Das graeko-baktrische Reich
Die Geschichte der Griechen Baktriens, des „Landes der tausend Städte“ (mille urbium Bactrianarum, Justin 41,4,6, Ἐυκρατίδαν γοῦν πόλεις χιλίας ὑφ’ ἑαυτῷ, Strabo 15,1,3), des heutigen Nord-Afghanistans, rekonstruierbar zum einen aus der nicht immer zuverlässigen griechisch-römischen Geschichtsschreibung, zum anderen und größeren Teil aus Hinweisen, die die Münzprägungen der zahlreichen Könige, die dort geherrscht haben, und die Zusammensetzung von Hortfunden geben, soll an dieser Stelle nur insofern interessieren, als Indien unmittelbar betroffen ist. Aber auch so ist sie noch verwirrend genug. Denn teilweise herrschten mehrere Regenten gleichzeitig, da verschiedene Dynastien das Land unter sich aufgeteilt hatten. Überdies trugen etliche von ihnen dieselben Namen, so daß oft nicht klar ist, mit welchem in welchem Teil des Landes regierenden König wir es überhaupt zu tun haben. Gleichwohl sind die großen Linien erkennbar und diese sollen hier nachgezeichnet werden. Das Gebiet, in dem sich dieser Teil der indischen Geschichte abspielt, ist zum einen das Land jenseits der Indien gegen Westen abgrenzenden Gebirgsketten – Baktrien, Arachosien und Drangiana –, zum anderen die dem Hindukush vorgelagerte Bergregion. Dort reihen sich die Paropamisaden mit dem etwa 30 Kilometer nordöstlich von Kabul gelegenen Kāpiśī, Gandhāra mit Puṣkalāvatī im Westen, dem heutigen Chārsadda in der Nähe Peshawars, und Takṣaśilā(nahe Islamabad) im Osten – diese Region ist von der ersten durch den mächtigen Indus getrennt –, und der Panjab mit Sāgala als jeweilige Zentren aneinander.
Um die Mitte des dritten Jahrhunderts vor Christus erhob sich Diodotos I., der seleukidische Satrap Baktriens, gegen seinen Herrn, vermutlich Antiochos II. (261-246 v. Chr.), und errichtete ein unabhängiges Reich.[1,2] Sein Sohn, Diodotos II., wurde 230 v. Chr. jedoch von Euthydemos gestürzt. Als dieser von dem Seleukiden-Herrscher Antiochos III. (223-187 v. Chr.) angegriffen wurde, kommt es im Jahre 206 zwischen beiden zu einem Friedensschluß, der dem graeko-baktrischen Reich eine sichere Westgrenze eintrug, was in der Folge Eroberungen vor allem nach Norden und Süden möglich machte. Und so gewann Demetrios I. (200-190 v. Chr.), der Sohn von Euthydemos I. (gest. um 200 v. Chr.), der eine Tochter des Antiochos ehelichte, Sogdien, das am Ende der Regierung von Euthydemos verloren gegangen war, zurück und dehnte das Herrschaftsgebiet in das Tal von Ferghana aus. Vielleicht bereits von ihm, jedenfalls aber in seiner Folge, seit Beginn des zweiten vor-christlichen Jahrhunderts also, wurden von verschiedenen, oftmals gleichzeitig herrschenden Machthabern die Paropamisaden, Arachosien und Teile Gandhāras annektiert. Wichtig für die Geschichte Indiens war, daß Antimachos I. Theos (ca. 174-165 v. Chr.) den Norden des baktrischen Reiches an Eukratides I. (174-150 v. Chr.), einen Emporkömmling unklarer Herkunft, der seinen Aufstieg in der Margiana nahm, verlor, der von nun an dieses Gebiet kontrollierte. Den Süden – Gandhāra bis hin zur Stadt Takṣaśilā, dem Taxila der griechischen Historiker, Arrian zufolge die einwohnerreichste Stadt zwischen Indus und Hydaspes (καὶ τὴν πόλιν Τάξιλα, τὴν μεγίστην μεταξὺ Ἰνδοῦ τε ποταμοῦ καὶ Ὑδάσπου, Anab. V 3,6) – hatten währenddessen Pantaleon (190-185 v. Chr.) und Agathokles (190-180 v. Chr.), wohl beide Söhne des Demetrios I., von den späten Mauryas in ihre Gewalt gebracht, so daß Demetrios II. (175-150 v. Chr.), der aus der Linie des Diodotos zu stammen scheint, möglicherweise aber auch ein Sohn Demetriosʼ I. war, lediglich die Paropamisaden verblieben. Doch gelang es Eukratides, sein Herrschaftsgebiet über den Hindukush nach Süden und weit nach Gandhāra hinein, wahrscheinlich bis nach Taxila, auszudehnen. Sein Tod im Jahre 150 v. Chr. – er fällt einem Mordanschlag eines seiner Söhne zum Opfer – bedeutete den Anfang vom Ende der graeko-baktrischen Herrschaft nördlich des Hindukush: Nomadische Stämme aus den Steppen Turkmenistans und Usbekistans begannen, das durch langen Kampf gegen die benachbarten Parther geschwächte Reich zu erobern. So fällt wenig