Heft 7/8 Thematische Anregungen für den Geschichtsunterricht
Inhalt
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 76 (2025), 7/8
1974 erschien, herausgegeben von Joachim Rohlfes und Karl Ernst Jeismann, ein Band mit dem Titel „Geschichtsunterricht – Inhalte und Ziele“. Er führte die Arbeitsergebnisse zweier Kommissionen der (damals so benannten) Verbände der Geschichtslehrer und der Historiker Deutschlands zusammen. Eingerichtet worden waren diese Kommissionen insbesondere in Reaktion auf den umstrittenen Entwurf der Hessischen Rahmenrichtlinien von 1972, nach dem das Fach Geschichte in einem Lernbereich Gesellschaftslehre aufgehen sollte. Der Band enthielt zwar kein gemeinsames Konzept, aber immerhin hatten hier zum ersten Mal Historiker und GeschichtsdidaktikerInnen über Konstruktion und mögliche Bausteine eines Geschichtscurriculums nachgedacht. Das ist, soweit ich sehe, seitdem nicht mehr geschehen. Die Geschichtsdidaktik hat zwar in den 1980er und 1990er Jahren noch diverse thematische Erweiterungen oder Aktualisierungen des Curriculums in Richtung auf Alltags-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte, Frauen- und Weltgeschichte (so die damaligen Begrifflichkeiten) vorgeschlagen; im geschichtsdidaktischen Diskurs haben die Inhalte des Unterrichts jedoch – vielleicht abgesehen vom Stichwort Globalgeschichte – keine zentrale Rolle mehr gespielt.
Das vorliegende Heft verfolgt ebenfalls die Intention, vornehmlich aus fachwissenschaftlicher, aber auch geschichtsdidaktischer Perspektive thematische Anregungen für den Geschichtsunterricht zu geben. Dabei behandeln die Beiträge von Christiane Kunst und Oliver Auge/Hannah Fischer klassische Epochenthemen, nämlich die Römische Ge-schichte und das Mittelalter. Beide skizzieren die aus ihrer Sicht charakteristischen Konturen dieser Epochen und machen deutlich, worin sie deren Gegenwartsrelevanz sehen. Interessanterweise sind dies in beiden Fällen historische Transformationsprozesse, Aspekte von Mobilität, Migration, Integration oder (Proto)Globalismen. Beide legen außerdem besonderen Wert auf Erfahrungsmöglichkeiten im Nahraum: „Wenn Mittelalter im Schulunterricht, dann bitte regionalhistorisch verankert!“ (S. 387), fordern Auge und Fischer.
Um neue Themen oder zumindest Akzentsetzungen geht es bei den Beiträgen von Andreas Eckert und Tobias Arand. Die afrikanische Geschichte, so Eckert, solle einen höheren Stellenwert im Unterricht erhalten und sie dürfe nicht nur auf die Täter- und Opfergeschichte der Kolonialzeit beschränkt werden. Afrikanische Gesellschaften müssten als Akteure und in ihrer eigenen Entwicklungsdynamik sichtbar werden, allerdings ohne eine gewissermaßen kompensatorische Überhöhung einer „ruhmreichen“ vorkolonialen Geschichte. Arand beklagt, dass das Thema Krieg im deutschen Geschichtsunterricht nicht angemessen behandelt werde. Kriege müssten als Erfahrungsraum von Millionen Menschen in Vergangenheit und Gegenwart in ihrer Eigenlogik und „Krieghaftigkeit“, wie er dies nennt, ernstgenommen und nicht wohlmeinend ausgeblendet werden. Um eine veränderte Perspektivierung der Nationalstaatsgeschichte geht es Bärbel Völkel. Sie möchte eine vorherrschende ethnozentrische und exklusive Orientierung aufbrechen: Im Unterricht sollten verstärkt historische Erfahrungen von Menschen jenseits der Mehrheitsethnie aufgegriffen werden und dadurch Mehrfach-Identitäten wahrnehmbar und denkbar werden.
Die Beiträge liefern keine direkten Vorlagen für die Unterrichtspraxis, sondern bieten inhaltliche Anstöße, deren mögliche Umsetzung Lehrplankommissionen bzw. Lehrkräften überlassen bleibt. Die Probleme dabei liegen auf der Hand: eine ohnehin schon notorische Überfüllung des Curriculums, eine schnelle Überforderung insbesondere der unteren Klassenstufen, ein Mangel an unterrichtsgeeigneten Materialien. Dennoch: Es lohnt sich, das herkömmliche Curriculum immer wieder einmal gedanklich zu verflüssigen.
