Fürsorge in Krisenzeiten als kulturellen Anspruch etablieren

Die Tagung wurde eröffnet mit einem Grußwort von Sarah Wenz, Leiterin der Geschäftsstelle Chancengleichheit am Karlsruher Institut für Technologie und Sprecherin im Vorstand „Familie in der Hochschule e.V.: „Angesichts der gegenwärtigen Vielfachkrise – der Verkettung von Ökonomie, Ökologie, Sozialem und Politik – kann die fürsorgende Hochschule Vorbild sein. ‚Care‘ im reinsten Wortsinne zu praktizieren – sich zu interessieren, mit anderen in Beziehung zu treten – bedeutet, einen Wandel hin zu mehr gesellschaftlicher Verbundenheit anzustoßen. Indem Hochschulen intern eine fürsorgende Kultur etablieren, können sie maßgeblich zur Lösung der Multiplen Krise beitragen.“ Der Moderator der Veranstaltung, Prof. Dr. Frank Ziegele, Geschäftsführer des CHE Centrum für Hochschulentwicklung, übergab danach das Wort an den Präsidenten der Universität Göttingen, Prof. Dr. Metin Tolan. In seinem Grußwort betonte Tolan, dass Vereinbarkeit in der Universität als Querschnittsaufgabe etabliert und schon seit langem als Leitungsaufgabe im Präsidium verankert sei: „Für Eltern hält die Universität Göttingen bereits viele Angebote bereit, für Studierende und Beschäftigte, die Angehörige pflegen, müssen wir aber noch mehr tun. Je mehr wir uns darauf einstellen, die unterschiedlichen Lebensumstände unserer Beschäftigten und Studierenden mitzudenken und gute Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Studium, Beruf, Familie und Privatleben zu schaffen, desto attraktiver wird die Universität wahrgenommen.“
Für Prof. Dr. Wolfgang Brück, Vorstand Forschung und Lehre, Sprecher des Vorstands der Universitätsmedizin Göttingen, Dekan der Medizinischen Fakultät und mit Herrn Prof. Tolan Gastgeber der Tagung, sieht das Thema der Tagung für die Universitätsmedizin Göttingen von besonderem Interesse, da sie als Maximalversorgerin den Beschäftigten in Lehre, Forschung und Krankenversorgung gute Arbeitsbedingungen und den Studierenden gute Studienbedingungen bieten muss. Dies bedeutet vor allem, so Brück, „dass wir das Ermöglichen einer guten Vereinbarkeit von Studium/Beruf und Familie im Rahmen unserer Strategie fortwährend mitdenken müssen. Mit dem audit berufundfamilie setzen wir seit bald 10 Jahren ein sichtbares Zeichen einer Haltung für Vereinbarkeit und Familienfreundlichkeit und werden auch zukünftig, im Sinne unserer Mitarbeitenden, dafür Sorge tragen“.
Von Seiten der Bundesregierung nahm Herr Dr. Thomas Metker, stellvertretender Leiter der Abteilung Familie und Digitales des BMFSFJ, an der Tagung teil. In seinem Grußwort betonte Herr Dr. Metker die Vorbildfunktion der Hochschulen: „Familienbewusste Studien- und Arbeitsbedingungen an den Hochschulen senden die klare Botschaft, dass eine fürsorgende Hochschulkultur hohe Priorität hat. Vereinbarkeit für Studierende und Beschäftigte kann nur gelingen, wenn auch die Hochschulen ihrer Verantwortung gerecht werden und Familienfreundlichkeit systematisch umsetzen und zu einem selbstverständlichen Bestandteil ihrer Kultur machen.“

