Gedicht-Performance – Lyrik-Performanz?

Annäherungen an eine vertraute Unbekannte



A Lyrik

Die Zeiten, in denen Lyrik und Vortrag – Dichten und Singen nicht ohneeinander denkbar waren, scheinen einige Jahrhunderte in der Vergangenheit zu liegen. Lyrik und Lyra als anspruchsvoll-untrennbare Schwestern zu bedienen, das ist sicher der Maßstab der wenigsten Autor/-innen der letzten hundertfünfzig Jahre. Und den generischen Status von potentiell lyrischen Texten an ihrer Sangbarkeit hinreichend festmachen zu können, darauf lässt sich vermutlich kein/-e Gedichtforscher/-in mehr festlegen.

Die Produktion von Gedichten setzt auf ihre Schriftlichkeit. Bibliophile Ausgaben, von graphischen Kunstwerken unterstützt und auf einen Augen-Konsum hin konzipiert, machen Lyrikbände zum Objekt stiller Betrachtung und zum Liebhaber-Vitrinen-Stück.

Gedichtinterpretationen geraten in Feuilletons zu den letzten Bastionen klassischer Hermeneutik. Ein Text – ein/-e Leser/-in – eine Deutung. Die Aushandlung von Bedeutung endet mit dem Druck der Samstagsbeilage. Und wer lernen will, wie sachlich-schwungloses literaturwissenschaftliches Handwerk geht, trägt sich in philologischen Studiengängen in ein Lyrikseminar ein.

Während das Drama heute wie nie zuvor seinen Bezug zur Aufführung stark zu machen vermag; das Dramatisieren von Romanen, Körpern, Interviews und Debatten das ist, was die progressiven Bühnen füllt, sind bestimmte Lyrik-Lesungen schlecht besucht und stehen unter Auflockerungs-Zwang.

Das ist die eine Seite.



B Performance/-z

Auf der anderen Seite steht das, was in den letzten Jahren im Zuge eines ‚performative turn' nachhaltig auch ins theoretische Bewusstsein gedrungen ist, indem es axiomatisch für alle Bereiche menschlichen Handelns einfängt, was künstlerisch-laut seit Jahrzehnten dargestellt, aufgeführt wird: die Tatsache, dass Bedeutung nicht in der Zeitung steht, sondern von Akteur/-innen aus-gehandelt wird.

Welche Macht sprachliche Performanz hat, ist kein Geheimnis linguistischer Forschung mehr, sondern Prämisse kulturwissenschaftlicher Auseinandersetzungen und Zusammenkünfte verschiedenster Provenienz. Im Bewusstsein, dass Sprachhandlungen Identitäten, Kulturen, Gruppen und Körper zu dem machen, als das wir sie wahrnehmen, aber auch in der Annahme, dass Nichtsprachliches zum Äußerungs- und Setzungsakt werden kann, der lesbar und bedeutungstragend ist, treffen sich Theaterwissenschaft und Gender Studies, Sprachtheorie und Kulturanthropologie.



C Lyrik-Performanz/Gedicht-Performance

Verbindet man diese beiden Diagnosen, so möchte man meinen, man habe es mit unvereinbaren Gegenständen, Forschungsinteressen und Methoden zu tun. Einzeltext trifft Sprachhandeln. Bedeutungssetzung trifft Dekonstruktion. Bleistiftleser/-in trifft Performance-Künstler/-in.

Das ist nicht so.

Nicht nur, wenn man die bewusst zuspitzende Absicht der beiden Darstellungen mit der Realität abgleicht, sondern auch viel grundsätzlicher gibt es erstaunlicherweise Überschneidungspunkte, vielleicht sogar große Schnittmengen zwischen den Phänomenen ‚Lyrik' und ‚Performance'. Wenig erstaunlich ist es allerdings, dass die v.a. im 20. Jahrhundert mit der ‚modernen Lyrik' historisch gewachsene Kluft zwischen den beiden verhindert hat, systematisch über ihre Zusammenhänge nachzudenken. Zwar stehen unter dem Label ‚oral poetry' in jüngster Zeit die Bedingungen narrativer Performance zur Diskussion (vgl. Vogelsang 2011), außerhalb mediävistischer Grundsatzdebatten (vgl. die impulsgebende Diskussion von Müller 1996, Strohschneider 1997 und Mertens 1998) erreichen lyrische Texte als Aufführung und/oder Ritual dagegen nicht dieselbe wissenschaftliche Aufmerksamkeit. In der angelsächsischen Forschung (und zunehmend auch in der deutschen) rücken Slam-Poetry und Spoken Word in den Fokus systematisierender Darstellung (vgl. exemplarisch Novak 2011, Westermeyr 2004). Verbindungen zur Lyriktheorie spielen auch dort allerdings keine relevante Rolle. Für Lyrik-Theoretiker/-innen dagegen bleibt die Performance eine (immerhin mögliche, vgl. Zymner 2009) Repräsentationsform des Gedichts, die Performativität von Gedichten aber keine ihrer basalen Eigenschaften. (Vgl. symptomatisch das Handbuch Lyrik 2011, das verschiedene performative Einzelphänomene wie ‚Lyrik und Pop', ‚die Lyriklesung', vor allem aber auch Klings Forderungen zur Performanz beleuchtet, diesen partikularen Erscheinungen jedoch keine Grundfragen stellt. ‚Die Priorität der mündlichen Vermittlung' wird dort, S. 91, wie so häufig postuliert, bleibt aber für die Diskussion folgenlos.)