Michael Sauer
ABSTRACTS (S. 362)
NACHRUF
Joachim Rohlfes † (S. 364)
EDITORIAL (S. 365)
BEITRÄGE
Christiane Kunst
Basiswissen Römische Geschichte (S. 366)
Oliver Auge/Hannah Fischer
Neues zum Mittelalter!
Aktuelle Themen als Brückenschläge zu einer fern geglaubten Epoche (S. 386)
Andreas Eckert
Geschichte Afrikas
Thematische Zugänge für die Lehre (S. 406)
Tobias Arand
„Und indem wir ihn verstehen, begreifen wir etwas über das Wesen des Menschen“
Ein Plädoyer dafür, Krieg als historischen Gegenstand nicht länger aus dem Klassenzimmer zu verbannen (S. 420)
Bärbel Völkel
Vom ethnos zum demos
Geschichtsunterricht als ein Ort erfahrungsorientierter Begegnung (S. 433)
Rudolf Jaworski
Gekreuzigte Völker in weiblicher Gestalt
Bildliche Darstellungen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts (S. 449)
INFORMATIONEN NEUE MEDIEN
Gregor Horstkemper
Digitale Mosaiksteine zur Geschichte Afrikas (S. 461)
LITERATURBERICHT
Martin Kintzinger
Mittelalter allgemein und spätes Mittelalter
Teil III (S. 464)
NACHRICHTEN (S. 477)
AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 480)
ABSTRACTS
Christiane Kunst
Basiswissen Römische Geschichte
GWU 76, 2025, H. 7/8, S. 366 – 385
Die Römische Geschichte erfährt ungeachtet ihrer Bedeutung als Großepoche im Unterrichtsstoff eine verhältnismäßig geringe Aufmerksamkeit. Angesichts der Komplexität der Ereignisgeschichte ist es geboten, Unterricht auf übergeordnete Schlüsselthemen zu verlagern, die anhand der Geschichte Roms illustriert werden können und zugleich Verständnis für den langfristigen Erfolg der Herrschaft vermitteln: zentral hierfür Transformation(en), Zugehörigkeit (Diversität, Ungleichheit, Inklusionsmuster), Raum und Mobilität. Der Beitrag umfasst einen Überblick zur Periodisierung der Römischen Geschichte bis zu ihrer europäischen Rezeption und erläutert Gegenstände und Konzepte vom 6. Jh. v. Chr. bis zum Ausgang der Spätantike. Zum Abschluss enthält er einen Vorschlag zur didaktischen Reduktion, ohne zu infantilisieren.
Oliver Auge/Hannah Fischer
Neues zum Mittelalter!
Aktuelle Themen als Brückenschläge zu einer fern geglaubten Epoche
GWU 76, 2025, H. 7/8, S. 386 – 405
Gehört das Mittelalter als epochaler Be- und Zugriff in den Schulunterricht von heute und morgen? Mit dieser Frage setzt sich der vorliegende Artikel auseinander und nennt mögliche Themen, die aktuelle Fachanforderungen und Lehrbücher ergänzen und bereichern können. Bewusst wird dabei immer wieder ein regionalgeschichtlicher Schwerpunkt gesucht, der aktuellen Tendenzen zur Implementierung desselben in den Schulunterricht entspricht. Die formulierten Themenvorschläge möchten deutlich machen, dass das Mittelalter eine Epoche ist, die einerseits durch ein markantes Zusammenspiel verschiedenster Alteritäten geprägt ist, andererseits aber immer wieder höchst aktuelle Bezüge aufweist. Die explizite Nennung von Quellen zu jedem der vorgeschlagenen Themen ergänzt den Artikel und zeigt mögliche Arbeitsmaterialien für den Geschichtsunterricht in der 6. Klasse auf.