später, vermutlich zur Zeit Eukratidesʼ II., die Stadt Aï Khanum (Āy Kānom), die Kapitale des östlichen Baktiens am Zusammenfluß von Kokča und Oxus, wohl das alte Ἀλεζάνδρεια Ὠζειανή, das seinen großen Reichtum nahegelegenen Lapislazuli-Minen verdankte. Ein kleines Gebiet des ehemaligen Reiches konnten die letzten griechischen Könige Baktriens, Plato (128-125 v. Chr.) und Heliokles I. (125-90 v. Chr.), noch für einige Jahrzehnte gegen die einfallenden Yüeh-chih behaupten. Die Gebiete südlich des Hindukush, insbesondere die Paropamisaden, und Teile des Nordwesten Indiens sollten hingegen für weitere hundert Jahre – also bis kurz nach Christi Geburt – unter der Herrschaft griechischer Regenten verbleiben, zuletzt unter der des Hermaios II. Der bedeutendste dieser indo-griechischen Könige, derjenigen also, die ausschließlich südlich des Hindukush herrschten, war der in Begram, dem alten Kāpiśī, dem Alexandria-sub-Caucaso der antiken Historiker, geborene Menander I. (155-130 v. Chr.), der von Sāgala aus, einer zwischen den Flüssen Ravi und Chenab gelegenen Stadt, herrschte. Anfangs bedrängt von Eukratides I. im Norden seines Reiches, regierte er nach dessen Tod über ein Gebiet, das sich von Kabul, das er von Heliokles zurückgewonnen hatte, und dem Swat-Tal bis in den Panjab erstreckte. Seine frühen Eroberungszüge sollen ihn bis nach Ujjain und Ayodhyā, ja sogar nach Pāṭaliputra geführt haben. Erwähnung findet dies vermutlich in Patañjalis Mahābhāṣya. Da dieser zur Zeit des Śuṅga-Regenten Puṣyamitra (184-148 v. Chr.) wirkte, ist dieser es wohl gewesen – auch dies läßt sich dem Mahābhāṣya entnehmen –, der sich der weiteren Ausbreitung Menanders entgegenstellte. Neben zahlreichen Münzprägungen und einigen Inschriften hat auch ein buddhistischer Text, auf uns gekommen in einer Pāli- und einer chinesischen Version, den Namen dieses Königs bewahrt, der so aus der großen Zahl indo-griechischer Herrscher herausragt. Der Milindapañha, genannter Text, sind die Antworten eines buddhistischen Mönches auf die „Fragen des [Königs] Menander“, die der diesem in einem – fingierten – Streitgesprächs stellt. Es ist gleichwohl nicht unwahrscheinlich, daß Menander tatsächlich Anhänger des Buddhismus war, stellte dieser doch die Eingangspforte für viele der Fremdherrscher zur indischen Gesellschaft dar.
Nach Menanders Tod fiel ein Großteil seines Reiches an Strato I. (125-110 v. Chr.), vermutlich sein Sohn. Wenig spricht bei näherer Prüfung für die oft wiederholte These, daß Agathokleia, die auf Münzen zusammen mit Strato abgebildet ist, Menanders Witwe war und zunächst für den minderjährigen Sohn regierte. Vielmehr scheint es sich bei ihr um Stratos Gattin zu handeln. Nach seinem Tode zerbrach das indo-griechische Reich sehr schnell in viele kleine Fürstentümer, die nach und nach zuerst an nomadische Stämme aus Zentralasien und Afghanistan und dann an die Indo-Parther verloren gingen. Die letzten indo-griechischen Könige, Strato II. und Strato III., herrschten dann nur noch – von ca. 25 vor bis 10 nach Chr. – über den Osten des Panjabs. Sie wurden schließlich von Rājūvula, dem Śaka-Kṣatrapa, entmachtet, der der indo-griechischen Herrschaft ihr endgültiges Ende bereitete.
Wenig später als Strato I. lebte Antialkides (ca. 115-95 v. Chr.), Herr offenbar über Takṣaśilā und Kāpiśī. Er verdient gesonderte Erwähnung, da er einer der wenigen indo-griechischen Herrscher ist, die uns über ihre Münzen hinaus bekannt sind. Denn sein Gesandter am Hofe des indischen Königs Bhāgabhadra, Heliodoros mit Namen, ließ in Besnagar (Madhya Pradesh), eine Säule errichten, die – offenbar – mit dem Reittier Garuḍa des Gottes Kṛṣṇa Vāsudeva gekrönt war und auf deren Inschrift sich der „griechische Gesandte des Großkönigs Antialkides“ als Bhāgavata, „Anhänger des Bhagavat“, des genannten Gottes, bezeichnet.
Aus indischer Sicht ist die Eroberung von Teilen des Nordwestens eine ephemere Episode in der langen Geschichte der Einfälle fremder Eroberer. Wohl aber besaß die durch die Invasion der Graeko-Baktrier in Gang gesetzte Erschließung des Indischen Ozeans durch die griechische Seefahrt große geschichtliche Tragweite.