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Press release: Das Gehirn an der Grenze zum Chaos

Nr. 305/2007 - 19.11.2007

Wissenschaftler zeigen, wie „Lawinen“ neuronaler Entladungen entstehen

Sperrfrist: Sonntag, 18. November 2007, 19.00 Uhr

(pug) Viele Systeme in der Natur steuern von selbst auf einen kritischen Zustand zu, der als höchst instabiles Gleichgewicht charakterisiert werden kann: kleine Störungen können nahezu beliebig große Folgen haben. Die Entstehung von Erdbeben oder von Lawinen auf einem Sandhaufen sind klassische Beispiele einer solchen „selbstorganisierten Kritikalität“, wie das Phänomen in der Fachwelt heißt. Wissenschaftler des Bernstein Center for Computational Neuroscience, des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation und der Universität Göttingen haben nun gezeigt, dass die Signalweitergabe im Gehirn ebenfalls den Prinzipien selbstorganisierter Kritikalität folgt. Ihnen ist es gelungen, die neuronalen Mechanismen zu identifizieren, die diesem Phänomen zu Grunde liegen. Die Studie, an der Anna Levina, Dr. Michael Herrmann und Prof. Dr. Theo Geisel beteiligt sind, wird in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift „Nature Physics“ online am 18. November 2007 veröffentlicht.

Das Phänomen der selbstorganisierten Kritikalität zeigt sich bei Sand, der langsam auf eine Oberfläche rieselt. Dort häuft er sich an, bis der Böschungswinkel so steil ist, dass Sandlawinen die Böschung herunterstürzen. Dabei gibt es keine typische Lawinengröße, in zufälliger Reihenfolge entstehen in einem gewissen Zeitraum viele kleine Lawinen, in anderen Fällen wenige große. Auch im Nervensystem gibt es Lawinen – in diesem Fall Lawinen neuronaler Entladung. Sendet eine Nervenzelle einen elektrischen Impuls, so muss dies nicht, kann dies aber in einem nachgeschalteten Neuron ebenfalls einen Impuls auslösen. Je nachdem, ob eine Impulsweitergabe erfolgt und wie oft sich die Impulsweitergabe wiederholt, kommt es zu Ketten neuronaler Entladungen mit einer jeweils sehr unterschiedlichen Anzahl von Neuronen. „Auf diese Weise schöpft das Nervensystem das volle Spektrum seiner Reaktionsmöglichkeiten aus – mal reagiert es stärker, in anderen Fällen weniger stark“, erläutert Dr. Herrmann.

Dass die Entstehung solcher Lawinen den Prinzipien neuronaler Kritikalität folgt, haben Wissenschaftler um Dr. Herrmann bereits 2002 auf der Basis von theoretischen Berechnungen vermutet, in den darauf folgenden Jahren wurde dies auch experimentell beobachtet. „Bisher gelang es in Computersimulationen aber nur in Ausnahmefällen, ein neuronales Netzwerk in einen solchen kritischen Zustand zu bringen“, sagt Anna Levina. In ihrer neuen Studie haben die Wissenschaftler aus Göttingen selbstorganisierte Kritikalität eines Netzwerks im Computer zum ersten Mal realitätsnah modelliert und erklärt. Dies ist gelungen, indem sie berücksichtigten, dass sich die Verbindungsstärke zwischen Neuronen durch die wiederholte neuronale Aktivität abschwächt.

Neurone leiten Informationen in Form von elektrischen Signalen weiter. Dort, wo zwei Neurone aufeinander treffen, an der Synapse, ist aber die Leitung unterbrochen und das Signal wird durch Botenstoffe von einer Zelle zur nächsten übertragen. „Der Vorrat an Botenstoffen wird durch die Aktivität der Synapse reduziert, so dass die Stärke der Signalübertragung abnimmt. Erst dadurch, dass der Speicher wieder aufgefüllt wird, nimmt die Effizienz der Synapse wieder zu“, erklärt Wissenschaftlerin Levina. Lange Zeit hat man in dieser Erschöpfung des Vorratsspeichers nichts weiter als eine biologisch bedingte Unzulänglichkeit gesehen. Erst in den letzten Jahren wurde erkannt, dass dieser Mechanismus – synaptische Depression genannt – für die Funktion des Gehirns durchaus bedeutend ist. Die Forscher um Prof. Geisel haben nun erstmals gezeigt, dass dieser synaptische Anpassungsmechanismus das neuronale Netz in den Zustand selbstorganisierter Kritikalität an der Grenze zum Chaos treibt.

Informationen im Internet sind unter der Adresse www.bccn-goettingen.de abrufbar.

Originalveröffentlichung:
A. Levina, J. M. Herrmann, T. Geisel (2007). Dynamical Synapses Causing Self-Organized Criticality in Neural Networks. Nature Physics, online publiziert am 18. November 2007, doi:10.1038/nphys758

Hinweis an die Redaktionen:
Digitales Bildmaterial kann in der Pressestelle abgerufen werden.

Kontaktadresse:
Prof. Dr. Theo Geisel
Universität Göttingen, Institut für Nichtlineare Dynamik
Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation
Bunsenstraße 10, 37073 Göttingen, Telefon (0551) 5176-401
e-mail: geisel@nld.ds.mpg.de, Internet: www.nld.ds.mpg.de