Friction. Kulturanthropologische und geschlechtertheoretische Perspektiven auf Reibungen

19. Arbeitstagung der Kommission für Geschlechterforschung und Queere Anthropologie der Deutschen Gesellschaft für Empirische Kulturwissenschaft (DGEKW)

19.-21. Juni 2025
Alte Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen
Organisator*innen: Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie und Studienfach Geschlechterforschung der Georg-August-Universität Göttingen

Der Call for Papers endete am 15.11.2024. Weitere Informationen folgen.

„Kriege, Krisen und Konflikte: Die Welt im Dauerstress“ titelte 2023 die tagesschau (Frahm 2023) und verweist damit auf die Vielzahl gegenwärtiger globaler und gesellschaftlicher Verwerfungen. Entlang einer Vielzahl an „Triggerpunkten“ (Mau et al. 2024) kanalisieren sich Agonismen in Dissens und Spaltung, in Militarisierung und Gewalt, Verwüstung und Vertreibung. Aus Geschlechterperspektive manifestieren sich aktuelle Reibungen beispielsweise entlang des (straf)rechtlichen Umgangs mit sexualisierter Gewalt vor allem gegen Frauen und LGBTQI*-Personen, Care-Krisen, Natur-Kultur-Hierarchien und des entsprechenden Umgangs mit der Klimakrise, der rechtlichen und politischen Anerkennung und Selbstbestimmung von trans*, inter* und nicht binären Personen oder der migrationspolitischen Abwehr gegenüber als sexistisch und queerfeindlich konstruierten jungen muslimischen Männern (Hark/Villa 2017). Gerade in politischen Feldern zeigen sich radikale Versuche, Homogenität und Eindeutigkeit herzustellen, Streitgesprächen abzubrechen oder autoritativ stillzustellen. Mit dem Motiv der friction setzt die 19. Tagung der Kommission für Geschlechterforschung und Queere Anthropologie der Deutschen Gesellschaft für Empirische Kulturwissenschaft (DGEKW) 2025 an den vielfältigen Verwerfungslinien an. Sie möchte Beiträge aus der Europäischen Ethnologie/Kulturanthropologie/Empirischen Kulturwissenschaft und Geschlechterforschung versammeln, die sich mit Reibungskräften und -dynamiken in Empirie, Theorie und Methodologie beschäftigen und dabei sowohl destruktive als auch produktive Effekte im Kontext verwobener Machtverhältnisse eruieren.

Die Perspektivierung von friction als ein reibungsvolles Aufeinandertreffen von imaginierten und sozial-konstruierten Differenzen sowie moralisch oder epistemisch Widersprüchlichem kann an unterschiedliche kulturanthropologische und geschlechtertheoretische Theoriebildungen anschließen. Die Kulturanthropologin Anna Lowenhaupt Tsing (2005) perspektiviert Reibung als konstitutive Dynamik mehr-als-menschlichen Zusammenlebens statt als vermeintlich verlangsamende Störung eines ansonsten reibungslosen Alltags. Sie fasst das spannungsreiche, translokale Zusammentreffen von Akteur*innen, Dingen, Körpern, Imaginationen, Politiken, Wissen und Umwelten als Momentum, in dem sich diese zu nicht-vorhersehbaren produktiven Arrangements fügen und damit gesellschaftliche Transformationen vorantreiben können. Die kulturanthropologische Regimeanalyse nutzt den Konflikt selbst als Methode (Riedner 2018), indem sie an Momenten von Kämpfen und Aushandlungen ethnografisch ansetzt und von diesen ausgehend komplexe Konfigurationen konfligierender Praktiken und Diskurse untersucht (Gutekunst/Schwertl 2018; Hess/Tsianos 2010). Diese Ansätze stehen in einer kulturwissenschaftlichen Tradition des 20. Jahrhunderts, die sich von westlichen binären Epistemen löst, Zwischenräume und Hybridität nicht länger als störend und fehlerhaft behandelt und stattdessen die Unterscheidungsprozesse selbst problematisiert. Räume und Figuren des Dritten werden darin als Kräfte der Vermittlung und „Signum einer paradoxen, weil nicht mehr ‚normierbaren‘ Normalität der (Post)Moderne“ verstanden (Koschorke 2020, 14).

