Laudatio zur Dissertation von Dr. Philipp-Alexander Hirsch, M.A.
Die Arbeit von Herrn Hirsch behandelt eine Grundfrage des Strafrechts, die im Grenzbereich von Philosophie und Strafrechtswissenschaft angesiedelt ist. Es geht darum, wer durch die Straftat verletzt wird, der Einzelne oder die Allgemeinheit? Für die Bearbeitung eines solchen Themas bringt Herr Hirsch die besten Voraussetzungen mit, da er neben seiner rechtswissenschaftlichen Qualifikation bereits ein Philosophiestudium abgeschlossen und einen Doktor der Philosophie erworben hat.
Üblicherweise wird angenommen, dass mit der Straftat die staatlich verfasste Rechtsgemeinschaft verletzt wird. Die zentrale Forschungsfrage der Untersuchung lautet deshalb: Lässt sich Kriminalunrecht als Verletzung subjektiver Rechte der von der Straftat Betroffenen begreifen und welche Konsequenzen ergeben sich hieraus für unser Verständnis von Strafrecht und Strafverfahren? Methodisch wird diese Frage im Wege einer immanenten Rechtskritik beantwortet. Diese trägt keine normativen Vorgaben »von außen« an das positive Strafrecht heran, sondern mobilisiert durch eine normative Strukturanalyse des geltenden Rechts das kritische Potenzial, das dem positiven Strafrecht innewohnt.
Hierzu wird zunächst ausgehend von einer dogmengeschichtlichen und rechtstheoretischen Betrachtung der Begriff subjektives Recht im Sinne eines Anspruchsrechts bestimmt, dem eine Verhaltenspflicht eines anderen korreliert, die der Anspruchsinhaber in dem Sinne kontrolliert, dass er diese Pflicht aufrechterhalten oder den Rechtsadressaten von der Pflicht entbinden kann. In Auseinandersetzung mit den verschiedenen Unrechtslehren wird gezeigt, dass sich dieses Verständnis subjektiver Rechte in solche Lehren einfügt, die Kriminalunrecht als Verletzung eines Rechtsverhältnisses begreifen. Die Vorzugswürdigkeit dieser Rechtsverletzungslehre wird sodann anhand einer normentheoretischen Analyse der strafrechtlichen Einwilligungsdogmatik dargelegt. Diese belegt jedoch nicht nur, dass die in der zivilrechtlichen Primärordnung anerkannten subjektiven Rechte als Schutzgut des Strafrechts zu begreifen sind. Vielmehr zeigt die Einwilligungsdogmatik auch, dass das Bestehen der sanktionsbewehrten Verhaltenspflicht im konkreten Fall vom Willen des Rechtsgutsinhabers abhängt. Damit stellt sich die Pflichtverletzung, an die die Strafe anknüpft, als subjektive Rechtsverletzung dar und der strafrechtliche Unwert der Tat liegt in der Missachtung der qua Einwilligungsbefugnis bestehenden Rechtsmacht des Verletzten.
Die sich nun stellenden Fragen, wie sich ein subjektiv-rechtliches Kriminalunrechtsverständnis einerseits zum Zivilunrecht verhält und andererseits der überindividuellen Bedeutungsdimension des Verbrechens gerecht wird, werden sodann mit dem Konzept der Statusverletzung beantwortet: Wer eine Straftat begeht, verletzt nicht nur ein subjektives Recht, sondern missachtet hierdurch gleichzeitig den Status des konkret Verletzten als Rechtsinhaber. Das Verbrechen lässt sich insoweit als Verletzung rechtlich vermittelter Anerkennung beschreiben, welche allein für das Kriminalunrecht konstitutiv ist. Mit diesem Kriterium der Verletzung rechtlich vermittelter Anerkennung lässt sich die überindividuelle, über das Zwei-Personen-Verhältnis hinausreichende Bedeutungsdimension des Verbrechens erklären. Da nämlich die individuelle praktische Autorität des Rechtsinhabers innerhalb unserer gesetzlichen Rechtsordnung nur als besondere Instanziierung der allgemeinen, mit allen Mitgliedern der Rechtsgemeinschaft geteilten »überindividuellen« Autorität als Rechtssubjekt begriffen werden kann, ist durch eine Straftat nicht nur der konkret Betroffene in seinem Rechtsstatus verletzt, sondern auch – wenngleich schwächer – jedes andere Mitglied der Rechtsgemeinschaft. Aus diesem Grund handelt es sich bei der Straftat um einen Konflikt, der sich sowohl als Unrecht gegenüber dem Einzelnen sowie auch als Unrecht gegenüber der gesamten Rechtsgemeinschaft darstellt.
Abschließend zeigt die Untersuchung die rechtspraktischen Konsequenzen des entwickelten Unrechtsverständnisses auf: So lassen sich erstens Rechts- und Statusverletzung als Strafwürdigkeitskriterien verstehen, woraus sich bspw. mit Blick auf den strafrechtlichen Schutz moralischer Wertvorstellungen oder die Strafbarkeit unbewusster Fahrlässigkeit Grenzen legitimen Strafens ergeben. Zweitens erlaubt das dargelegte Unrechtskonzept ein besseres Verständnis von Funktion und Tragweite des sozialethischen Unwerturteils, das Kriminalstrafe zum Ausdruck bringt. Drittens ergeben sich auch Konsequenzen für das Strafverfahren, welches der Verwirklichung materiellen Strafrechts dient. So finden Neben- und Privatklage ihre tiefere materiell-rechtliche Rechtfertigung in der Unterscheidung zweier Ebenen der Rechtsverletzung (vertikal im Verhältnis von Staat und Täter sowie horizontal im Verhältnis von Opfer und Täter). Und in der anerkennungstheoretischen Dimension von Kriminalunrecht liegt die materiell-rechtliche Rechtfertigung für eine konfrontative Ausgestaltung der Hauptverhandlung, wie am Beispiel des Anwesenheitsrechts- und der Anwesenheitspflicht des Angeklagten gezeigt wird.
So verbindet diese Arbeit letztlich tiefgründige und schwierige Überlegungen zum Verständnis von Kriminalunrecht mit praktischen Fragen der Ausgestaltung der Hauptverhandlung im Strafverfahren. Gerade deshalb ist die Untersuchung eine große – prämierungswürdige – Leistung!
Prof. Dr. Uwe Murmann