Profil und Ziele


Erste Projektphase (2020–2023)


Der Übergang vom Realismus, der vorherrschenden ästhetischen Form des 19. Jahrhunderts, zur frühen Moderne um 1900 wird von den damaligen Zeitgenoss:innen und der Literaturgeschichte als tiefgreifender Wandel angesehen, der zahlreiche formale und inhaltliche Aspekte betrifft. Das gilt auch für die Lyrik. Doch während heutzutage nur eine kleine Gruppe von Autor:innen und Gedichten als „modern“ gilt, wendeten die Zeitgenossen das Attribut „modern“ auf viel mehr Texte an, wie zum Beispiel ein Blick in die um 1900 erschienenen Anthologien moderner Lyrik zeigt. Eines der Hauptziele des Projekts besteht darin, diese Diskrepanz zu untersuchen: Ignoriert die Literaturgeschichte die modernen Tendenzen in jenen Gedichten, oder haben die Zeitgenossen Veränderungen und Innovationen wahrgenommen, wo es keine gab? Um diese Frage zu beantworten, werden wir die Texte unter dem Gesichtspunkt der Ähnlichkeit untersuchen, wobei wir davon ausgehen, dass modernere Texte einander ähnlicher sind als sie traditionellen Texten ähneln. Ähnlichkeit ist immer mit einer bestimmten Perspektive verbunden. Die Dimensionen, unter denen die damaligen Zeitgenoss:innen und die heutigen Literaturhistoriker:innen die Hauptunterschiede zwischen der Dichtung des Realismus und der frühen Moderne subsumieren, sind meist dieselben: neue Themen, neue Formen und eine neue Art, Emotionen in Gedichten zu gestalten. Wir werden all diese Aspekte behandeln und dabei – je nach konkretem Analysefall – neue Methoden einsetzen. Die Methodenentwicklung wird sich auf die semantische Textähnlichkeit und die Sentiment- bzw. Emotionsanalyse konzentrieren. Die Messung der Textähnlichkeit von kurzen Texten stellt eine beachtliche Herausforderung dar, aber seit der Einführung von word2vec und anderen Formen von Word Embeddings hat sich die Situation dramatisch verbessert. Die Anwendung dieser Ansätze auf historische Texte und insbesondere auf die Gattung Lyrik ist eine besondere Herausforderung: Das Vokabular lyrischer Texte unterscheidet sich deutlich von dem anderer literarischer Gattungen. Es zeichnet sich durch die Verwendung von Archaismen und Neologismen aus, bei denen es sich in vielen Fällen um zusammengesetzte Wörter handelt. Die Bestimmung, welche Art von Word Embeddings für unsere Anwendungsfälle geeignet ist und wie sich Word Embeddings zur Repräsentation kurzer Texte mit Schwerpunkt auf Dimensionen wie der allgemeinen Semantik eingesetzt werden können, ist der eine methodische Schwerpunkt des Projekts. Der andere Schwerpunkt besteht in der der Entwicklung eines historischen Emotionslexikons, das Emotionen ohne Anachronismen enthält.


Zweite Projektphase (2023–2026)


Ziel des Projekts ist, besser zu verstehen, wie sich die Lyrik im Kontext der Literatur und Kultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt hat. Zu diesem Zweck erweitern wir die Untersuchungen der ersten Projektphase zum Übergang von realistischer zu frühmoderner Lyrik, indem wir jenen Übergang komplexer modellieren, und indem wir von einer Perspektive, die ausschließlich Lyrik betrachtet, zu einer Betrachtung der Gattung in einem größeren Kontext übergehen. Dies wollen wir erreichen, indem wir (1) die Entwicklung der Lyrik im Zeitverlauf analysieren, (2) uns auf drei Parameter des Wandels konzentrieren, (3) die Parameter entlang von drei Textdimensionen analysieren, (4) literarische und außerliterarische Kontexte einbeziehen und (5) untersuchen, inwieweit Lyrik durch diese Kontexte beeinflusst wird, sie beeinflusst oder von ihnen unabhängig ist, indem wir verschiedene Messungen in ein integratives Modell überführen.