In der Geschlechterforschungen waren es zunächst Schwarze und migrantische Feminist*innen, die solche Differenzsetzungsprozesse – erzeugt durch gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse wie Rassismen, Sexismen und Klassenunterdrückung – analysierten, theoretisierten und kritisierten. Dabei geht es weniger um eine Anerkennung unterschiedlicher Identitäten als vielmehr um eine Auseinandersetzung mit den gewaltvollen Bedingungen und Effekten fortbestehender kolonialer Differenzsetzungen und -durchsetzungen, denen als ‚Andere‘ markierte Personen bis heute ausgesetzt sind (Gutiérrez-Rodríguez 2011).

Zugleich bieten sie mit Konzepten wie „third spaces“ (Bhabha 2004) oder „borderlands“ (Anzalduá 1998) homogenen Identitätskonzepten die Stirn und lenken den Blick darauf, wie in den instabilen Zwischenräumen Neues erwachsen kann. Ansätze aus den Gender und Queer Studies zeigen anhand von Figuren des Dritten – z.B. „gender trouble maker” (Butler 1990), „female masculinity“ (Halberstam 1998), „cyborg“ (Haraway 1985), „feminist killjoy“ (Ahmed 2023), „monster“ (Stryker 1994; Braidotti 2013) und „Natur-Kulturen“ (Haraway 1989) – wie diese politisch-transgressiv im Sinne der Unterbrechung, Irritation und Störung dominantbinärer Geschlechter- und Mensch-Technik- sowie Mensch-Umwelt-Verhältnisse wirken können. Daran schließend wird für soziale Bewegungen und Aktivismen das Sich-in-Differenz-Setzen zu einem als inakzeptable verstandenen rechtlichen, politischen oder normativen Status Quo wiederum selbst zu einem reibungsvollen, doch produktiven Momentum (Heywood 2017).

Aktuelle gesellschafts- und globalpolitische Dynamiken verweisen jedoch längst auf eine wachsende gesellschaftliche Unduldsamkeit gegenüber dem Vieldeutigen, Widersprüchlichen und Instabilen. Nicht zuletzt haben die zwei vorausgegangenen Kommissionstagungen „Troubling Gender. Neue geschlechterpolitische Turbulenzen in Europa“ (2021) und „Mapping Gender Struggles. Geschlecht als Konfliktfeld sozialer Bewegungen der Gegenwart“ (2023) auf aktuelle Politiken und Institutionalisierungen der Spaltung und Polarisierung samt ihrer verunmöglichenden bis gar tödlichen Folgen hingewiesen. So ist militärische Gewalt selbst unter dem Credo einer feministischen Außenpolitik zu einem ‚angemessenen‘ Mittel geworden, um die Menschenrechtslage marginalisierter Gruppen zu verbessern. Dabei hat die feministische Sicherheitsforschung gezeigt, wie sich die Institution Militär um an Männlichkeit orientierte Normen und Wahrnehmungen organisiert und militärische Gewalt den Alltag weiblicher Personen prägt (Enloe 2000; Åhäll 2016). Die kontinuierliche Verschärfung der Grenzregime, das Erstarken antifeministischer Bewegungen, der LSBTI*-Feindlichkeit und -Kriminalisierung oder Abtreibungsverbote sind weitere Beispiele für das (erneute) Bedürfnis nach binärer Trennschärfe und semantischer ‚Reinheit‘, die dritte Räume in Nichtorte von ‚Monstern‘ und grenzüberschreitende Figuren in vermeintliche Fehler und Abweichungen der Natur verwandeln (Koschorke 2020; Breger 2020). Nicht selten wird dabei auf das Recht als politisches Instrument zurückgegriffen, dem das Versprechen anheftet, moralische Eindeutigkeit herzustellen. Die Reibungen der Gegenwart zeigen darüber hinaus ein Spannungsfeld von divergenten moralischen Haltungen zwischen solidarischem Handeln und einem Kampf für das Gemeinsame sowie einem neoliberalen Verantwortungsparadigma, in das Individuen, soziale Bewegungen, staatliche Institutionen und (trans)nationale Gemeinschaftskonstruktionen eingebettet sind. Akteur:innen und Institutionen legitimieren eigenes Handeln häufig über die machtvolle Zuweisung und Zuschreibung von Verletzbarkeiten (Bstieler/Schmidt/Angeli 2024).