Das Ziel des geplanten Workshops ist es, das Phänomen ‚Lyrik-Performanz/Gedicht-Performance' strukturiert und systematisch in den Blick zu nehmen. Dabei geht es in erster Linie um eine Bestandsaufnahme theoretischer Positionen und methodischer Optionen. Es soll gelingen, Grund-Operationen und Charakteristika lyrischer Performanz auszumachen, die sich, so soll angenommen werden, in einzelnen Manifestationen der (nur) scheinbar unbekannten ‚Lyrik-Performanz/Gedicht-Performance' ausmachen lassen. Hierzu wird ein sammelnder Austausch angestrebt, der weniger daran interessiert ist, Einzelfälle chronologisch geordnet abzuhandeln, sondern vielmehr daran, konkrete Ideen zu einer konzeptionell-theoretischen Basis zu verbinden.



Zwei Grundprobleme als Fragestellung

Auf dem Weg dahin können zwei Prämissen zur Diskussion gestellt werden, von denen (in Anlehnung an die theaterwissenschaftlichen Arbeiten Erika Fischer-Lichtes) vorläufig angenommen werden soll, dass sie den Kern dessen treffen, was Gedicht-Performance/Lyrik-Performanz möglicherweise ausmacht. Das liegt daran, dass diese beiden seit John L. Austin (und sich von diesem mitunter weit entfernend) vieldiskutierte und alles andere als eindeutige Kern-Probleme sowohl der klassischen Lyrik- als auch der (philosophischen, linguistischen, theater- und kulturwissenschaftlichen) Performanz-Theorie sind. Beide erweisen sich als Knotenpunkte einschlägiger Forschungsdebatten, haben aber auf dem Gebiet der Lyrik so gut wie nie den Anschluss aneinander gesucht.

Die wissenschaftshistorische Heterogenität von Begriffsauffassungen, die auf dieselben beiden Komplexe zurückzuführen sind, soll Anreiz für eine profunde terminologische Arbeit sein, die im Zentrum der gemeinsamen Arbeit stehen wird. Hier sei vorab auf die kategoriale Differenz von Phänomenen wie ‚Performance-Art' gegenüber ‚ursprünglichen Performativa', zwischen ‚Performativität' (als Grundlage jeder ‚Performanz') und ‚Aufführung' sowie nicht zuletzt auf Debatten um die gegensätzlichen Implikationen von bestimmten Auffassungen der Auto- bzw. Selbstreferenz verwiesen. Ebenso wie der doppelte Arbeits-Terminus ‚Gedicht-Performance' bzw. ‚Lyrik-Performanz', der als Platzhalter auf das Systematisierungsdesiderat verweisen soll, sind es solche Fragen, die diskutiert und hinterfragt, begründet angenommen und verworfen werden sollen.



1. Die Selbstbezüglichkeit von ‚Gedicht-Performance' bzw. ‚Lyrik-Performanz'

Was ist dran an der alten und umstrittenen These, poetisches, vielleicht besonders lyrisches Sprechen, zeichne sich in erster Linie durch ein Verweisen auf sich selbst aus? In welchem Zusammenhang steht diese These zu derjenigen, dass alles Sprechen Handeln ist? Vollzieht ein Gedicht demnach den Verweis auf nichts als seine Bedingtheiten oder führt es im Gegenteil grundsätzliche Mechanismen sprachlichen Handelns vor, indem es tut, was es ist. In welchem Verhältnis steht die Identität der Sprechinstanz zu diesem Akt? Ist das Vortragen eines Gedichts ein klarer Fall von Selbstsetzung oder löst sich die Sprache durch die poetische Funktion von ihrem Subjekt? Macht der Sprecher den Reim oder der Reim den Sprecher?



