Projekt: Geschlechtsspezifische Körper- und Bewegungssozialisation in der frühen Kindheit


Forschungsverbund Frühkindliche Bildung und Entwicklung Niedersachsen gefördert durch das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur



Projektleitung: Prof. Dr. Ina Hunger; Prof. Dr. Renate Zimmer (Phase 1)

Mitarbeiter/innen:
Maika Bepperling, Nadine-Christin Hohmann, Steffen Loick

Studentische Hilfskräfte:
Victoria Claes
Susanne Prehn

Förderphasen:
1. Förderphase: Oktober 2008 - September 2011
2. Förderphase: Oktober 2011 - September 2013

Hunger, I. (2011). Empirische Annäherung an die frühkindliche Bewegungswelt unter dem Aspekt „Gender“. T. Bindel (Hrsg.), Feldforschung und ethnographische Zugänge in der Sportpädagogik. Forum Sportpädagogik. Band 2. (S. 89-103). Aachen: Shaker.



kind


Ausgangspunkt: Die geschlechtsspezifische Sozialisation hat im Kindergartenalter besondere Bedeutung. Einerseits nehmen die auf das Geschlecht bezogenen Erwartungen, Rückmeldungen, Verhaltensinterpretationen etc. der Umwelt zu, da das Kind nun verstärkt an sozialen Praktiken teilnimmt. Gleichzeitig nimmt das Kind seine Umwelt (auch) unter geschlechtsspezifischen Aspekten wahr und interpretiert sie entsprechend. Dem Bereich Körper und Bewegung kommt in diesem Zusammenhang eine hohe Bedeutung zu. Zum einen bietet ‚die’ Umwelt Jungen und Mädchen unterschiedliche körperliche Identifikations- und geschlechtliche Inszenierungsmöglichkeiten an und reagiert auf das Bewegungsverhalten von Jungen und Mädchen potenziell unterschiedlich. Zum anderen werden gerade in dieser Alterstufe Bewegungserfahrungen als äußerst nachhaltig für die Entwicklung des Selbstkonzepts interpretiert.

Untersuchungsziel: Ziel dieser Studie ist es zu rekonstruieren, welche geschlechtsbezoge-nen Vorstellungen vier- bis sechsjährige Mädchen und Jungen in Hinblick auf Körper und Bewegung entwickelt haben und inwiefern verinnerlichte Vorstellungen von ‚männlich und weiblich sein’ im Kontext von Bewegungsaktivitäten bereits orientierungswirksame Funktio-nen haben. Darüber hinaus soll das Problembewusstsein von Eltern und Erzieher/innen in Bezug auf die frühkindliche geschlechtsspezifische Körper- und Bewegungssozialisation ex-ploriert werden. Im Einzelnen wird hier untersucht, mit welchen (geschlechtsbezogenen) Vorstellungen Eltern und Erzieher/innen die Jungen und Mädchen im Bereich Körper und Bewegung (bewusst oder unbewusst) erziehen und sozialisieren.

Untersuchungsdesign: Die Untersuchung ist qualitativ angelegt. Sie orientiert sich im enge-ren Sinne an der Grounded Theory und ist in verschiedene Teilstudien konzipiert. Der erzie-herischen Perspektive nähern wir uns über Leitfaden-Interviews an; die kindliche Perspektive versuchen wir über Impuls-Interviews zu rekonstruieren. Die Analyse des kindlichen Bewe-gungsverhaltens erfolgt auf der Basis videographischer und teilnehmender Beobachtung. Die Befunde der einzelnen Teilstudien werden sukzessive aufeinander bezogen, um diese auch kontextuell zu deuten.