So scheint es wenig verwunderlich, dass die Geschlechterforschung, zu deren Paradigma es gehört, Selbstverständlichkeiten und Normierungen ins Wanken zu bringen und epistemisch Unruhe zu stiften, selbst zur Reibungs- und Angriffsfläche geworden ist (Hark 2017). Aber auch innerhalb aktivistischer Felder erscheint das Aushalten von Dissens und Spannungen nicht einfach, so dass unterschiedliche Problemverständnisse und politische Strategien in moralischen Registern verhandelt werden und zu unüberbrückbaren Zerwürfnissen führen können, während andere Differenzen es erlauben „to agree to disagree“ (Heywood 2018). Die ethnografische Forschung steht entsprechend vor der Herausforderung des Umgangs mit Spannungen, Dissens und Konflikt sowohl unter den Forschungspartner*innen als auch zwischen Forscher*in und Feld. Das methodische Potential von Reibung zu nutzen, bedeutet dann, Momente des epistemischen, moralischen und politischen Sich-nicht-Verstehens auszuhalten, die disparaten Wissensformen analytisch zu vermessen und zu einem besseren Verständnis des Feldes sowie zur Reflexion der Forscher*innenposition heranzuziehen. Zugleich müssen Forschungsbeziehungen sorgsam navigiert werden, um Abbrüche und Zerwürfnis zu vermeiden (Faust/Binder/Sekuler 2021).

Anschließend an diese Entwicklungen und Einsichten fragt die Tagung danach, wann, wo und wie Reibungsmomente produktiv und neuordnend wirken, und wann, wo und wie sie in Konflikt und Antagonismus münden, gerade auch weil sie gesellschaftlich omnipräsent und konstitutiv für soziale Wirklichkeiten sind. Wie kann dem Spektrum an alltäglichen Reibungen und Widersprüchen kulturanthropologisch und geschlechtertheoretisch Rechnung getragen werden, ohne zu verharmlosen, wenn einige in Gewalt münden während sich andere produktiv fügen? Die Tagung begrüßt empirische, konzeptuelle sowie methodologisch Beiträge aus der gegenwartsbezogenen sowie historischen Forschung zu u.a. folgenden Fragen:


  • Wo und wie fügen sich Differenzen zu neuen transformativen Arrangements oder zu unerwartet produktiven Allianzen? Wo und wie produzieren sie Dissens, Abbrüche und unüberbrückbare Gräben? Welche Reibungen werden (von wem) gewünscht, welche hingenommen oder ignoriert, und welche als störend, destruktiv und zuweilen gewaltvoll erlebt und gehandhabt?
  • In welchen Arenen, mit welchen Instrumenten und durch welche Medien werden Reibungen erzeugt und verhandelt? Wie wirken diese formatierend, normierend oder ermöglichend auf (differente) Rationalitäten, Anliegen, Ethiken oder Politiken zurück?
  • Mit welchen theoretischen Ansätzen und methodischen Vorgehen können Reibungen gefasst und dabei Geschlecht als interdependente Kategorie systematisch berücksichtigt werden?
  • Inwiefern sind Geschlechterverhältnisse in ihrer Überkreuzung mit weiteren Herrschaftsverhältnissen konstitutiv für gesellschaftliche Antagonismen und soziale Konflikte? Inwiefern werden sie selbst zur Reibungsfläche?
  • Welche Reibungen zwischen theoretischen Ansätzen oder Konzepten entstehen in/durch aktuelle empirische Forschungen zu Geschlecht? Wie prägen Differenzen zwischen theoretischen Ansätzen Zuschnitte von Forschungsfeldern oder empirische Analysen?
  • Mit welchen Methodologien und Methoden lassen sich frictions zwischen Forscher*in und Feld von den Randnotizen ins Zentrum des forschenden Vorgehens rücken? Welche analytischen Potentiale, aber auch (forschungsethischen oder -praktischen) Schwierigkeiten birgt das Forschen mit/zu Reibungen?



