Das Zusammenspiel von Haupt- und Ehrenamt in Göttingen
von Agnieszka Weisser, 19.08.2019
Das Ehrenamt ist eine wichtige Säule einer demokratisch verfassten Gesellschaft. Ohne Ehrenamt würden die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe und Mitbestimmung drastisch schrumpfen. Dies gilt für den Bereich Freizeit, Kultur, Sport, Soziales, Politik, insbesondere aber auch in der Flüchtlings- und Integrationsarbeit. Auch hier ist eine gegenseitige Ergänzung von hauptamtlichen und ehrenamtlichen Tätigkeiten und Strukturen für einen Integrationsprozess unentbehrlich.
Funktioniert in Göttingen die Zusammenarbeit von Haupt- und Ehrenamt in der Flüchtlingshilfe und Integrationsarbeit? Welche Akteure gibt es? Welche Strukturen bilden den Rahmen und welche Wahrnehmungen und Perspektiven haben die jeweiligen Akteure? Diese Fragen stellten sich mir im Rahmen eines Seminars am Institut für Kulturanthropologie in Göttingen. Motiviert durch meine eigenen Erfahrungen als Fachkraft für Integration beim Kommunalen Integrationszentrum im Kreis Höxter (Nordrhein-Westfalen) und im Rahmen meines Masterstudiums der Ethnologie, erkundete ich migrationsbezogene Strukturen in Göttingen, um diesen Fragen nachzugehen.
In meinem Studienprojekt konnte ich nicht alle Akteure aus Göttingen berücksichtigen, dennoch war es mein Ziel, verschiedene Perspektiven auf das Zusammenspiel von Haupt- und Ehrenamt hin darzustellen. Aus den Interviews mit zwei hauptamtlich tätigen Akteuren,Frau Julia Pfrötschner von Bonveno und Frau Swana Anders vom Büro für Integration, sowie mit Frau Hanne Leewe, Ehrenamtliche bei einigen Initiativgruppen und beim Migrationszentrum, ergaben sich mir Einblicke in die Praxis und die individuellen Wahrnehmungen der Akteure zum Thema der Zusammenarbeit zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen.
Ehrenamt – vielfältiger als gedacht
Genauso wenig wie es „die Flüchtlinge“, „die Migrant*innen“ oder „die Deutschen“ gibt, gibt es auch nicht „das Ehrenamt“, oder „das Hauptamt“. Die Motivationen für ehrenamtliche Tätigkeiten sind vielfältig: während für die einen karitative Aufgaben im Vordergrund stehen, streben andere eine politische Mitbestimmung an. Die Akteure sind heterogen und in ihren Wirkungsfeldern differenziert zu betrachten. Politische Gruppierungen und Bürgerinitiativen, autonome Gruppen, sogenannte „Migrationsselbstorganisationen“, städtische Institutionen, unterschiedliche Arbeitskreise, akademische Einrichtungen, Wohlfahrtsverbände, Kirchen, aber auch individuelle Personen, die sich ehrenamtlich engagieren und innerhalb der vorhandenen Strukturen ihren Wirkungsbereich entsprechend verorten, bedienen unterschiedliche Aufgabenfelder, mit unterschiedlichen Zielsetzungen.
Ehrenamt als städtisches Freiwilligenmanagement
Seit der Silvesternacht in Köln ist die Willkommenskultur in Deutschland schwer ins Wanken geraten. Die Bereitschaft der Bevölkerung, sich ehrenamtlich für Geflüchtete oder Neuzugewanderte einzusetzen, ist zurückgegangen. Während in Göttingen laut Aussagen der hauptamtlichen Interviewpartnerinnen nur ein leichter Rückgang zu verzeichnen ist, ist im ländlichen Raum der Rückgang des Ehrenamtes deutlicher spürbar. Kommunale Integrationsprojekte, die auf die Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen angewiesen sind, können teilweise nur noch mühsam umgesetzt werden. Umso mehr interessierte mich das Zusammenspiel von hauptamtlichen und ehrenamtlichen Akteuren in einer Stadt wie Göttingen, wo ganz andere institutionelle und demographische Rahmenbedingungen zu Grunde liegen.