Erste Ergebnisse (Förderphase 1): Bei dem derzeitigen Stand der Untersuchung kann grob festgehalten werden, dass die frühkindliche Bewegungssozialisation von Jungen und Mädchen klar zweigeschlechtlich vorstrukturiert wird: Auch wenn individuumsbezogene Sichtweisen und Handlungsstrategien bezogen auf die Kinder bei Eltern und Erzieher/innen stets vorhanden sind, werden vom erzieherischen Umfeld über die Orientierung an der Kate-gorie Geschlecht den Kindern bereits früh (nach Erreichen einer motorischen Grundsicher-heit) ausgewählte Bewegungsbedürfnisse, -motive und -aktivitäten (vielfach) unterstellt bzw. nahegelegt. Der Praxis der Differenzierung der Geschlechter, in der die alten Geschlechter-positionen bewahrt sind, steht allerdings bei vielen Eltern und Erzieher/innen eine Semantik der Gleichheit und Individualität gegenüber.
Bei Jungen scheint das Bild des actionbereiten und wettbewerbsorientierten Kindes präsent und wird vom erzieherischen Umfeld durch entsprechende Bewegungsangebote unterstützt. Ferner werden durch einschlägiges Spielzeug, vor allem aber durch eine allgegenwärtige körpernahe Symbolik (Spiderman, wilde Kerle, Piraten) auf Accessoires und Kleidung, klare Identitätsangebote gemacht. Diese stecken den Erwartungshorizont für ‚Junge sein’ im Kon-text des Bewegungsverhaltens einschlägig abs. In bildungsfernen Familien scheint dieses männliche Identitätsangebot noch ausgeprägter zu sein.
Im Alter von ca. vier Jahren zeigen sich die einschlägigen Sozialisationseffekte auf der Ver-haltensebene und die verinnerlichten Erwartungen an das Geschlecht vielfach deutlich: Jun-gen bezeichnen sich selbst – entsprechend ihres verinnerlichten Geschlechterselbstver-ständnisses – tendenziell als stark, mutig und schnell; zumindest in eigener Abgrenzung zum anderen Geschlecht. Viele Jungen erproben sich ferner in der angebotenen ‚Geschlechter-rolle’ auf der Ebene des körperlichen Vergleichs oder auch der Dominanz, des Rumrasens und Lautseins. Da dieses Bewegungsverhalten der Umwelt oftmals als ‚typisch für Jungen’ erscheint, gerät das erzieherische Umfeld wiederum schnell in Versuchung, dieses auch als natürlich, „als angeboren“ zu interpretieren und die Jungen durch entsprechende Angebote weiter in dieser Verhaltensspur zu unterstützen.
Mädchen steht dagegen, so kann grob zusammengefasst werden, zwar prinzipiell alles offen; Wild sein, Power haben, Mutig sein – an all das werden die Mädchen nicht gehindert. Allerdings werden diese Bewegungsmuster jedoch vergleichsweise selten aktiv gefördert oder durch eine entsprechende Symbolik aufgerufen. Stattdessen muss konstatiert werden, dass Mädchen im Familienalltag vornehmlich im Rahmen von kooperativen und kreativen Bewegungsmustern gezielt gefördert werden. Mit zunehmenden Kindergartenalter lernen die Mädchen durch einschlägige Rückmeldungen zudem, dass sie – im Vergleich zu den Jungen – ihre Bewegungsbedürfnisse unterdrücken können. Sie wissen zwar, dass sie kämpfen und wild sein dürfen; sie wissen aber auch, dass diese Bewegungsmuster eigentlich für Jungen und nicht für Mädchen typisch sind. Im Sinne eines Aufbaus einer sozialen geschlechtlichen Identität und nicht zuletzt in Abgrenzung von Jungen verzichten also Mädchen vielfach da-rauf, die potenzielle Bandbreite ihres Bewegungskönnens bzw. ihrer Bewegungsbedürfnisse zu zeigen: Ein Mädchen formuliert es wie folgt: „Und Mädchen ja auch eigentlich alles kön-nen, was Jungen machen. Aber sie wollen das nicht zeigen, weil sie Mädchen sind!“

Forschungsausblick: Nach der Herausarbeitung der Übereinstimmungen in den Mustern der Bewegungssozialisation soll in der zweiten Forschungsphase der Fokus auf die Kinder und Familien gelegt werden, die vom als ‚typisch’ Erachteten abweichen. Darüber hinaus werden die Analyseprozesse schwerpunktmäßig im Hinblick auf das Alter der Kinder vollzo-gen. Schließlich sollen Arbeitsmaterialien erstellt werden, um die erzieherische Gendersen-sibilität im Bereich Bewegung zu erhöhen.


Geschlechtsspezifische Körper- und Bewegungssozialisation in der frühen Kindheit