Wir streben eine Tagung in Präsenz an, möchten jedoch auch hybride Elemente ermöglichen. Wenn Bedarf für ein hybrides Format besteht, kontaktieren Sie uns bitte. Sollten Sie Kinderbetreuung benötigen und/oder andere Unterstützungsbedarfe haben, teilen Sie uns dies bitte ebenfalls mit.

Das Göttinger Tagungsteam
Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie und Geschlechterforschung

Literatur


Åhäll, L. (2016). The dance of militarisation: a feminist security studies take on ‚the political‘. In: Critical Studies on Security 4/2: 154-168.
Ahmed, S. (2023). The Feminist Killjoy Handbook. London: Allen and Unwin.
Anzalduá, G. (1998). Borderlands/ La Frontera. San Francisco, CA: Aunt Lute Books.
Bhabha, Homi K. (2004). The Location of Culture. Abingdon: Routledge.
Braidotti R (2013) The Posthuman. Cambridge: Polity Press.
Butler, J. (1990). Gender Trouble. Feminism and the subversion of identity. London/New York: Routledge.
Breger, C. (2020). Gender Studies. In: Elisabeth Eßlinger et al. (Hrsg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. 2. Auflage, Frankfurt: Suhrkamp, S. 35-49.
Bstieler, M./Schmidt, S./Angeli, C. (2024). Verletzbarkeit und Institution: eine Einleitung. In: Schauplätze der Verletzbarkeit. Kritische Perspektiven aus den Geistes- und Sozialwissenschaften. Berlin De Gruyter: 1-23.
Enloe, C. H. (2000). Maneuvers. The international politics of militarizing women's lives. Berkeley: University of California Press.
Faust, F./Sekuler, T. /Binder, B. (2021). Reibung als Potential: Kollaboratives Forschen mit HIV/Aids-Aktivist*innen. In: Berliner Blätter 83/1: 49-65.
Frahm, C. (2023): Kriege, Krisen und Konflikte. Die Welt im Dauerstress. URL: www.tagesschau.de/wissen/krieg-frieden-leibniz-institut-konfliktforschung-ukraine-100.html, Stand: 09.09.2023 13:43 Uhr.
Gutekunst, M./Schwertl, M. (2018). Politiken ethnographieren. Die ethnographische Regimeanalyse als situierter Forschungsmodus entlang von Aushandlungen, Kämpfen und Situationen. In: Rolshoven, J./Schneider, I. (Hrsg.): Dimensionen des Politischen. Ansprüche und Herausforderungen der Empirischen Kulturwissenschaft. Berlin: Neofelis: 82-106.
Gutiérrez Rodríguez, E. (2014). Intersektionalität oder: Wie nicht über Rassismus sprechen?. In: Sabine Hess et al. (Hrsg.), Intersektionalität revisited. Bielefeld: transcript Verlag: 77-100.
Hark, S. (2017). Kontingente Fundierungen: Über Feminismus, Gender und die Zukunft der Geschlechterforschung in neo-reaktionären Zeiten. Soziopolis: Gesellschaft beobachten. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-80522-8
Hark, S./Villa, P.-I. (2017). Unterscheiden und herrschen. Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von
Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart. Bielefeld: Transcript.
Hess, S./Tsianos, V. (2010). Ethnographische Grenzregimeanalyse. In: Hess, S./Kasparek, B. (Hrsg.): Grenzregime. Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa. Berlin: Assoziation A.: 243-264.
Heywood, P. (2018). After difference: queer activism in Italy and anthropological theory. London: Berghahn Books.
Koschorke, A. (2020). "Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften." In: Eßlinger, E. et al. (Hrsg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. 2. Auflage, Frankfurt: Suhrkamp: 9-34.
Mau, S/Lux, T./Westheuser, L. (2024). Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. Berlin: Suhrkamp.
Riedner, L. (2018). Arbeit! Wohnen! Urbane Auseinandersetzungen um EU-Migration. Münster: edition assemblage. Stryker, S. (1994). My words to Victor Frankenstein above the village of Chamounix: Performing transgender Rage. In: Lesbian and Gay Studies 1(3): 237–254.
Tsing, A. L. (2005). Friction: An ethnography of global connection. Princeton: University Press.