(1) Auch wenn die Vorstellung von Literaturgeschichte als einer linearen Abfolge einzelner Epochen eine hilfreiche Heuristik sein mag, verläuft literarischer Wandel de facto entlang eines zeitlichen Kontinuums und beschleunigt oder verlangsamt sich dynamisch. Unser Ziel ist daher, nicht nur den Realismus und die frühe Moderne als zwei getrennte Epochen gegenüberzustellen, sondern auch Zeitreihendaten auf Jahresbasis zu analysieren, die einen differenzierteren Blick auf literarischen Wandel ermöglichen. Die Kodierung von Texten und Daten mit Zeitsignaturen ermöglicht auch eine fundiertere Analyse der Zusammenhänge zwischen verschiedenen Datensätzen, was für die Untersuchung von Kontexteinflüssen wichtig ist.

(2) Wie bereits erwähnt, wurde in der Literaturgeschichte die Hypothese aufgestellt, dass der Wandel vom Realismus zur frühen Moderne als eine Pluralisierung literarischer Positionen verstanden werden kann. Nicht nur die Zahl der möglichen Positionen nimmt zu, sondern viele von ihnen liegen auch außerhalb dessen, was früher möglich war. In der Forschung wird dieser Übergang im Hinblick auf eine Vielzahl von Phänomenen diskutiert; wir konzentrieren uns auf drei besonders wichtige Parameter des Wandels: Geschlechterrollen und Geschlechterbeziehungen, Technologie sowie philosophische und wissenschaftliche Anthropologie (Darwin und Nietzsche). Zweifellos existieren noch weitere Parameter, die für den Übergang vom Realismus zur frühen Moderne relevant sind und die sich untersuchen ließen, zum Beispiel die soziale Frage oder die Darstellung der Großstadt. Wir halten jedoch die Analyse dieser drei Parameter für fruchtbar, da sie von der Forschung immer wieder als relevant für das Verständnis des Übergangs vom Realismus zur frühen Moderne angesehen werden und da sie die gesamte Bandbreite der in der Literaturwissenschaft am häufigsten genannten Kontexttypen repräsentieren, nämlich sozial-konstruktive Kontexte, sozial- und kulturgeschichtliche Kontexte und ideengeschichtliche Kontexte.

(3) Um die literaturwissenschaftlichen Hypothesen zu operationalisieren, werden wir Texte und Kontexte entlang dreier Textdimensionen analysieren, für die wir uns aus theoretischen und analytischen Gründen entschieden haben: Inhalt, Emotion und Stil. Für alle Dimensionen verwenden wir bestehende oder entwickeln neue Methoden, die es uns erlauben, sie auf ihre Unterscheidungsmerkmale hin zu analysieren und Kontextdaten und literarische Texte verschiedener Gattungen im Hinblick auf die Parameter des Wandels miteinander in Beziehung zu setzen.

(4) Wie bereits erwähnt, beziehen wir nicht nur Gedichte ein. Um ein breites Spektrum an Kontextquellen abzudecken, die von der Literaturgeschichte als wichtig für die Entwicklung der Lyrik erachtet werden, nehmen wir Texte aus anderen literarischen Gattungen und nichtliterarische Texte, die öffentliche Diskurse repräsentieren, in unser Korpus auf. Darüber hinaus beziehen wir Daten zu sozialen und kulturellen Aspekten ein.

(5) In CLS-Projekten waren kontextuelle Beziehungen bisher nicht oft in eine formale Modellierung literarischen Wandels integriert. Ihre Einbeziehung könnte uns jedoch ermöglichen, literarischen Wandel nicht nur zu beschreiben, sondern auch erste Schritte zu seiner Erklärung auf korpus- und datenbasierter Basis zu unternehmen. Wir streben ein Time-Series-Forecasting-Modell an, das den Vorteil hat, dass alle Variablen je nach ihrer zeitlichen Abfolge Prädiktor und Target sein können. Letztendlich wollen wir unsere verschiedenen Daten in einem integrativen Modell zusammenführen.