Im Kreis Höxter ist die hauptamtliche Ehrenamtskoordination des Kommunalen Integrationszentrums darauf fokussiert, die zehn ehrenamtlichen Flüchtlingsinitiativen des Kreises zu stärken und in ihrer begleitenden Arbeit mit Neuzugewanderten zu unterstützen u. a. durch finanzielle Förderprogramme, Schulungen, eigene Projekte (zum Beispiel Patenschaftsprojekte) und Veranstaltungen. Die Anwerbung von ehrenamtlichen Personen erfolgt hier über die sogenannten Flüchtlingsinitiativen, die ihrerseits jedoch bereits einen Mangel an Hilfskräften zu beklagen haben, und daher personell nicht aus dem Vollen schöpfen können.
In Göttingen habe ich die Zusammenarbeit von Haupt- und Ehrenamt anders wahrgenommen. Die Stadt hat 2007 das Büro für Integration eingerichtet, das in einem Bürgerdialog 2008 ein Integrationskonzept entwickelt hat und seither maßgeblich für Koordinierung der Umsetzung der formulierten Ziele, die Koordination von Maßnahmen und die Fortschreibung des Konzeptes verantwortlich ist. Neben dem Integrationskonzept gibt es einen begleitenden Beirat mit gewählten politischen Vertretungen der Bürger*innen und weiteren Personen1. Die Zusammenarbeit und Stärkung des Ehrenamtes wird im Integrationskonzept sowie in der 2. Fortschreibung des Konzeptes als ein wichtiges Ziel formuliert, sodass das „Freiwilligenmanagement“ im Verantwortungsbereich des Hauptamtes liegt.
Frau Anders, die seit 2018 beim Büro für Integration arbeitet, äußerte sich sehr positiv zum ehrenamtlichen Engagement in Göttingen:
„Die Stadt ist sehr dankbar über das große und zahlreiche Engagement der Ehrenamtlichen in der Flüchtlingshilfe. Diese Hilfe stellt eine unabdingbare Säule bei der Integration dar. [...] Das große ehrenamtliche Engagement der Bürger*innen im Bereich der Flüchtlingsarbeit auch zukünftig zu erhalten ist eine wichtige Aufgabe. Dazu sollen weiterhin Angebote zur Unterstützung von Ehrenamtlichen gemacht werden (z. B. Weiterbildungen). Auch eine öffentliche Ehrung, z. B. zum Tag des Ehrenamts, kann hier hilfreich sein“.
Das Büro für Integration übernimmt als städtische Einrichtung die Funktion einer übergeordneten Koordinierungsstelle der Integrationsarbeit und ist dabei weitreichend vernetzt. Ergänzend existieren weitere Institutionen im Rahmen der Arbeit mit Ehrenamtlichen. Neben der städtischen Ehrenamtskoordination übernehmen fünf weitere Institutionen die wichtige Funktion der hauptamtlichen Koordination des Ehrenamtes: die Wohlfahrtsverbände Jonaniter, Bonveno (Zusammenschluss der Göttinger Wohlfahrtsverbände), Bonus (Freiwilligenzentrum der Caritas), das Migrationszentrum für Stadt und Landkreis Göttingen (Diakonieverband Göttingen) sowie die Bürgerstiftung Göttingen.
Zwischen den genannten Ehrenamtskoordinatoren, dem Büro für Integration sowie den städtischen Flüchtlingssozialarbeiter*innen besteht laut Frau Anders und Frau Pfrötschner ein guter Austausch, der u. a. zur Bedarfserhebung der Zusammenarbeit genutzt wird. Das Migrationszentrum, als Einrichtung des Diakonieverbandes, wird bei dem Projekt „Sei Willkommen“ (ein Projekt zur Gewinnung, Unterstützung und Betreuung von Ehrenamtlichen zur Begleitung von dezentral untergebrachten Geflüchteten) finanziell von der Stadt unterstützt. Frau Anders weist im Interview auf die verschiedenen Unterstützungsangebote im Rahmen des Projektes hin, die von der Suche nach Patenschaften über die Beratungen und Weiterbildung für Ehrenamtliche bis hin zu Austauschtreffen und einem Newsletter reichen.
