschaftlichen Lebenszeitpositionen, den Professuren, sind Ostdeutsche nach wie vor deutlich unterrepräsentiert, auch in der Phil. Fak. der Uni Göttingen. Was meinen Sie, was geht für die Wissenschaft und die wissenschaftliche Praxis durch diese Unterrepräsentanz verloren?

Es ist schwer zu sagen, was genau durch eine Überrepräsentanz oder Unterrepräsentanz bestimmter Gruppen gewonnen oder verloren wäre. Gute Fachwissenschaft sollte zunächst gänzlich unabhängig von der Herkunft der Wissenschaftler*In nach ihrer Qualität beurteilt werden. Dies ist sicherlich in den Naturwissenschaften und der Medizin manchmal eindeutiger zu bestimmen als in den eher zu verdächtigenden Geistes- oder Gesellschaftswissenschaften, in denen der theoretische Ansatz oder die politische Meinung der Forscher*In stärker in den Vordergrund treten. Gänzlich apolitisch ist wissenschaftliche Tätigkeit aber niemals.

Wissenschaftlich herausragende Leistungen sind das Eine, das Erreichen akademischer Positionen innerhalb der universitären Strukturen aber das Andere. Wir wissen nachweislich, dass das Eine nicht immer gerechterweise zum Anderen führt und dass das deutsche Universitätssystem mit seinen Hierarchien und langen Abhängigkeiten im wissenschaftlichen Qualifikationsprozess die Durchlässigkeit und Transparenz für gesellschaftliche Minderheiten in besonderem Maße behindert. Ostdeutsche sind davon zweifellos betroffen gewesen, wobei die Definition ostdeutscher Identität, wie oben beschrieben, mittlerweile eine sehr komplexe Angelegenheit ist. Das Wissenschaftssystem einer freien und pluralen Gesellschaft sollte nach beiden Dingen streben: wissenschaftlicher Exzellenz und ausgeglichener Repräsentanz aller gesellschaftlicher Gruppen. Dazu bedarf es umfassender Bildungsgerechtigkeit, lange vor der Universität, beginnend mit der frühkindlichen Erziehung. Dies entschuldigt jedoch nicht die nachweisliche strukturelle Benachteiligung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen an der deutschen Universität.

In meinem Fach, der anglistischen Mediävistik, bin ich über den anglo-amerikanischen Raum mit dem Thema des strukturellen Rassismus, aber auch mit postkolonialen Mechanismen, Strukturen und Traumata momentan sehr stark konfrontiert. Der Osten Deutschlands kann heute, mit Blick auf die vergangenen 70 Jahre, durchaus in bestimmter Hinsicht als postkoloniales Territorium bezeichnet werden und die persönliche Erfahrung damit ist, obwohl sehr frisch, aus meiner Sicht besonders dazu geeignet, ja sie verpflichtet ehemalige DDR-Bürger*Innen geradezu, auf die Benachteiligung der gesellschaftlich noch Schwächeren hinzuweisen. Ohne dies überzubewerten: Ich glaube ehemalige DDR-Bürger*Innen können, zumindest theoretisch, sehr gute Anwälte für die Anliegen der strukturell rassistisch Benachteiligten sein, denn sie verfügen zumindest über den Vorzug, nicht ständig in einer Position kultureller Überlegenheit gelebt zu haben. Weiße Ostdeutsche können jedoch, wie alle Weißen an sich, niemals wirklich die Erfahrung des strukturellen Rassismus nachvollziehen, allerhöchstens jene der strukturellen Benachteiligung aufgrund der geographischen Herkunft. Dies ist zwar etwas, das sich genauso wenig ändern lässt wie die Hautfarbe, zieht aber, insgesamt gesehen, weitaus weniger Benachteiligung nach sich und überträgt sich bei Wohnortverlagerung nicht langfristig auf die eigenen Kinder und Enkel. Umso paradoxer mutet es an, dass sich gerade einige Ostdeutsche verstärkt gegen Ausländer wenden. Sind sie ihnen zu ähnlich? Machen sie ihnen die Opferrolle streitig? Es gäbe jedenfalls genügend Gründe für Ostdeutsche, sich mit ihnen zu solidarisieren.

Vor diesem Hintergrund ist die nachweisliche Unterrepräsentanz der Ostdeutschen in akademischen Führungspositionen nur ein Symptom der noch weitaus stärkeren Benachteiligung nicht-deutscher und/oder nicht-weißer Akademiker in Deutschland. An dieser strukturellen Benachteiligung sind Ostdeutsche genauso beteiligt wie Westdeutsche. Der demografische Wandel und die Verdrängung der deutschen Kolonialgeschichte sollten uns meiner Meinung nach verpflichten, dieses Thema weitaus stärker in den Vordergrund zu stellen als die ost-westdeutsche Nabelschau. Der Umgang mit diesem Thema wird sehr stark darüber bestimmen, welches Land wir in Zukunft sein wollen. Aus Sicht der Geisteswissenschaften ist dahingehend sehr viel Aufräumarbeit in den einzelnen Fachgeschichten aber weit mehr noch in den gegenwärtigen Curricula zu leisten. Es kann nicht sein, dass z.B. abendländische Archäologen oder Ethnologen oftmals gestohlene Artefakte aus z.B. Afrika oder Asien beforschen und dann auch noch den Anspruch erheben, diesen Kulturen aus der Position einer angeblichen wissenschaftlichen Überlegenheit heraus zu erklären, wie sie diese Dinge zu verstehen und einzuordnen haben. Hier haben Deutschland und die gesamte westliche Welt sehr großen Grund zu profunder Selbstkritik und Selbstkorrektur.

Es gibt, nichtsdestoweniger, ein klares kulturelles Muster der Unterschätzung Ostdeutscher durch Westdeutsche in den letzten 30 Jahren, wie einige sehr prominente Beispiele ja zweifelsfrei belegen. Man kann aber nur spekulieren, wieviel kulturelles Kapital in diesem Zeitraum für die Wissenschaft dadurch ungenutzt geblieben ist. In der Praxis darf man ostdeutschen Wissenschaftler*Innen sicherlich eine kritische Distanz und ein gesundes Misstrauen in jegliche Form von Gesellschaftsordnung, Regelsystem oder Organisationsstruktur bescheinigen, eine Form der Skepsis, die dem wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse sehr dienlich ist, die sich aber, meiner Meinung nach, allerorten auf der Welt finden lässt. Ein mehr an Skepsis und Kontroverse hat guter Wissenschaft noch nie geschadet, und beide sind die besten Voraussetzungen für die Reform verkrusteter staatlicher oder auch universitärer Strukturen. Dazu braucht es gemeinsamen Willen, Nachsicht und die Fähigkeit aller Beteiligten, sich selbst nicht zu wichtig und zu ernst zu nehmen.


Vielen Dank für das Gespräch. WR Göttingen, November 2020