„Hochschulen im Wandel: Care-Kultur als Schlüssel zur Zukunft“

Die Keynote hielt Prof. Dr. Isabell Welpe Lehrstuhl für Strategie und Organisation, TUM School of Management von der Technischen Universität München. Sie griff in ihrem Vortrag „Hochschulen im Wandel: Care-Kultur als Schlüssel zur Zukunft“ das Tagungsthema auf und veranschaulichte eindrücklich, was eine fürsorgende Institution ausmacht und warum es sich lohnt, in eine fürsorgende Kultur zu investieren. So beleuchtete Welpe „wie die Etablierung einer umfassenden Care-Kultur an Hochschulen nicht nur eine Antwort auf die Herausforderungen der Diversität und Inklusion bietet, sondern auch wesentlich dazu beiträgt, Bildungsbarrieren abzubauen und eine integrative akademische Gemeinschaft zu fördern. Diese Kultur des Sorgens und der Unterstützung stärkt die Resilienz und das Wohlbefinden aller Hochschulmitglieder, ermöglicht gleichzeitig innovative Lehr- und Forschungsansätze." Der Keynote-Vortrag wurde im anschließenden Austauschforum diskutiert.

Studien belegen die Notwendigkeit praxisnaher Orientierung

Das Tagungsmotto wurde nach der Mittagspause in vier parallelen Vorträgen anhand unterschiedlicher Bereiche weiter vertieft. Von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes stellte Rainer Stocker, Referent im Referat „Forschung und Grundsatzangelegenheiten“ die Studie „Diskriminierungserfahrungen von fürsorgenden Erwerbstätigen im Kontext von Schwangerschaft, Elternzeit und Pflege von Angehörigen“ vor, die von der Antidiskriminierungsstelle beauftragt wurde. Er präsentierte Studienergebnisse und Handlungsempfehlungen, wie Eltern und pflegende Angehörige vor Diskriminierung im Berufsleben besser geschützt werden könnten. Diskriminierungen von Eltern und Pflegepersonen im Arbeitsleben sind weit verbreitet, so Stocker. Frauen sind davon stärker betroffen als Männer. Seit der Verabschiedung des Vereinbarkeitsrichtlinienumsetzungsgesetzes im Jahr 2022 können sich nun auch Fürsorgeleistende, die sich bei der Inanspruchnahme ihrer Rechte (z. B. Elternzeit oder Pflegezeit) diskriminiert sehen, an die Beratung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes wenden. Es gibt aber weiterhin Lücken im Diskriminierungsschutz für fürsorgende Erwerbstätige.
Der Vortrag von Prof. Dr. Inken Lind (TH Köln) befasste sich mit den Ergebnissen einer großen Untersuchung zur Vereinbarkeit von Wissenschaft und Studium mit Pflegeverantwortung an der Universität Göttingen. Die Befragungen zeigen, dass bereits 16 % der Wissenschaftler*innen und 6 % der Studierenden Pflegeverantwortung tragen und sehr viel mehr Personen dies in Zukunft erwarten. Die Personen mit Pflegeverantwortung geben mehrheitlich an, ihre Vereinbarkeitsherausforderungen mit überlangen Arbeitstagen oder Unterstützung aus ihrem privaten Umfeld zu bewältigen, von der Universität fühlen sie sich wenig unterstützt. Die Befunde der Studie liefern eine gute Grundlage für die Entwicklung und Implementierung von Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Studium/Wissenschaft und Pflege und unterstreichen den Handlungsbedarf seitens der Hochschulen und der Politik.
Dr. Hanna Haag vom – Gender- und Frauenforschungszentrum der hessischen Hochschulen, gFFZ, Frankfurt University of Applied Sciences beleuchtete in ihrem Vortrag über „Vulnerabilität im Hochschulalltag“ ihre Forschungsergebnisse zu Verletzlichkeit(en) und welche Auswirkungen dies auf die Leistungsfähigkeit von Personen hat die Fürsorge übernehmen oder selbst Fürsorge in Anspruch nehmen müssen. Ihr letztes Forschungsprojekt untersucht die Auswirkungen der Pandemie auf vulnerable Gruppen im Hochschulbereich. Ihr Appell: Hochschulen sollten die durch die Pandemie sichtbarer gewordenen Vulnerabilitäten als Chance begreifen, um Verantwortung zu übernehmen und Fürsorge als Grundprinzip des Menschen anerkennen.
Als einziges Best-Practice Beispiel für Karriere- und Nachwuchsförderung von Frauen in der Hochschulmedizin stellten Prof. Dr. Frauke Alves, Ärztin der Inneren Medizin und wissenschaftliche Gruppenleiterin „Translationale Molekulare Bildgebung“ an der Klinik für Hämatologie und Medizinische Onkologie und Institut für Diagnostische und Interventionelle Radiologie der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) sowie am Max-Planck-Institut für Multidisziplinäre Wissenschaften (MPI-NAT), Anja Lipschik, hauptamtliche Gleichstellungsbeauftragte der UMG und Laura Kajetzke, Referentin für Karriereförderung von Wissenschaftler*innen, das Wirken des Frauennetzwerkes für Führung und Forschung in der Medizin e.V. (medf3) vor. Im Vortrag wurde deutlich, wie ein aktives Netzwerk seine Mitglieder in der Lebens- und Karriereplanung unterstützen kann – auch eine Form der Fürsorge der Älteren gegenüber den Jüngeren.

