Relevanz der Geschlechterforschung
Die Geschlechterforschung wird an der Universität Göttingen seit über 20 Jahren als eigenständiges Studienfach angeboten. Der Studiengang erfreut sich dabei seit Beginn großer Beliebtheit und weist eine solide Studierendenauslastung auf. Innerhalb Niedersachsens gibt es derzeit nur zwei Standorte, an denen Geschlechterforschung studiert werden kann. Göttingen ist dabei der einzige Standort mit einem klaren sozialwissenschaftlichen Schwerpunkt und bietet sowohl im Bachelor- als auch im Masterstudiengang ein umfassendes Studienangebot an. Dennoch verfügt der Studiengang über keine eigene Professur und sollte auf Beschluss des Präsidiums im Jahr 2022 geschlossen werden. Nach breitem öffentlichen und studentischen Protest konnte diese Schließung durch das Land Niedersachsen verhindert werden.
Angesichts der erfolgreichen Entwicklung und der langen Tradition der Geschlechterforschung an der Universität Göttingen ist es bedauerlich, dass die Existenz dieses Forschungsfeldes immer wieder begründet werden muss. „Gender Studies“ – so der Oberbegriff – sehen sich regelmäßig mit Infragestellungen und Kritik konfrontiert, sowohl innerhalb der Wissenschaft als auch aus konservativen und insbesondere rechtspopulistischen Kreisen. Diese besondere Situation unterscheidet das Fach von vielen anderen Disziplinen und macht es leider notwendig, die Bedeutung und Relevanz der Geschlechterforschung immer wieder klar darzulegen.
Womit beschäftigt sich die Geschlechterforschung?
Die interdisziplinäre Geschlechterforschung untersucht, wie Geschlecht gesellschaftlich organisiert, erlebt und wirksam wird. Sie fragt, wie Geschlechterverhältnisse entstehen, wie sie sich verändern – und wie sie mit Macht, Arbeit, Körper, Sprache, Recht oder Gesundheit verknüpft sind.
Ursprünglich entwickelte sich die Geschlechterforschung aus der Frauenforschung, die darauf aufmerksam machte, dass Frauen und ihre Lebensrealitäten in vielen Wissenschaften lange ignoriert oder verzerrt dargestellt wurden. Ziel war es, diese Wissenslücken zu schließen und wissenschaftliche Perspektiven zu korrigieren. Später kamen weitere Forschungsbereiche hinzu – etwa die Männlichkeitsforschung, die zeigt: Auch Männer haben ein Geschlecht – und machen geschlechtsspezifische Erfahrungen. Heute arbeitet die Geschlechterforschung unter einem intersektionalen, vielfaltsbewussten und machtkritischen Ansatz. Zentrale Impulse kommen auch aus der Queer- und LGBTQI-Forschung, die zeigt: Geschlecht ist nicht losgelöst von Sexualität, Begehren, Normen und Identität zu denken – insbesondere, weil der gesellschaftliche Alltag stark von der Vorstellung eines zweigeschlechtlich-heterosexuellen Modell geprägt ist.
Die Geschlechterforschung beleuchtet etwa den Gender Pay Gap (Lohnlücke), den Gender Care Gap (ungleiche Verteilung von Sorgearbeit), den Gender Pension Gap (Risiko weiblicher Altersarmut), oder den Gender Data Gap, also die geschlechterungleiche Erhebung und Auswertung von Daten in Medizin, Technik oder Wirtschaft.
Darüber hinaus analysiert sie, wie Geschlecht den Alltag strukturiert – z. B. bei Toiletten, in der Architektur, in der Schule oder auf dem Arbeitsmarkt, in Partien oder in der Stadtplanung. Auch die kulturell-symbolischen Differenzierungs- und Kategorisierungsprozesse sowie die Bewertung von Geschlechtszuschreibungen („männlich“, „weiblich“, „trans“, „nicht-binär“) stehen im Fokus. Ebenso beschäftigt sich Geschlechterforschung damit, welche Rolle Geschlecht für die Identität und die Selbstwahrnehmung von Individuen spielt, wie Geschlechterbilder unsere körperlich-leibliche (Selbst-)Wahrnehmung beeinflussen (geschlechtlicher Habitus) und welche Transformationen und Kontinuitäten dabei im Verhältnis zu gesellschaftlichen Entwicklungen zu beobachten sind. „Daher betreffen Geschlechterverhältnisse – wenn auch in unterschiedlichem Maße und in unterschiedlicher Ausprägung – alle Wissenschaftsdisziplinen.“ (Wissenschaftsrat 2023: 24)
In Göttingen ist die Geschlechterforschung an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät angesiedelt. Neben grundständiger Lehre aus der sozialwissenschaftlichen Geschlechterforschung bezieht der Studiengang interdisziplinäre Lehre aus anderen Fächern und Fakultäten.