Andreas Eckert
Geschichte Afrikas
Thematische Zugänge für die Lehre
GWU 76, 2025, H. 7/8, S. 406 – 419
Der Kolonialismus, vor allem das Beispiel der deutschen Kolonialherrschaft in Afrika, findet im schulischen Unterricht zunehmend Berücksichtigung. Die Geschichte Afrikas jenseits dieses Teilaspekts sucht man in den Curricula hingegen weiterhin vergeblich. Dieser Aufsatz schlägt mögliche thematische Zugänge für die Lehre in diesem Bereich vor. Dabei konzentriert er sich zum einen auf definitorische und konzeptionelle Fragen – wie sind spezifische Vorstellungen von Afrika entstanden, wie wird die Geschichte des Kontinents periodisiert, wer schreibt diese Geschichte? Zum anderen plädiert dieser Beitrag dafür, die lange und komplexe Geschichte afrikanischer Gesellschaften vor der europäischen Kolonisierung und die frühe globale Vernetzung von Teilen des Kontinents in den Blick zu nehmen.
Tobias Arand
„Und indem wir ihn verstehen, begreifen wir etwas über das Wesen des Menschen“
Ein Plädoyer dafür, Krieg als historischen Gegenstand nicht länger aus dem Klassenzimmer zu verbannen
GWU 76, 2025, H. 7/8, S. 420 – 432
Kriege sind eine Grundkonstante menschlichen Handelns und an keinem Tag der vergangenen Jahrhunderte tobte nicht irgendwo ein bewaffneter Konflikt. Umso erstaunlicher ist es, dass Kriege in ihrer Eigenlogik und Entgrenzung, als Erfahrungsraum von Millionen Menschen und als Grundlage nationaler Narrative im Geschichtsunterricht deutscher Schulen so eine geringe Rolle spielen. Dabei kann die Beschäftigung mit Kriegen in ihrer ‚Krieghaftigkeit‘ im Kontext historischen Lernens dazu beitragen, historische Phänomene wie z. B. den Nationalsozialismus besser kontextualisieren zu können. Gleichzeitig ragen die geschichtskulturellen Hinterlassenschaften von Kriegen – Denkmäler, Straßennamen, Mahnmale – in kaum einem Land so häufig in den öffentlichen Raum wie in Deutschland. Auch angesichts der kriegerischen Bedrohung durch Russland ist der Beitrag ein Plädoyer, den Gegenstand ‚Krieg‘ wieder ernster zu nehmen.
Bärbel Völkel
Vom ethnos zum demos
Geschichtsunterricht als ein Ort erfahrungsorientierter Begegnung
GWU 76, 2025, H. 7/8, S. 433 – 448
Im Geschichtsunterricht dominiert ein ethnozentrisches Narrativ mit einer subtil normativen Ausrichtung: Zusammen gehört, wer die gleiche Geschichte hat. Dabei ist die Nationalstaatsgeschichte schon immer durch Beziehungsgeschichten zwischen Minderheiten und der Mehrheitsgesellschaft geprägt. Im Geschichtsunterricht als einem Ort, der die plurale Gesellschaft spiegelt, kann einerseits über die Wirkungen eines solchen hegemonialen Narrativs aufgeklärt werden. Gleichzeitig ist es möglich, durch eine Perspektivenerweiterung die Beziehungsgeschichten im Nationalstaat zu thematisieren. Wie dies aussehen kann, wird im vorliegenden Beitrag am Beispiel von zwei Lehrplanthemen exemplarisch vorgestellt. Auf diese Weise wird deutlich, dass die Minderheiten mit ihren Zugleich-Geschichten genauso in die deutsche Geschichte gehören wie die Mehrheit der Gesellschaft.
Rudolf Jaworski
Gekreuzigte Völker in weiblicher Gestalt
Bildliche Darstellungen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts
GWU 76, 2025, H. 7/8, S. 449 – 460
Kreuze und Kreuzigungsszenen wurden wiederholt auch außerhalb ihres ursprünglich religiösen Bedeutungszusammenhangs zum Gegenstand bildlicher Darstellungen gemacht und haben dabei unter anderem auch politische Aufladungen erfahren. So dienten sie als häufig gewählte Symbole und Metaphern für politische Machtansprüche ebenso wie für politische Niederlagen. Die vorliegende Problemskizze möchte anhand ausgewählter populärer Bildmedien auf einen Aspekt solcher Umdeutungen und Instrumentalisierungen aus dem 19. Und zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufmerksam machen, der im zeitgenössischen Kontext zwar öffentlichkeitswirksam gewirkt hat, inzwischen aber in Vergessenheit geraten ist: Dabei geht es um die Visualisierung von Kreuzigungen ganzer Völker und Staaten in Gestalt weiblicher Kollektivfiguren.