Kompetenz für Familie im Hochschul- und Wissenschaftsbereich

Der Verein Familie in der Hochschule e.V. ist das größte Netzwerk im deutschsprachigen Raum zum Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie an Hochschulen, wissenschaftlichen und wissenschaftsnahen Einrichtungen. Insgesamt verzeichnet das Netzwerk 149 Mitgliedsinstitutionen. 15 Institutionen sind seit der letzten Jahrestagung in München dem Netzwerk beigetreten und haben die Charta „Familie in der Hochschule“ unterschrieben. Mit dem Beitritt verpflichten sie sich zu den in der Charta festgeschriebenen Zielen und Qualitätsstandards für eine familiengerechte Hochschule.
Mit der Übergabe des Schlüssels an die Kolleg*innen aus Heidelberg, Ausrichter*innen der nächsten Jahrestagung, endete eine erfolgreiche Veranstaltung in den Räumen der Alten Mensa. Zum Abschluss des Tages fand am Abend eine Lesung im Alten Rathaus mit der Journalistin Teresa Bücker statt, die aus ihrem Buch „ALLE_ZEIT. Eine Frage von Macht und Freiheit“ las.

Kooperative Partnerschaft

Bei der Durchführung der Jahrestagung handelte sich um eine Kooperationsveranstaltung zwischen der UMG, der Universität Göttingen und der Familie in der Hochschule e.V. Die Veranstaltung wurde vom FamilienService der Stabsstelle Chancengleichheit und Diversität der Universität Göttingen und dem Gleichstellungsbüro der UMG ausgerichtet. Das CHE Centrum für Hochschulentwicklung übernahm das Anmeldemanagement. Der Verein „Familie in der Hochschule“ ist aus einem vom Centrum für Hochschulentwicklung (CHE), acht Hochschulen und der Robert-Bosch-Stiftung geförderten Projekt hervorgegangen, welches das Ziel verfolgt, die Hochschulen familienfreundlicher zu gestalten. Durch die Unterzeichnung der Charta gehen alle Mitglieder die Selbstverpflichtung ein, anspruchsvolle Standards der Familienorientierung zu verfolgen und umzusetzen. Sie definieren die Vereinbarkeit von Studium, Beruf und Wissenschaft mit Familienaufgaben als prägendes Profilelement ihrer Hochschule oder Organisation.
Die Universität Göttingen ist seit 2014 und die Universitätsmedizin Göttingen seit 2015 Mitglied im Familie in der Hochschule e.V.
Weitere Informationen finden Sie unter: https://www.familie-in-der-hochschule.de