Das Kind im besetzten Land: die Sowjetzeit in der estnischen Literatur

Die Esten haben ein kompliziertes Verhältnis zu Russland. Noch heute ist man irgendwo zwischen Sowjetnostalgie und Angst vor einem neuen russischen Einmarsch. Jahrhundertelang war Estland von Russland besetzt und erst 1991 konnte sich die kleine Nation endgültig befreien. So wundert es nicht, dass Romane, die sich mit der Zeit der Besetzung auseinandersetzen, immer noch sehr beliebt sind, und auch noch geschrieben werden.
Wiederkehrende Motive: die Unterdrückung und die Bespitzelung, das ständige Misstrauen (s. auch Blogartikel zu Jaan Kross), die Anzahl der deportierten Menschen…

Wer die Zeit als Kind erlebt hat, hat zum Teil ganz andere Eindrücke. „In den Achtzigern hatten alle Arbeit und eine Wohnung. Jetzt gab es plötzlich neues Geld und fast alle waren arm“, sagt Riho Meister, der die Wiedererlangung der Unabhängigkeit als Sechsjähriger erlebte. Andere erinnern sich mehr an bunte Plastiktüten, seltsame Zeichentrickfilme wie von dem Igel, der sich im Nebel verläuft (siil udus), oder dem hüpfenden Ei mit Händen und Füßen (klaabu) und Kaugummipapier-Sammlungen, als an die Grausamkeiten der Sowjetzeit. Selbst der häufig genutzte Begriff „nõukogude aeg“ klingt irgendwie gar nicht so schlimm.

In Film und Literatur ist der kindliche Blickwinkel ein gern genutztes Mittel, um die Bedrücktheit ein Stück weit zu nehmen, andererseits die Brutalität noch deutlicher zu machen.
Ein Beispiel ist der Film Vehkleja (Der Fechter, 2015), der die Beziehung eines in den Fünfzigern verfolgten Lehrers zu seinen Schülern zeigt – er ist eine Vaterfigur für die Kinder, von denen die meisten bereits ihre Väter verloren haben, sei es durch den Krieg oder durch Stalins Deportationen.

Ein anderes Beispiel ist die Verfilmung von Leelo Tungals Autobiographie Seltsimees Laps (Die kleine Genossin, 2018), in der auch die Kamera so geführt wird, dass der Zuschauer alles aus Sicht eines Kindes erlebt. Die Mutter der sechsjährigen Leelo wurde nach Sibirien gebracht und nun beobachtet der Staat auch noch Leelos Vater. Eine der einprägsamsten Stellen des Films: Als Leelos Tante ruft, jetzt kämen sie noch alle ins Gefängnis, erwidert Leelo: „Wein doch nicht, in Sibirien triffst du Onkel Eino wieder!“

In der Literatur ist Ilmar Taskas Pobeda 1946 das wahrscheinlich eindrücklichste Beispiel. Der Roman erzählt die Geschichte eines namenlosen Jungen, dessen (ebenso namenloser) Vater zu Beginn aus dem Versteck im Hinterzimmer heraus verhaftet wird. Ist der Junge Schuld dran? Es geschah schließlich kurz nachdem er dem netten Onkel mit dem Pobeda von seinem Vater erzählt hat. Er vertraut dem Mann mit dem Auto, spielt Detektiv mit ihm und stellt ihn seiner Mutter vor. Dann verschwindet auch sie, und der Junge „darf“ nach Russland, ganz alleine mit dem Zug, um dort unter anderem Marschlieder zu lernen. Für ihn ist alles aufregend, und die Hoffnung, seine Eltern wiederzusehen, verschwindet nie. Zur Not sucht er sie eben selbst in Russland.

Die Namenlosigkeit vieler Charaktere zeigt die Austauschbarkeit ihrer Schicksale. Der Vater, der sich im Hinterzimmer versteckt, die Mutter, die versucht, das Kind zum Stillsein zu überreden, die deportierten Eltern – das kennt fast jede estnische Familie. Doch man darf nicht vergessen, dass auch zahlreiche Kinder deportiert wurden – nicht, weil sie „Volksfeinde“ waren, sondern damit sie es gar nicht erst würden.

Das Kind ist naiv, vorurteilsfrei. Es hat keine Angst, etwas Falsches zu sagen, hat keine Angst vor dem russischen Auto. Es sieht auch nicht, in welche Gefahr er hineinläuft, als es in das Auto des fremden Mannes, den es einfach nur Onkel nennt, einsteigt.
Doch das Urvertrauen des Kindes wird zwangsläufig irgendwann ruiniert. Ist der Pobeda-Onkel etwa gar kein guter Mensch?

Und während für den Jungen alles weniger bedrückend, eher aufregend ist, wird das Leseerlebnis umso bedrückender. Denn die Leserin weiß, in welche Gefahr das Kind sich begibt, was der Mann im Pobeda und das Verschwinden der Eltern bedeutet. Und auch, dass der Roman das Schicksal unzähliger Kinder in einem besetzten Land schildert.

Quellen
Literatur:
Martinez, Francisco. 2008. Remains of the Soviet Past in Estonia. London.
Taska, Ilmar. 2017. Pobeda 1946. Kommode Verlag. Zürich.
Film:
Klaabu (1978, Avo Paistik)
Seltsimees Laps (2018, Amrion; Regie: Moonika Siimets)
Siil udus (1975, Juri Borissowitsch Norstein (Original: Joschik w tumane))
Vehkleja (2015, Allfilm OÜ, Regie: Klaus Härö)

Sowie Gespräche mit Riho Meister (ERM) und Madis Hindre (ERR Vikerraadio).

Text & Bilder: Marina Loch

Die Bilder entstanden auf dem Sängerfest und am Maarjamäe kommunismiohvrite mälestusmärk, der Gedenkstätte für die Opfer des Kommunismus in Maarjamäe.