Sowohl beim Migrationszentrum als auch bei Bonveno und Bonus existiert demnach ein großer Pool an Ehrenamtlichen, die unabhängig von sogenannten „Flüchtlingsinitiativen“ für die Umsetzung von Integrationsprojekten und Begleitungen für Geflüchtete motiviert werden können.
In einer Sonderausgabe des Magazins „Engagement macht stark“, herausgegeben vom Bundesnetzwerkes Bürgerschaftliches Engagement im Jahr 2016, erschienen mehrere Studien, die sich mit dem Thema Engagement und Integration von Geflüchteten auseinandersetzen. Darunter ein Beitrag von Susanne Huth und Jürgen Schumacher zum Thema „Kooperation von Haupt- und Ehrenamt in der Flüchtlingshilfe“. Basierend auf empirischen Studien, wird aufgezeigt, unter welchen Umständen die Kooperation gut funktioniert und wo Verbesserungsbedarf gesehen wird. Langfristige Strukturen und geeignete Kooperationsmodelle werden als wichtiges Element für ein funktionierendes Engagement von Freiwilligen genannt.2
Ein „unpolitisches Ehrenamt“?
Der Austausch und die Kooperationsstrukturen zwischen den hauptamtlichen Ehrenamtskoordinatoren in Göttingen scheinen gut zu funktionieren. Doch nicht alles läuft so einvernehmlich. Frau Anders bringt einen weiteren Aspekt ein, indem sie darauf hinweist, dass „die Flüchtlingspolitik gesetzliche Rahmenbedingungen für die Flüchtlingshilfe setzt und auch häufig die gesellschaftliche Diskussion beeinflusst.“ In diesem Kontext zeichnen sich in der Praxis Konfliktlinien zwischen Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen ab, was aus den Gesprächen mit Hanne Leewe (Ehrenamtliche) und Julia Pfrötschner (Bonveno) deutlich wurde. Während sich die ehrenamtlichen Personen im Rahmen der hauptamtlichen Ehrenamtskoordination von politischen Themen abgrenzen, sind für andere selbstorganisierte ehrenamtliche Gruppierungen oder individuelle Personen politische Forderungen und Mitbestimmung von großer Bedeutung. Im Interview mit Frau Pfrötschner von Bonveno wird erstgenanntes deutlich:
„Innerhalb der vorhandenen Strukturen versuchen wir bestmöglich die vorhandenen Ressourcen zu nutzen und den Menschen in den Unterkünften zur Selbsthilfe zu verhelfen. Meiner Meinung nach funktioniert die Zusammenarbeit in Göttingen sehr gut. Sicherlich gibt es auch andere Gruppierungen, die das anders sehen und auch unsere Arbeit kritisieren, aber das ist auch in Ordnung“.
Eine ergänzende Betrachtung äußert hingegen Frau Leewe als eine ehemals bei Bonveno ehrenamtlich Tätige:
„Unter dem Begriff der Ehrenamtskoordination von Bonveno kommen die Ehrenamtlichen zum Einsatz, die man als die „offiziellen Ehrenamtlichen“ bezeichnet kann, die ‚karitativ‘ arbeiten und bestehende politische Probleme ausblenden. Auf der anderen Seite gibt es viele Ehrenamtliche, die nicht organisiert sind oder in selbstorganisierten politischen Gruppen oder Arbeitskreisen aktiv sind“.
Sie betonte dabei auch, dass viele Akteure, die sich politisch engagieren, ebenfalls „karitative“ Aufgaben übernehmen und Geflüchtete bei der Bewältigung des Alltags unterstützen. Diese beiden Perspektiven spiegeln die Vielfalt zivilgesellschaftlichen Engagements wieder, bei dem sowohl ein politisches Engagement als auch ein „unpolitisches Ehrenamt“ eine wichtige Rolle bei der Integrations- und Flüchtlingsarbeit spielen.