Wie andere Disziplinen konzentriert sich die Geschlechterforschung auf einen spezifischen Wissensbereich. Sie verfügt über eigene Theorien, Methoden, Fachdebatten, Publikationsorgane, Studiengänge, wissenschaftliche Gesellschaften und internationale Konferenzen. Auch institutionell ist sie fest verankert – an Universitäten, in Lehrstühlen, Forschungsinstituten und Curricula.
Trotzdem wird ihr gelegentlich die Wissenschaftlichkeit abgesprochen – sei es mit dem Vorwurf, sie sei ideologisch, unwissenschaftlich oder „nicht objektiv“. Solche Kritik betrifft jedoch keineswegs nur die Geschlechterforschung. Auch andere Forschungsfelder wie Demokratieforschung, Klima- und Migrationsforschung oder die Theologie müssten sich ähnliche Fragen gefallen lassen, wenn man die Wissenschaftlichkeit allein an vermeintlicher „Objektivität“ oder „Nützlichkeit“ misst.
Tatsächlich zeigen sich bei genauerer Betrachtung: Die Grenzen dessen, was als Wissenschaft gilt, sind nie absolut festgelegt, sondern unterliegen historischen, institutionellen und politischen Aushandlungsprozessen. Studiengänge heißen an verschiedenen Universitäten unterschiedlich, manche Fächer werden zusammengelegt, andere ganz abgeschafft – das zeigt: Wissenschaft ist kein starres System, sondern ein dynamisches Feld.
Geschlechterforschung ist eine wissenschaftliche Disziplin, die gesellschaftliche Phänomene wie Geschlechterverhältnisse, Ungleichheiten und die Prozesse von Geschlechterunterscheidungen untersucht. Sie fragt: Wie entstehen Geschlechterdifferenzen? Wie wirken sie in Politik, Arbeit, Gesundheit, Bildung und im alltäglichen Miteinander von Menschen? Und wie hängen sie mit Machtverhältnissen zusammen?
Gleichstellungspolitik hingegen verfolgt praktische Maßnahmen, um bestehende Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern zu verringern – z. B. beim Lohn, in der Gesundheitsversorgung oder bei der beruflichen Teilhabe. Zwar gibt es inhaltliche Schnittmengen und eine sinnvolle Zusammenarbeit, doch die Ziele und Logiken beider Bereiche unterscheiden sich grundlegend. Gleichzeitig kann die Gleichstellungsarbeit (an Universitäten, in Kommunen etc.) ein potentielles Arbeitsfeld für Absolvent*innen des Studiums der Geschlechterforschung darstellen.
Dass Geschlechterforschung gesellschaftlich und politisch diskutiert wird, ist kein Zeichen mangelnder Wissenschaftlichkeit – im Gegenteil: Wo Wissenschaft gesellschaftliche Phänomene analysiert, steht sie auch im Zentrum gesellschaftlicher und politischer Debatten. Das gilt ebenso für andere Disziplinen wie Politikwissenschaft, Demokratieforschung oder Soziologie, die sich mit Machtverhältnissen und sozialer Ordnung befassen. Auch in Natur- und Lebenswissenschaften, etwa in der Klimaforschung oder Immunologie, sind Erkenntnisse nie völlig „neutral“, sondern haben enorme gesellschaftliche und ethische Relevanz. Kurzum: „Ein emanzipatorisch-aufklärerisches Ziel zu verfolgen, steht nicht im Widerspruch zum Status als Wissenschaft.“ (Wissenschaftsrat 2023: 8)
Oft entsteht der Eindruck, dass Geschlechterforschung etwas sei, das „alle“ können. Das liegt vermutlich daran, dass jede*r über Alltagswissen über Geschlecht verfügt: Wir wachsen mit bestimmten Vorstellungen von „Mann“ und „Frau“ auf, wir identifizieren uns selbst geschlechtlich oder beobachten die Geschlechterverhältnisse in unserer Umgebung.