2. Das wirklichkeitskonstituierende Potential von ‚Gedicht-Performance' bzw. ‚Lyrik-Performanz'

Kann Performance andererseits zeigen, wie Wirklichkeit durch (sprachliches) Handeln erst erzeugt wird? Kann sie neue Realität schaffen oder funktioniert umgekehrt Sinnsetzung immer schon wie Aufführung? Und wenn ein Gedicht auf sich selbst verweist, welchen Status hat dann die von ihm gestiftete Realität? Wie kommt es, dass Gedichte für unmittelbarsten Ausdruck einer bereits feststehenden Realität („ich liebe") gehalten werden können, wenn sie diese erst stiften? Und verändert sich diese Rezeptionshaltung, wenn ein Gedicht physisch manifest performed wird?

Die Beiträge der Tagung können diese beiden sich kreuzenden Blickwinkel zur Grundlage nehmen, um daran Antwort-Hypothesen für folgende Leitfrage zu finden:

Was kennzeichnet das Phänomen ‚Gedicht-Performance / Lyrik-Performanz'?

Mögliche Fragestellungen, die – ausschließlich in (gerne kritischer) Rückbindung an die vorgestellten Grundprobleme lyrischer Performanz – Eingang in die Diskussion finden sollen, kommen historisch, kulturell und systematisch gesehen aus unterschiedlichsten Bereichen. Hier können zum Schluss andeutungsweise einige Bezugspunkte aufgeführt werden. Das Herstellen weiterer Bezüge ist Ausgangspunkt des Workshops und die Grundlage für ein mögliches gemeinsames Konzept, das zu erarbeiten Ziel der Veranstaltung sein wird.



I Historische Blickwinkel (zu ergänzen um Gegenstände verschiedener Philologien)

Antikes Sprechhandeln, Enthusiasmus-Konzepte als Grundlage lyrischer Identitätsstiftungs-Konzepte? // Mittelalterliche Lyrik als Paradebeispiel lyrischer Performativität? // Meistersang vs. Poetry Slam, Publikums-Bewertung und lyrisches Handeln // Die Genie-Ästhetik als Tod lyrischer Identitätsvielfalt // Avantgarde und Performance: Dada // Lyrik nach dem NS, wer darf noch laut sprechen und warum?



II Systematische Perspektiven (zu ergänzen um Gegenstände kulturwissenschaftlicher Nachbardisziplinen)

Kollektive lyrische Identitätsstiftung, wie geht das? – Nationalhymnen. // Identitäts-Performance im Slam-Beitrag – Die letzte Bastion der Authentizitätsfiktion? // Rap und Lyrik, was von der Sangbarkeit bleibt // Welches Geschlecht hat das Lyrische Ich? // Bühne und Gedicht – wessen Regeln sind dominant? // Performance-Art und Ich-Konzept // Autor/-innen-Lesungen als Sprechhandlung // Ritualisierte Lyrik heute? // Sprecher und Stimme als literaturwissenschaftliche Basismetaphern



E Organisatorisches

Der Aufruf richtet sich an alle Wissenschaftler/-innen, die mit theoretisch-konzeptionellem Blick zu Lyrik oder performativen Kunstgattungen arbeiten oder einen Lyrik- bzw. Performanz-theoretischen Zugang zu anderen kulturwissenschaftlich relevanten Gegenständen verfolgen. Insbesondere promovierende Wissenschaftler/-innen sind angehalten, einen (Teil-)Bereich ihrer Arbeit oder einen eigenen Nebenschwerpunkt mit Blick auf die angedeutete Fragestellung vorzustellen. Die Präsentationen sollen ca. 30 min dauern.

Ein wichtiger Teil der Veranstaltung soll der Diskussion des Präsentierten und der Ableitung von Thesen zu Grundcharakteristika des Phänomens vorbehalten sein. Deshalb sollen im Anschluss an die Vorträge offene Diskussionsrunden die einzelnen Beiträge zusammenführen. Falls Sie sich in diesem Zusammenhang eine Mitarbeit in Form von Moderations- oder Diskussionsbeiträgen vorstellen können, vermerken Sie dies gerne in Ihren Unterlagen.

Interessierte aller Fachrichtungen sind herzlich eingeladen, ein Abstract mit Hinweisen auf vertiefende Diskussionsansätze im Umfang von ca. 300-500 Wörtern einzureichen. Die Teilnahme ist kostenlos. Fahrt- und Übernachtungskosten können leider nicht übernommen werden. Weitere Informationen zum Programm, zum Tagungsort etc. sowie alle weiteren relevanten Daten werden Anfang Februar bekanntgegeben. Eine Publikation der Ergebnisse wird angestrebt.