Zwischen zivilgesellschaftlicher Initiative und Institutionalisierung
Die Entwicklungen der letzten Jahre zeigen, dass das selbstorganisierte Ehrenamt der „Willkommenskultur“, dass das Jahr 2015 prägte und die Gesellschaft sowie die Behörden vor besondere Herausforderungen stellte, inzwischen zum großen Teil in institutionalisierten Strukturen gemündet ist. In der Literatur gibt es viel Kritik an einer Institutionalisierung und Instrumentalisierung des Ehrenamtes und der „Engagementpolitik“ im Allgemeinen. Viele Aufgaben des Sozialstaates würden hierdurch in den Freiwilligenbereich verschoben. In der Studie „Willkommenskultur in Göttingen“3 von 2015 wird das Spannungsfeld zwischen ehrenamtlichen Hilfsinitiativen und hauptamtlichen Akteuren der städtischen Verwaltung nachgezeichnet, wobei die damaligen städtischen Strukturen als ein paternalistisches Regime kritisiert wurden.
Nach Einschätzung der beiden Hauptamtlichen, Frau Anders und Frau Pfrötschner, existierten in Göttingen mittlerweile gute Kooperationen, die von einem konstruktiven, regelmäßigen Austausch zwischen den Akteuren geprägt sind. Zudem stärken die Newsletter der verschiedenen Institutionen, die einen guten Informationsfluss gewährleisten, sowie die Internetplattform der Stadt Göttingen, die guten Vernetzungsstrukturen zwischen den Akteuren. Im Gespräch mit Hanne Leewe wurde eine andere Perspektive sichtbar, indem sie den Wunsch und die Notwendigkeit einer stärkeren Mitwirkung von Bürgerinnen und Bürgern bei der Überarbeitung des Integrationskonzeptes äußerte.
Die Bedeutung zivilgesellschaftlichen Engagements
Nach Internetrecherchen und Durchsicht verschiedener Publikationen des Büros für Integration präsentiert sich Göttingen als eine weltoffene Stadt, die eine kulturelle Vielfalt als Bereicherung ansieht und allen Bürgern und Bürgerinnen eine gleichberechtigte, gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen möchte. In diesem Prozess wird ein breiter Dialog angestrebt, bei dem alle Akteure der Integrations- und Flüchtlingsarbeit involviert, aber auch die Bedürfnisse und Ängste der Stadtbevölkerung berücksichtigt werden sollen. Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Debatten zu rechtspopulistischen und postmigrantischen Weltanschauungen ist ein zivilgesellschaftliches Engagement, das zu einer Stärkung kultureller Vielfalt einerseits und humanitärer Verantwortung andererseits beiträgt und somit auch politische Entscheidungen prägt, umso wichtiger.
Insbesondere mit Blick auf eine gelingende Integration – im Sinne eines gesamtgesellschaftlichen Prozesses – von neuzugewanderten Personen spielen das ehrenamtliche Engagement, genauso aber auch die hauptamtlichen Strukturen und Zielformulierungen eine entscheidende Rolle. In der Universitätsstadt Göttingen sind die Akteure des Ehrenamts vielfältig. Es existieren selbstorganisierte Gruppierungen mit politischen Forderungen, die die negativen Folgen der Stadtpolitik aufzeigen. Es gibt Ehrenamtliche, die politische Debatten außenvorlassen und sich darauf konzentrieren, Geflüchtete bei der Bewältigung des Alltags zu unterstützen, aber auch „Migrantenselbstorganisationen“, die ihre Erfahrungen weitergeben wollen und als Brückenbauer fungieren. Auf der anderen Seite sind die Stadt und andere hauptamtliche Institutionen bemüht Vernetzungsstrukturen aufzubauen, aufrechtzuerhalten und ergänzende Unterstützungsangebote für Ehrenamtliche zu schaffen, um die vorhandenen Ressourcen effektiv zu nutzen.
Wie neuzugewanderte Personen das Zusammenspiel der Integrationsakteure einschätzen und wie sie sich in der Gesellschaft aufgenommen fühlen, bleibt eine offene Frage.