Doch Geschlechterforschung ist mehr als die persönliche Erfahrung von Geschlecht oder die Fähigkeit, Männer und Frauen zu zählen. Sie untersucht Geschlecht als gesellschaftliches und historisch gewachsenes Ordnungsprinzip – und fragt kritisch, wie Geschlechterverhältnisse entstehen, sich verändern und welche Machtverhältnisse damit verbunden sind.
Ebenso wenig wie es reicht, etwas rechnen zu können, um Mathematiker*in zu sein, oder das politische System zu kennen, um Politikwissenschaftler*in zu sein, reicht es aus, ein Alltagsverständnis von Geschlecht zu haben, um Geschlechterforscher*in zu sein. Wissenschaftliche Geschlechterforschung erfordert theoretisches Wissen, methodische Kompetenzen und die Bereitschaft, vermeintliche Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen.
Denn Geschlechterforschung ist wissenschaftlich relevant, gesellschaftlich notwendig und strategisch zukunftsweisend.
Universitäten stehen im Wettbewerb um die klügsten Köpfe – bei Studierenden ebenso wie bei Forschenden. Die Möglichkeit, sich mit Geschlechterfragen wissenschaftlich auseinanderzusetzen, ist für viele ein starkes Argument bei der Studien- oder Berufswahl. Geschlechterforschung ist dabei ein Alleinstellungsmerkmal, das die Sichtbarkeit und Attraktivität einer Hochschule erhöht.
Gleichzeitig ist Geschlecht ein zentrales Querschnittsthema in nahezu allen Disziplinen – von Technik über Medizin bis zur Soziologie. Es spielt eine Rolle in aktuellen Debatten über gesellschaftlichen Zusammenhalt, politischen Extremismus, Künstlicher Intelligenz, Digitalisierung, Arbeitsorganisation, psychische Gesundheit oder medizinischer Versorgung. Forschung, die den Anspruch hat, diese Entwicklungen zu verstehen und mitzugestalten, kann auf Geschlechterperspektiven nicht verzichten.
Auch aus forschungspolitischer Sicht ist Geschlechterforschung etabliert und gefordert: Nationale und internationale Drittmittelgeber fördern seit Jahren geschlechtersensible Forschung. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und viele Bundesländer – wie z. B. Niedersachsen – haben gezielt Förderprogramme aufgelegt. In Niedersachsen wurden etwa Zentrumsgründungen unterstützt, das Maria-Goeppert-Mayer-Programm, u.A. zur Förderung von (Gast)Professuren aufgelegt, die Geschäftsstelle der Landesarbeitsgemeinschaft der Einrichtungen für Frauen- und Geschlechterforschung Niedersachsen (LAGEN) finanziert und große Verbundprojekte wie „Geschlecht – Macht – Wissen“ gefördert.
Kurz gesagt: Eine Universität, die Zukunftsthemen ernst nimmt, braucht die Geschlechterforschung – nicht als „Add-on“, sondern als integralen Bestandteil wissenschaftlicher Exzellenz und gesellschaftlicher Verantwortung.
- Wissenschaftsrat (2023): Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Geschlechterforschung in Deutschland
- Many Shades of Gender – Ein FAQ zu den Gender Studies (2019), LMU München, https://www.gender.soziologie.uni-muenchen.de/shades-of-gender/index.html
- Wozu eigentlich noch Gender Studies?, Sabine Grenz 2019, Universität Wien, https://medienportal.univie.ac.at/uniview/wissenschaft-gesellschaft/detailansicht/artikel/wozu-eigentlich-noch-gender-studies/
- Exzellent ohne Gender Studies in MINT?, Forschung & Lehre 2023, https://www.forschung-und-lehre.de/politik/exzellent-ohne-gender-studies-in-mint-5705